Wir waren beim ersten Dämmerschein unterwegs, marschierten vorbei an Stacheldraht und Rollminen, hinein in das Niemandsland zwischen unserem Graben und 2645B - 5. Der Angriff wurde mit Bataillonsstärke durchgeführt, und man hatte uns mit der neuen Zielflugmunition ausgerüstet. Wir kamen eine Weile recht schnell vorwärts. Dann eröffnete der Gegner mit voller Wucht das Feuer.
Wir gewannen Boden. Um mich her flog alles mögliche durch die Luft, aber ich hatte noch keinen Kratzer abbekommen. Ich begann zu vermuten, daß wir es diesmal schaffen könnten. Vielleicht würde ich doch am Leben bleiben.
Dann erwischte es mich. Eine Sprengpatrone fetzte durch meinen Brustkasten. Entschieden eine tödliche Verletzung. Wenn man so getroffen wird, bleibt man gewöhnlich liegen. Aber ich bei dieser Gelegenheit nicht. Ich wollte sicherstellen, daß ich zu den endgültigen Toten gehören würde. Ich raffte mich also auf und taumelte weiter, mein Gewehr als Krücke benutzend. Mitten im furchtbarsten Kreuzfeuer schaffte ich fünfzehn Meter. Dann wurde ich getroffen, aber diesmal richtig. Jetzt gab es keinen Irrtum mehr. Das war die endgültige Befreiung.
Ich spürte, wie die Kugel in meiner Stirn einschlug. Jetzt war ich sicher. Die Brahmanen konnten gegen schwere Gehirnverletzungen nichts unternehmen.
Ich starb.
Ich wachte auf und sah die Brahmanen mit ihren weißen Mänteln und Masken um mich herumstehen.
»Wie lange war ich tot?« fragte ich.
»Zwei Stunden.«
Dann fiel es mir ein. »Aber ich bin doch genau in die Stirn getroffen worden!«
Die Gazemasken verzerrten sich und ich wußte, daß sie grinsten. »Geheimwaffe«, sagte einer. »Seit drei Jahren ist daran gearbeitet worden. Endlich haben wir und die Techniker einen perfekten Apparat geschaffen. Phantastische Erfindung!«
»So?« sagte ich.
»Endlich kann die Medizin schwerste Gehirnverletzungen behandeln«, erklärte mir der Brahmane. »Und jede andere Verletzung auch. Wir bringen jetzt jeden wieder zum Leben, solange wir siebzig Prozent seines Körpers finden und in das Gerät einbringen. Dadurch lassen sich unsere Verluste gewaltig verringern. Vielleicht ist das die entscheidende Wende des Krieges!«
»Sehr schön«, sagte ich.
»Übrigens ist Ihnen für Ihr heldenhaftes Verhalten unter schwerem Beschuß nach tödlicher Verletzung eine Auszeichnung verliehen worden.«
»Freut mich«, meinte ich. »Haben wir 2645B - 5 genommen?«
»Ja, diesmal hat es geklappt. Wir ziehen jetzt unsere Truppen für einen Angriff auf Graben 2645B - 6 zusammen.«
Ich nickte. Nach einer Weile bekam ich meine Uniform zurück und wurde wieder an die Front geschickt. Es ist ein bißchen ruhiger geworden, und ich muß zugeben, daß es Spaß macht, am Leben zu sein. Trotzdem habe ich genug davon.
Ein Tod noch, und dann habe ich mein Pensum erfüllt.
Wenn die Befehle nicht wieder anders lauten.
WUNSCHWELT
Mr. Wayne erreichte das Ende des langen, schulterhohen Geröllhaufens, und dort vorne stand die Schatzkammer der Welten. Sie sah genauso aus, wie sie sein Freund beschrieben hatte: eine kleine Hütte, gebaut aus Holzbrocken, Autoteilen, einem Stück Eisen und ein paar Reihen zerbröckelnder Ziegelsteine. Der ganze Bau war in einem wäßrigen Blau gehalten.
Mr. Wayne sah sich um und starrte den langen Schuttweg entlang, um sich zu vergewissern, daß ihm niemand gefolgt war. Er klemmte sein Paket fester unter den Arm und schauderte ein wenig ob seiner Kühnheit, als er die Tür öffnete und eintrat.
»Guten Morgen«, sagte der Besitzer.
Auch er sah genau aus wie beschrieben: ein großer, verschlagen aussehender alter Mann mit schmalen Augen und nach unten gebogenem Mund. Er hieß Tompkins. Er saß in einem alten Schaukelstuhl, auf dessen Lehne ein blaugrün gefiederter Papagei hockte. Im Laden gab es noch einen zweiten Stuhl und einen Tisch. Auf dem Tisch lag eine verrostete Injektionsspritze.
»Ich habe durch Freunde von Ihrem Laden erfahren«, sagte Mr. Wayne.
