»Wir werden sehen«, sagte Lan Il. »Ich persönlich glaube, daß er kommen wird.«
»Ich nicht.«
»Sie unterschätzen Ihre Anziehungskraft und Ihr Talent zur Schauspielerin. Warten wir ab.«
»Es bleibt uns ja nichts anderes übrig«, sagte Janna und lehnte sich zurück.
Es war zwölf Uhr 42.
Brynne beschloß, zur Beruhigung seiner Nerven am Hafen spazierenzugehen. Der Anblick der mächtigen Schiffe besänftigte ihn stets. Er wanderte gleichmäßig dahin und versuchte sich darüber klarzuwerden, was geschehen war.
Diese herrliche, traurige Frau.
Aber was war mit seiner Pflicht, der Arbeit fleißiger Angestellter, die heute nachmittag am Schreibtisch Ben Baxters ihre Erfüllung finden sollte?
Er blieb stehen und betrachtete den Bug eines großen Schiffes. Die >Theseus<.
Er dachte an Indien, den blauen Himmel, Sonnenschein, Wein, Entspannung. Diese herrlichen Dinge waren nicht für ihn da. Arbeit, angestrengte Arbeit, dafür hatte er sich entschieden. Selbst wenn er die schönste Frau der Welt dadurch verlieren sollte, würde er sich unter dem grauen Himmel New Yorks weiter abmühen.
Aber warum? fragte er sich und berührte den Lederbeutel in seiner Tasche. Er war keineswegs arm. Seine Geschäfte liefen auch ohne ihn. Was hielt ihn davon ab, dieses Schiff zu besteigen, alles zurückzulassen, und ein ganzes Jahr die Sonne zu genießen?
Freudige Erregung befiel ihn, als er einsah, daß ihn nichts, aber auch gar nichts zurückhielt. Er war sein eigener Herr, ein entschlossener, starker Mann. Wenn er die Kraft und den Glauben hatte, Erfolg im Geschäftsleben zu erzielen, besaß er auch den Mut, es zu verlassen, auf alles zu verzichten und den Neigungen seines Herzens nachzugeben.
»Zum Teufel mit Baxter!« sagte er. Die Sicherheit der jungen Frau war wichtiger als alles andere. Er gedachte, augenblicklich an Bord dieses Schiffes zu gehen, seinen Geschäftspartnern von hoher See aus zu telegraphieren und ihnen mitzuteilen -
Die Entscheidung war gefallen. Er drehte sich um und marschierte die Gangway hinauf.
Ein Offizier trat ihm lächelnd entgegen und fragte: »Sie heißen, Sir?«
»Ned Brynne.«
»Brynne, Brynne«, der Offizier suchte auf seiner Liste. »Ich glaube nicht - o doch, da steht's. Jawohl, Mr. Brynne, Ihre Kabine liegt im A-Deck. Sie hat die Nummer 3. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt.«
»Vielen Dank«, sagte Brynne und sah auf die Uhr. Es war zwölf Uhr fünfundvierzig.
»Wann fährt das Schiff übrigens ab?« fragte er den Offizier.
»Punkt halb fünf, Sir.«
»Halb fünf? Sind Sie sicher?«
»Ganz sicher, Mr. Brynne.«
»Aber man sagte mir, daß die Abfahrt auf ein Uhr festgesetzt sei.« »Das war auch ursprünglich der Fall, Sir. Es kommt sehr häufig vor, daß die Abfahrtszeit um ein paar Stunden verschoben wird. Wir holen diese Verspätung auf See leicht ein.«
Halb fünf! Jawohl, er hatte genug Zeit! Er konnte zurückfahren, mit Ben Baxter sprechen, und trotzdem rechtzeitig wieder da sein! Beide Probleme waren gelöst.
Er bedankte sich beim geheimnisvollen, gütigen Schicksal und hastete die Gangway hinunter. Zu seinem Glück fand er sofort ein Taxi.
Ben Baxter war klein und massig. Er hatte einen völlig kahlen Kopf, und seine Augen hinter dem goldenen Zwicker waren ausdruckslos. Er trug einen strenggeschnittenen, dunklen Anzug, am Revers das kleine, mit Rubinen und Perlen besetzte Abzeichen der Mitglieder der Untertänigen Diener Wall Streets.
Eine halbe Stunde lang hatte Brynne berichtet, Trends bezeichnet, künftige Entwicklungen vorausgesagt. Er begann zu schwitzen, als er Baxters Reaktion erwartete.
»Hmm«, sagte Ben Baxter.
Brynne wartete. Sein Puls wurde immer schneller, sein leerer Magen begann zu knurren. Er dachte unaufhörlich an die >Theseus<. Er wollte dieses Gespräch beenden und an Bord gehen.
»Die Bedingungen für einen Zusammenschluß unserer beiden Firmen sind sehr zufriedenstellend«, sagte Baxter.
»Sir?« hauchte Brynne.
