Und er betete wirklich. Einmal hatte ein Lippenleser im Publikum einen Flüchtigen dabei ertappt, daß dieser zu beten Vorgab, in Wirklichkeit aber Multiplikationen vor sich hinmurmelte. Diesem Mann war jede Hilfe versagt geblieben.
Raeder beendete sein Gebet. Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, daß er noch zwei Stunden überstehen mußte.
Und er wollte doch nicht sterben! Das ganze Geld war das nicht wert, wieviel sie ihm auch bezahlen mochten! Er mußte verrückt gewesen sein, total wahnsinnig, um sich darauf einzulassen.
Aber er wußte, daß das nicht stimmte. Und er erinnerte sich genau, wie normal er geistig gewesen war.
Vor einer Woche war er im Studio von >Der Tod spielt mit< gewesen, hatte in die Scheinwerfer geblinzelt, und sich von Mike Terry die Hand schütteln lassen.
»Nun, Mr. Raeder«, hatte Terry ernst gefragt, »begreifen Sie die Regeln des Spiels, an dem Sie sich beteiligen wollen?«
Raeder nickte.
»Wenn Sie annehmen, Jim Raeder, sind Sie eine Woche lang ein gejagter Mann. Mörder werden Ihnen auf der Spur sein, Jim. Ausgebildete Mörder; Männer, die wegen anderer Verbrechen gesucht werden und für diese eine Tat nach dem Gesetz über freiwilligen Selbstmord Straffreiheit erhalten haben. Sie werden versuchen, Sie umzubringen, Jim - begreifen Sie?«
»Ich verstehe«, sagte Raeder. Er verstand auch die zweihunderttausend Dollar, die man ihm aushändigen würde, wenn er die Woche überlebte.
»Ich frage Sie noch einmal, Jim Raeder. Wir zwingen keinen Menschen, mit seinem Leben als Einsatz zu spielen.«
»Ich will spielen«, sagte Raeder.
Mike Terry wandte sich dem Publikum zu. »Meine Damen und Herren, ich habe hier die Durchschrift eines ausführlichen psychologischen Testberichts, den eine unparteiische Institution auf unseren Wunsch über Jim Raeder erstellt hat. Gegen Einsendung von 25 Cents für Portokosten wird jedem Interessenten ein Exemplar übersandt. Der Test zeigt, daß Jim Raeder geistig gesund, völlig im Gleichgewicht und in jeder Hinsicht voll verantwortlich ist.« Er wandte sich Raeder zu.
»Wollen Sie immer noch mittun, Jim?«
»Ja.«
»Nun gut!« rief Mike Terry. »Jim Raeder, darf ich Ihnen Ihre Gegner vorstellen!«
Die Thompsonbande marschierte ins Studio, vom Publikum ausgepfiffen.
»Schauen Sie sich diese Männer an, liebe Zuschauer!« sagte Mike Terry mit unverhohlener Verachtung. »Schauen Sie sie sich nur an! Asozial, durch und durch verrottet, völlig amoralisch. Diese Männer kennen kein Gesetz als den abnormen Kodex des Verbrechers, keine Ehre, als die Ehre des feige angeworbenen Mörders. Sie sind dem Untergang geweiht, verurteilt von unserer Gesellschaft, die ihr Unwesen nicht lange dulden wird, einem frühen, schäbigen Tod vorherbestimmt.«
Das Publikum schrie begeistert auf.
»Was haben Sie zu sagen, Claude Thompson?« fragte Terry.
Claude, der Sprecher der Thompsons, trat ans Mikrophon, ein magerer, glattrasierter Mann im dunklen Anzug.
»Ich sage«, erklärte Claude Thompson mit heiserer Stimme, »ich sage, daß wir nicht schlechter sind als alle anderen. Ich meine, wie Soldaten im Krieg, sie töten doch auch. Und sehen Sie sich die Korruption in den Behörden und Gewerkschaften an. Jeder bereichert sich auf seine Weise.«
Das war Thompsons dürftige Lebensanschauung. Aber mit welcher Geschwindigkeit und Präzision zerstörte Mike Terry die Rechtfertigung des Gangsters! Terrys Fragen bohrten tief in die schmutzige Seele des Anführers.
Am Ende des Gesprächs stand Claude Thompson der Schweiß auf der Stirn. Er wischte sich das Gesicht mit einem seidenen Taschentuch und warf seinen Leuten hastige Blicke zu.
Mike Terry legte Raeder die Hand auf die Schulter. »Hier ist der Mann, der sich bereit erklärt hat, Ihr Opfer zu sein - wenn Sie ihn fangen können.«
»Wir erwischen ihn«, erwiderte Thompson zuversichtlich.
