Zwei Kinder kamen aus der Küche und starrten ihn an. Drei Männer in Arbeitsanzügen verließen das Schlafzimmer und stellten eine Fernsehkamera auf ihn ein. In der Ecke stand ein großer Fernsehempfänger. Während er das Essen hinunterschlang, beobachtete Raeder das Bild Mike Terrys und lauschte der ernsten, besorgt klingenden Stimme.
»Hier ist er, verehrte Zuschauer«, erklärte Terry. »Hier ist Jim Raeder, seit zwei Tagen bei seiner ersten richtigen Mahlzeit. Unsere Kameraleute haben sich wirklich angestrengt, um Ihnen das zu zeigen! Danke, Jungs. Liebe Zuschauer, Jim Raeder hat vorübergehend bei Mrs. Velma O'Dell, 63. Straße 343, eine Zuflucht gefunden. Vielen Dank, Gute Samariterin O'Dell! Es ist wirklich großartig, wie Menschen aus allen Kreisen Jim Raeder ins Herz geschlossen haben!«
»Sie sollten sich beeilen«, sagte Mrs. O'Dell.
»Ja, Mrs. O'Dell«, erwiderte Raeder.
»Ich will in meiner Wohnung keine Schießerei.«
»Ich bin gleich fertig, Mrs. O'Dell.«
Eines der Kinder fragte: »Bringen sie ihn denn nicht um?«
»Halt den Mund«, sagte Mrs. O'Dell.
»Jawohl, Jim«, leierte Mike Terry, »Sie beeilen sich besser. Ihre Verfolger sind nicht weit zurück. Sie sind keine Dummköpfe, Jim. Bösartig, anomal, verrückt - ja! Aber nicht dumm. Sie folgen einer Spur von Blut - Blut aus Ihrer verletzten Hand, Jim!«
Raeder hatte bis jetzt nicht bemerkt, daß er sich beim Durchkriechen des eingeschlagenen Fensters eine Schnittwunde zugezogen hatte.
»Kommen Sie her, ich verbinde Sie«, sagte Mrs. O'Dell. Raeder stand auf und ließ sich verbinden. Dann gab ihm Mrs. O'Dell ein braunes Jackett und einen grauen, breitkrempigen Hut.
»Das sind Sachen von meinem Mann«, erklärte sie.
»Er hat eine Tarnung, verehrte Zuschauer!« rief Mike Terry entzückt. »Das ist etwas ganz Neues! Eine Verkleidung! Und noch sieben Stunden, bis Jim Raeder in Sicherheit ist!«
»Nun verschwinden Sie«, sagte Mrs. O'Dell.
»Ich gehe schon«, erwiderte Raeder. »Vielen Dank auch.« »Für mich sind Sie nicht bei Trost«, meinte sie. »Nur ein Verrückter kann sich auf so etwas einlassen.«
»Ja, Mrs. O'Dell.«
»Die Sache ist doch diesen Einsatz nicht wert.«
Raeder bedankte sich und verließ das Haus. Er ging zum Broadway, fuhr mit der Untergrundbahn zur 59. Straße, stieg in einen Pendlerzug zur 86. Straße um. Dort kaufte er eine Zeitung und stieg in die Manhasset-Schnellverkehrsbahn ein.
Er warf einen Blick auf die Uhr. Noch sechseinhalb Stunden.
Die U-Bahn raste unter Manhattan dahin. Raeder döste vor sich hin, die bandagierte Hand unter der Zeitung verborgen, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Hatte ihn schon jemand erkannt? War es ihm gelungen, die Thompsonbande abzuschütteln? Oder rief in diesem Augenblick bereits jemand die Gangster an?
Schläfrig fragte er sich, ob er dem Tod entronnen war. Oder war er immer noch eine kunstvoll belebte Leiche, die nur dank, der Nachlässigkeit des Todes noch herumlief?
Raeder riß die Augen auf. Er hatte etwas Unangenehmes, geträumt. Was es gewesen war, wußte er nicht mehr.
Er schloß die Augen wieder und entsann sich mit leichter Überraschung einer Zeit, in der es keine Schwierigkeiten für ihn gegeben hatte.
Das war vor zwei Jahren gewesen. Er hatte als Lastwagenbeifahrer gearbeitet, ein großer, freundlicher, junger Mann. Er verfügte über keine Talente. Er war zu bescheiden, um sich Träume zu leisten.
Der kleine Lastzugchauffeur mit dem schmalen Gesicht träumte für ihn. »Warum versuchst du es nicht bei einer Fernsehschau, Jim?« hatte er gesagt. »Wenn ich dein Aussehen hätte, würde ich es selber probieren. Man will doch nette, durchschnittliche Leute, die nicht allzuviel auf dem Kasten haben, als Bewerber.
