Ein schwerer Lastwagen näherte sich. Jim ging weiter, den Hut tief in die Stirn gezogen. Aber als das Fahrzeug herankam, hörte er eine Stimme aus dem Fernsehempfänger in seiner Tasche rufen: »Vorsicht!«
Er sprang in den Graben. Der Lastwagen schleuderte vorbei, Raeder nur knapp verfehlend, und hielt mit kreischenden Bremsen. Der Fahrer schrie: »Da ist er! Schieß, Harry, drück doch endlich ab!«
Kugeln fegten das Laub von den Bäumen, als Raeder in den Wald raste.
»Wieder ist es passiert!« erklärte Mike Terry aufgeregt seinen Zuschauern. »Ich fürchte, daß sich Jim Raeder in ein irriges Gefühl der Sicherheit verrannt hat. Das geht nicht, Jim! Nicht, wenn Ihr Leben auf dem Spiel steht! Nicht, solange Mörder Sie verfolgen! Nehmen Sie sich in acht, Jim, Sie müssen noch viereinhalb Stunden durchstehen!«
Der Lastwagenfahrer sagte: »Claude, Harry, schneidet ihm den Weg mit dem Wagen ab. Er sitzt in der Falle.«
»Sie sitzen in der Falle, Jim Raeder!« schrie Mike Terry. »Aber man hat Sie noch nicht! Und Sie können der Guten Samariterin Susy Peters, South Orange, New Jersey, Elmstreet zwölf, für den Warnruf vorhin, als der Lkw herankam, danken. Wir bringen die kleine Susy in wenigen Augenblicken vor die Kamera... Sie sehen, verehrte Zuschauer, unser Hubschrauber ist am Schauplatz angelangt. Jetzt können Sie Jim Raeder auf der Flucht beobachten, während ihm die Mörder den Weg abschneiden, ihn einkreisen.«
Raeder rannte durch den Wald und erreichte eine Betonstraße; auch auf der gegenüberliegenden Seite gab es stark gelichteten Wald. Einer der Gangster kam von hinten heran. Der Lastwagen hatte eine Nebenstraße befahren und war jetzt eineinhalb Kilometer entfernt, brauste aber auf Raeder zu.
Von der anderen Seite her näherte sich ein Personenwagen. Raeder rannte auf die Straße hinaus und winkte verzweifelt. Das Auto hielt.
»Schnell!« schrie die blonde, junge Frau am Steuer.
Raeder hechtete in den Wagen. Die Frau wendete das Fahrzeug. Eine Kugel durchschlug die Windschutzscheibe. Sie trat auf den Gashebel, fuhr beinahe den Gangster über den Haufen, der im Weg stand.
Bevor der Lastwagen in Schußweite war, raste die Limousine davon.
Raeder lehnte sich zurück und schloß die Augen. Die junge Frau konzentrierte sich auf die Lenkung des Wagens.
»Es hat wieder geklappt!« rief Mike Terry mit ekstatischer Stimme. »Jim Raeder ist wieder den Kiefern des Todes entrissen worden, dank der Hilfe unserer Guten Samariterin Janice Morrow, New York City, Lexington Avenue 433. Haben Sie so etwas schon erlebt, meine Damen und Herren? Wie Miss Morrow durch den Kugelregen raste und Jim Raeder vor dem Untergang rettete! Wir werden uns später mit Miss Morrow unterhalten und uns ihre Erlebnisse mit ihren eigenen Worten schildern lassen. Inzwischen, während Jim Raeder vielleicht der Sicherheit, vielleicht neuen Gefahren entgegenrast, hören Sie eine Mitteilung unseres Sponsors. Bleiben Sie an Ihrem Gerät! Jim muß noch vier Stunden und zehn Minuten überstehen, bevor er in Sicherheit ist. Noch ist alles möglich!«
»Okay«, sagte das Mädchen. »Die Übertragung ist vorübergehend unterbrochen. Raeder, was zum Teufel ist mit Ihnen los?«
»Wie?« fragte Jim. Das Mädchen war Anfang Zwanzig. Es sah tüchtig, anziehend, unberührbar aus. Raeder stellte fest, daß es ein gutgeschnittenes Gesicht und eine schöne Figur hatte. Und er bemerkte, daß die junge Dame wütend war.
»Miss«, sagte er, »ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll -«
»Lassen Sie das Gerede«, erwiderte Janice Morrow. »Ich bin keine Gute Samariterin. Ich arbeite für die Sendegesellschaft JBC.«
»Die Sendeleitung hat mich also retten lassen!«
»Sehr klug gefolgert«, meinte sie.