»Verlassen Sie sich nicht zu sehr darauf«, meinte Terry. »Jim Raeder hat mit wilden Stieren gekämpft - jetzt steht er Schakalen gegenüber. Er ist ein Durchschnittsmensch. Er ist das Volk - das schließlich Ihr und Ihrer Leute Untergang sein wird.«
»Wir schnappen ihn«, sagte Thompson.
»Noch eins«, meinte Terry leise. »Jim Raeder steht nicht allein da. Die Menschen Amerikas sind für ihn. Gute Samariter aus allen Winkeln unserer großen Nation stehen bereit, ihn zu unterstützen. Der unbewaffnete, wehrlose Jim Raeder kann auf die Hilfe und Anständigkeit des Volkes zählen, dessen Repräsentant er ist. Geben Sie sich also nicht zu selbstbewußt, Claude Thompson! Der Mann von der Straße ist für Raeder - und er ist die Mehrheit!«
Raeder dachte darüber nach, regungslos im Unterholz liegend. Ja, die Leute hatten ihm geholfen. Aber auch den Banditen.
Ein Schauder überlief ihn. Er hatte entschieden, erinnerte er sich. Er allein trug die Verantwortung. Das hatte der psychologische Test bewiesen.
Trotzdem, welche Verantwortung trugen die Psychologen, von denen er getestet worden war? Welche Verantwortung traf Mike Terry, wenn er einem unbegüterten Mann soviel Geld bot? Die Gesellschaft hatte die Schlinge geflochten und sie um seinen Hals gelegt; er erhängte sich selbst damit, und das nannte man freier Wille<.
Wessen Fehler war es?
»Aha«, rief jemand.
Raeder sah nach oben und bemerkte einen dicken Mann in seiner Nähe. Er trug ein auffallendes Tweedjackett. Um seinen Hals hing ein Fernglas, in der Hand hielt er einen Spazierstock.
»Mister«, flüsterte Raeder, »bitte verraten Sie mich nicht!«
»Hierher!« rief der Dicke und deutete mit dem Spazierstock auf Raeder. »Da ist er!«
Ein Verrückter, dachte Raeder. Der verdammte Narr glaubt wohl, wir spielen hier Räuber und Gendarm.
»Gleich hier! Schnell!« schrie der Mann.
Fluchend sprang Raeder auf und rannte davon. Er ließ den Hohlweg hinter sich und sah in der Ferne ein weißes Gebäude. Er lief darauf zu. Hinter sich konnte er immer noch den Mann rufen hören.
»Hierher, diesen Weg. Schaut doch hin, könnt ihr ihn noch nicht sehen?«
Die Gangster schossen wieder. Raeder hastete weiter, stolperte auf dem unebenen Boden, raste vorbei an drei Kindern, die in einem Baumhaus spielten.
»Da ist er!« schrien die Kinder. »Da ist er!«
Raeder stöhnte auf und lief weiter. Er erreichte die Stufen des Gebäudes und sah, daß es eine Kirche war.
Als er die Tür aufstemmte, traf ihn eine Kugel in die rechte Kniekehle.
Er stürzte, kroch in die Kirche hinein.
Das Fernsehgerät in seiner Tasche tönte: »Was für ein Endspurt, meine Damen und Herren, was für ein Endspurt! Raeder ist getroffen! Er ist getroffen, liebe Zuschauer, er kriecht jetzt, er hat Schmerzen, aber er gibt nicht auf! Jim Raeder gibt nicht auf!«
Raeder lag im Mittelgang vor dem Altar. Er hörte die eifrige Stimme eines Kindes sagen:
»Er ist dort hineingegangen, Mr. Thompson. Wenn Sie sich beeilen, erwischen Sie ihn noch!«
Galt denn eine Kirche nicht als Freistatt? fragte sich Raeder.
Dann wurde die Tür aufgerissen, und Raeder mußte einsehen, daß man sich nicht mehr an solche Gewohnheiten hielt. Er riß sich zusammen und kroch am Altar vorbei durch die Hintertür der Kirche hinaus.
Er befand sich in einem alten Friedhof. Er kroch vorbei an Kreuzen und Sternen, vorbei an Grabsteinen aus Marmor und Granit, vorbei an Steingrabmälern und groben Holzbrettern. Eine Kugel streifte einen Grabstein, überschüttete ihn mit Steinsplittern. Er kroch vorsichtig zum Rand eines offenen Grabes.
Sie hatten ihn aufgenommen, dachte er. Alle diese netten, durchschnittlichen, normalen Leute. Hatten sie nicht gesagt, daß er ihr Vertreter war? Hatten sie nicht geschworen, ihr Eigen zu beschützen? Aber nein, sie haßten ihn. Warum hatte er das nicht erkannt? Ihr Held war der eiskalte Bursche mit dem Colt in der Hand, Thompson, al Capone, Billy the Kid, El Cid, der Mann ohne menschliche Regung. Ihn verehrten sie, diesen leblosen, roboterhaften Mörder.