»Zufriedenstellend, habe ich gesagt. Sie sind doch nicht schwerhörig, Bruder Brynne?«
»Nicht bei solchen Nachrichten«, meinte Brynne grinsend.
»Unsere Zusammenarbeit verspricht für uns beide eine großartige Zukunft«, erklärte Baxter lächelnd. »Ich bin ein offener Mensch, Brynne, und ich will Ihnen ganz klar sagen: es gefällt mir, wie Sie diese Berichte zusammengestellt haben, es gefällt mir, wie Sie in diesem Gespräch vorgegangen sind. Außerdem mag ich Sie persönlich sehr gern. Ich bin wirklich sehr zufrieden und ich glaube, daß unsere Partnerschaft sehr erfolgreich sein wird.«
»Das ist auch meine Meinung, Sir.«
Sie schüttelten sich die Hände, und beide Männer standen auf.
»Meine Anwälte werden im Einklang mit unserem Gespräch die Verträge aufsetzen«, meinte Baxter.
»Ausgezeichnet.« Brynne zögerte. Er fragte sich, ob er Baxter sagen sollte, daß er nach Indien fuhr. Er beschloß, es nicht zu tun. Mit ein paar Ferngesprächen konnten die Verhandlungen zum Abschluß gebracht werden. Im übrigen würde er nicht lange unterwegs sein - er mußte nur die junge Frau sicher nach Hause bringen, dann würde er zurückfliegen.
Sie sagten einander noch ein paar Freundlichkeiten, schüttelten sich nochmals die Hände. Dann wandte sich Brynne zum Gehen.
»Das ist ein sehr schöner Betstock«, sagte Baxter.
»Wie? Ach ja«, sagte Brynne. »Ich habe ihn diese Woche aus Sinkiang bekommen. Meiner unmaßgeblichen Meinung nach werden dort die schönsten Betstöcke hergestellt.«
»Ich weiß. Darf ich ihn mir ansehen?«
»Selbstverständlich. Aber Vorsicht, bitte, er öffnet sich sehr schnell.«
Baxter nahm den geschnitzten Betstock in die Hand und drückte auf den Griff. Am anderen Ende schoß eine scharfe Klinge heraus und streifte sein Bein.
»Donnerwetter!« sagte Baxter. »Ich habe noch keinen schnelleren gesehen.«
»Haben Sie sich verletzt?« »Nur ein kleiner Kratzer. Herrlich, diese Klinge.« Sie unterhielten sich eine Weile über die vielschichtige Bedeutsamkeit der Messerklinge im westlichen Buddhismus. Dann schloß Baxter den Betstock und gab ihn Brynne zurück.
»Eine herrliche Arbeit. Auf Wiedersehen, lieber Bruder Brynne, und -«
Baxter brach mitten im Satz ab. Sein Mund stand offen, und er schien an Brynne vorbei an die Wand zu starren.
Brynne drehte sich um, konnte aber nichts Besonderes feststellen. Als er sich seinem Gastgeber wieder zuwandte, waren Baxters Gesichtszüge verzerrt; aus den Mundwinkeln traten Schaumbläschen.
»Sir!« rief Brynne. Baxter versuchte zu sprechen, brachte aber keinen Ton hervor. Er machte zwei taumelnde Schritte und brach zusammen.
Brynne raste zur Tür. »Rufen Sie einen Arzt! Schnell! Schnell!« rief er der erschrockenen Sekretärin zu. Dann eilte er zu Baxter zurück.
Er hatte den ersten amerikanischen Fall der mutieren Krankheit vor sich, die man später als Sinkiang-Pest bezeichnete. Übertragen durch hundert verseuchte Betstöcke, sollte sie wie der Blitz durch New York zucken und eine Million Tote hinterlassen. Binnen einer Woche sollten die Symptome der Sinkiang-Pest bekannter werden als jene der Masern.
Aber Brynne sah den ersten Toten.
Mit Entsetzen starrte er die steinharte, apfelgrüne Haut an Baxters Händen und in seinem Gesicht an.
III
Am Morgen des 12. April 1969 erwachte Ned Brynne, wusch sich und kleidete sich an. Um 13 Uhr 30 an diesem Nachmittag war er bei Ben Baxter, dem Präsidenten der Baxter-Industrie AG angemeldet. Brynnes ganze Zukunft hing vom Ausgang dieses Gesprächs ab. Wenn er die Unterstützung des gigantischen Baxter-Unternehmens gewann, noch dazu unter günstigen Bedingungen.
Brynne war ein großer, dunkelhaariger, gutaussehender Mann von sechsunddreißig Jahren. In seinen betont milde blickenden Augen war ein Funken Nachdenklichkeit zu erkennen, eine Andeutung klarer Vernunft und der Bereitschaft zum Kompromiß sprach aus seinem vollen Mund. Seine Bewegungen zeigten die nachlässige Sicherheit eines Mannes, der seinen Platz in der Welt kennt.