»Und warum?«
»Hören Sie, die Sendung ist teuer, Raeder. Wir müssen eine gute Schau bringen. Wenn die Zuschauerzahlen geringer werden, sitzen wir alle auf der Straße. Und Sie arbeiten nicht mit!«
»Was? Wie?«
»Weil Sie furchtbar sind«, sagte Janice bitter. »Sie sind ein Versager, eine Null. Wollen Sie etwa Selbstmord begehen? Haben Sie überhaupt nicht gelernt, wie man sich durchschlägt?«
»Ich gebe mein Bestes.«
»Die Thompsonbande hätte sie bis jetzt schon ein dutzendmal erledigen können. Wir haben die Leute gebeten, die Sache auszudehnen und langsam vorzugehen. Aber es ist genau so, als müßte jemand auf eine zwei Meter große Tontaube schießen. Die Thompsonleute machen mit, aber sie können auch nur bis zu einem gewissen Punkt schwindeln. Wenn ich nicht gekommen wäre, hätten sie Sie abknallen müssen - Sendezeit hin, Sendezeit her.«
Raeder starrte sie an und fragte sich, wie ein hübsches Mädchen so reden konnte. Sie warf ihm einen Blick zu, sah dann schnell wieder auf die Straße.
»Schauen Sie mich nicht so an!« sagte sie. »Sie haben sich entschieden, Ihr Leben für Geld zu riskieren, Freundchen. Für sehr viel Geld sogar! Sie wußten, was gespielt wurde. Tun Sie nicht wie ein unschuldiger, kleiner Drogist, der entsetzt erkennt, daß die bösen Gangster hinter ihm her sind. Das ist wieder eine ganz andere Geschichte.«
»Ich weiß«, sagte Raeder.
»Wenn Sie nicht ordentlich leben können, dann versuchen Sie wenigstens, ordentlich zu sterben.«
»Das ist nicht Ihr Ernst«, erwiderte Raeder.
»Ich würde mir da nicht so sicher sein. Sie haben noch drei Stunden und vierzig Minuten, bis die Sendung zu Ende ist. Wenn Sie am Leben bleiben können, gut. Das Geld gehört Ihnen. Aber wenn Sie es nicht schaffen, dann strengen Sie sich wenigstens an.«
Raeder nickte, ohne den Blick von ihr zu lassen.
»In wenigen Augenblicken geht die Sendung weiter. Ich muß einen Motorendefekt vortäuschen und Sie fortschicken. Die Leute Thompsons nehmen jetzt keine Rücksicht mehr. Sie legen Sie um, sobald sie können. Verstanden?«
»Ja«, sagte Raeder. »Kann ich Sie später einmal sehen, wenn ich durchkomme?«
Sie biß sich zornig auf die Unterlippe. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« »Nein. Ich möchte Sie wiedersehen. Darf ich?«
Sie sah ihn forschend an. »Ich weiß nicht. Lassen wir's. Wir sind beinahe soweit. Ich glaube, Sie verschwinden am besten im Wald auf der rechten Seite. Fertig?«
»Ja. Wo kann ich Sie erreichen? Nachher, meine ich.«
»Oh, Raeder, Sie hören mir ja nicht zu. Gehen Sie durch den Wald, bis Sie einen ausgewaschenen Hohlweg finden. Viel ist das nicht, aber etwas Deckung bietet er doch.«
»Wo kann ich Sie erreichen?« wiederholte Raeder.
»Ich stehe im Telefonbuch von Manhattan.« Sie brachte den Wagen zum Stehen. »Okay, Raeder, laufen Sie.«
Er öffnete die Tür.
»Warten Sie.« Sie beugte sich hinüber und küßte ihn auf den Mund. »Viel Glück, Sie Idiot. Rufen Sie mich an, wenn Sie es schaffen.«
Er hetzte in den Wald.
Er rannte zwischen Birken und Fichten dahin, kam gelegentlich an einem Haus vorbei, wo sich Gesichter an die großen Fenster preßten. Ein Bewohner eines dieser Häuser mußte die Bande verständigt haben, denn die Gangster waren knapp hinter ihm, als er den kleinen Hohlweg erreichte. Sie wollten sehen, wie einer starb. Oder vielleicht wollten sie auch nur beobachten, wie er ganz knapp dem Tod entging.
Es kam auf dasselbe heraus.
Er sprang in den Hohlweg, kroch in das dichte Unterholz und blieb regungslos liegen. Die Gangster erschienen auf beiden Böschungen, streiften langsam umher, achteten auf die geringste Bewegung. Er hörte einen Revolverschuß. Aber der Gangster hatte nur ein Eichhörnchen abgeknallt. Es wand sich einen Augenblick, dann war es still.
Raeder hörte den Hubschrauber des Fernsehens heranbrummen. Er fragte sich, ob Kameras auf ihn gerichtet waren. Möglich. Und wenn man ihn sah, war vielleicht irgendein Guter Samariter bereit, ihm zu helfen.
Raeder lag im Unterholz auf dem Rücken. Er machte ein frommes Gesicht, faltete die Hände und begann zu beten. Er betete leise, weil das Publikum für auffällige Religiosität nichts übrig hatte. Aber seine Lippen bewegten sich. Das konnte man keinem Menschen verwehren.