»Dann kennen Sie meinen Preis«, meinte Tompkins. »Haben Sie ihn mitgebracht?«
»Ja«, erwiderte Mr. Wayne und hob das Paket hoch. »Aber ich möchte zuerst fragen -«
»Alle wollen fragen«, sagte Tompkins zu dem Papagei, der schläfrig blinzelte. »Na los, fragen Sie.«
»Ich möchte wissen, was wirklich vor sich geht.«
Tompkins seufzte. »Sie bezahlen mir ein Honorar. Ich gebe Ihnen eine Injektion, bei der Sie das Bewußtsein verlieren. Mit Hilfe gewisser Apparate, die ich im Hinterzimmer aufbewahre, befreie ich Ihren Geist.«
Tompkins lächelte, als er das sagte.
»Was geschieht dann?«
»Ihr Geist, befreit von seinem Körper, kann unter den zahllosen Wahrscheinlichkeitswelten auswählen, die die Erde in jeder Sekunde ihres Daseins von sich gibt.«
Tompkins grinste, setzte sich in seinem Schaukelstuhl auf und schien nun sogar Begeisterung aufzubringen.
»Ja, mein Freund, wenn Sie daran auch nicht gedacht haben werden, es ist so. Von dem Augenblick an, da diese Erde dem glühenden Schoß der Sonne entsprang, stieß sie ihre Wahrscheinlichkeitswelten ab. Welten ohne Ende, aus kleinen und großen Ereignissen entstehend; aus jedem Alexander, aus jeder Amöbe eine Welt entstehend, wie sich die Wellen in einem Teich ausbreiten, gleichgültig, wie groß oder klein der Stein ist, den man hineinwirft. Wirft nicht jeder Gegenstand einen Schatten? Nun, mein Freund, die Erde selbst ist vierdimensional, daher wirft sie dreidimensionale Schatten, massive Abbilder ihrer selbst in jedem Augenblick ihrer Existenz. Millionen, Milliarden Welten! Eine Unendlichkeit von Welten! Und Ihr Geist wird, durch mich befreit, irgendeine dieser Welten wählen und eine Weile dort leben können.«
Mr. Wayne bemerkte mit wachsendem Unbehagen, daß Tompkins einem Marktschreier glich, Wunder anpreisend, die es einfach nicht geben konnte. Aber in seinem eigenen Leben hatte er Dinge erlebt, die er nie für möglich gehalten hätte, erinnerte sich Mr. Wayne. Nie! Vielleicht gab es also auch die Wunder, von denen Tompkins sprach.
Mr. Wayne sagte: »Meine Freunde haben mir auch gesagt -«
»Daß ich ein ausgemachter Betrüger sei?« fragte Tompkins.
»Man deutete es immerhin an«, sagte Mr. Wayne vorsichtig. »Aber ich bemühe mich, mir immer meine eigene Meinung zu bilden. Man sagte mir auch -« »Ich weiß, was Ihre Freunde gesagt haben. Es ging um die Befriedigung der innersten Begierden. Darüber wollten Sie doch etwas hören?«
»Ja«, sagte Mr. Wayne. »Man erzählte mir, daß das, was ich mir wünsche - wonach ich mich sehne -«
»Genau«, erwiderte Tompkins. »Auf andere Weise wäre das gar nicht möglich. Man kann unter den unzähligen Welten auswählen. Ihr Geist trifft seine Wahl, und er läßt sich nur von Begierden leiten. Ihr tiefstes Verlangen ist das einzige, was zählt. Wenn Sie heimlich von Mord geträumt haben -«
»Oh, ganz bestimmt nicht, keine Sorge!« rief Mr. Wayne.
» - dann gelangen Sie auf eine Welt, wo Sie morden, im Blut baden, die schlimmsten Massenmörder übertreffen können. Angenommen, Sie wünschen Macht. Dann wählen Sie eine Welt, wo Sie sinnbildlich und buchstäblich ein Gott sind. Ein blutdürstiger Moloch oder ein grenzenlos weiser Buddha.«
»Ich bezweifle sehr, ob -«
»Es gibt auch andere Begierden«, fuhr Tompkins fort. »Alle Höhen, alle Tiefen. Ungezügelte Sexualität. Freßsucht, Alkoholismus, Liebe, Ruhm - was Ihr Herz begehrt.«
»Erstaunlich!« sagte Mr. Wayne.
»Allerdings«, stimmte Tompkins zu. »Selbstverständlich sind durch meine kleine Liste die Möglichkeiten bei weitem nicht erschöpft. Vielleicht wünschen Sie sich ein ruhiges, friedliches Dasein auf einer Südseeinsel unter Idealbildern von Eingeborenen.«
»Das wäre schon eher etwas für mich«, meinte Mr. Wayne mit schüchternem Lächeln.