Für solche Burschen hat jeder etwas übrig. Warum erkundigst du dich nicht einmal?«
Er hatte sich also erkundigt. Der Besitzer des TV-Empfänger-Geschäfts im Ort klärte ihn weiter auf.
»Schau, Jim, das Publikum hat die hochtrainierten Athleten mit ihren Trickreflexen und ihrem professionellen Mut satt. Wer kann für solche Kerle Mitgefühl aufbringen? Wer identifiziert sich damit? Die Leute wollen aufregende Dinge sehen, gewiß, aber nicht, wenn irgendein Bursche für fünfzigtausend pro Jahr ein Geschäft daraus macht. Deswegen interessiert sich niemand mehr für die Massensportarten. Deswegen sind die Sensationssendungen so beliebt.«
»Aha«, sagte Raeder.
»Vor sechs Jahren hat der Kongreß das Gesetz über den freiwilligen Selbstmord erlassen. Die alten Senatoren faselten allerhand Zeug vom freien Willen und von der Selbstbestimmung. Aber das ist alles Käse. Weißt du, was dieses Gesetz wirklich bedeutet? Es läuft darauf hinaus, daß Amateure ihr Leben fürs große Geld riskieren dürfen, nicht bloß Professionelle. Früher mußte man Berufsboxer, -fußballer oder -hockeyspieler sein, wenn man das Recht haben wollte, sich für Geld den Schädel einschlagen zu lassen. Aber jetzt steht normalen Menschen, wie du einer bist, Jim, dieser Weg auch offen.«
»Aha«, sagte Raeder wieder.
»Das ist doch eine wunderbare Gelegenheit. Nehmen wir zum Beispiel gleich dich. Du bist nicht besser als die anderen, Jim. Was du kannst, können alle anderen auch. Du bist Durchschnitt. Ich glaube, daß man dich bei den Sensationsreihen brauchen könnte.«
Raeder erlaubte sich, zu träumen. Die Teilnahme an Fernsehsendungen solcher Art schien für einen netten jungen Mann ohne besondere Begabung oder Ausbildung der sichere Weg zum Reichtum. Er schrieb einen Brief an eine Sendung mit dem Namen >Risiko< und fügte eine Photographie bei.
>Risiko< war an ihm interessiert. Die Sendegesellschaft JBC überprüfte ihn und stellte fest, daß er von einer Durchschnitt-lichkeit war, die selbst den mißtrauischsten Zuschauer befriedigen mußte. Man spürte seiner Ahnenreihe nach, prüfte seine Verwandtschaft. Schließlich wurde er nach New York bestellt und von Mr. Moulian ausgequetscht.
Moulian war ein dunkelhaariger, energischer Mann, der ständig Kaugummi kaute. »Sie sind brauchbar«, knurrte er. »Aber nicht für >Risiko<. Sie treten in >Bahn frei< auf. Das ist eine Halbstundensendung bei Tag auf Kanal drei.«
»Mensch!« sagte Raeder.
»Sie brauchen sich nicht zu bedanken. Wenn Sie gewinnen oder Zweiter werden, gibt es tausend Dollar, auf allen anderen Plätzen einen Trostpreis von hundert Dollar. Aber das ist unwichtig.«
»Ja, Sir.«
»>Bahn frei< ist eine kleine Sendung. JBC verwendet sie als Testserie. Sieger und Zweite bei >Bahn frei< kommen weiter zu >Ernstfall<. Dort sind die Preise sehr viel höher.«
»Ich weiß, Sir.«
»Und wenn Sie sich in >Ernstfall< gut schlagen, geht es in die erstklassigen Sensationssendungen, wie >Risiko< und >Gefahren unter Wasser<, die im ganzen Land ausgestrahlt werden und phantastische Preise bieten. Schließlich kommt das ganz große Geschäft. Wie weit Sie kommen, hängt von Ihnen ab.«
»Ich werde mein Bestes tun, Sir«, sagte Raeder.
Moulian hörte einen Augenblick auf zu kauen und sagte beinahe ehrfurchtsvolclass="underline" »Sie können es schaffen, Jim. Denken Sie immer daran: Sie sind das Volk, und das Volk kann alles.«
Die Art, wie er das sagte, brachte Raeder dazu, Mitleid für Mr. Moulian zu empfinden, der schwarzes Haar, einen dunklen Teint und hervortretende Augen hatte und offensichtlich nicht das Volk war.
Sie schüttelten sich die Hände. Dann unterschrieb Raeder ein Schriftstück, in dem er JBC von jeder Verantwortung entband, falls er während des Wettbewerbs sein Leben, seine Glieder oder den Verstand verlieren sollte. Und er unterschrieb ein Dokument, worin er seine Rechte aufgrund des Gesetzes über den freiwilligen Selbstmord geltend machte. Die Vorschriften verlangten das; es handelte sich um eine bloße Formalität.