Um zwei Uhr nachts Schiffszeit verabschiedete sich die junge Frau, nicht ohne vorher bedeutsam ihre Kabinennummer genannt zu haben. Crompton taumelte traumverloren zu seiner eigenen Kabine im B-Deck und sank glückserfüllt auf sein Bett.
»Na und jetzt?« fragte Loomis.
»Wieso >Na und jetzt<?«
»Gehen wir. Die Einladung war deutlich genug.«
»Ich kann mich an keine Einladung erinnern«, sagte Crompton verwirrt.
»Sie hat ihre Kabinennummer genannt«, erklärte Loomis. »Das stellt, zusammen mit den anderen Vorfällen heute abend, eine unmißverständliche Einladung - ja, beinahe einen Befehl dar.«
»Ich kann's nicht glauben!« rief Crompton.
»Ehrenwort«, sagte Loomis. »In diesen Dingen habe ich ein wenig Erfahrung. Die Einladung ist klar, der Weg frei. Vorwärts!« »Nein, nein«, wehrte Crompton ab. »Ich darf doch - kann nicht
-«
»Mangel an Erfahrung ist keine Entschuldigung«, verkündete Loomis fest. »Die Natur hilft sehr großzügig, wenn man sich ihr nur überläßt. Du wirst doch jetzt nicht versagen!«
Crompton stand auf, wischte sich die glühende Stirn und tat zwei zögernde Schritte zur Tür. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und setzte sich wieder auf sein Bett.
»Ausgeschlossen«, sagte er entschieden.
»Warum denn?«
»Es wäre unmoralisch. Die junge Dame ist verheiratet.«
»Die Ehe ist eine sehr schöne Einrichtung«, erklärte Loomis geduldig, »aber die Natur schafft sich ihr Recht, ohne auf Paragraphen und Buchstaben Rücksicht zu nehmen.«
»Es ist unanständig«, erwiderte Crompton ohne Überzeugung.
»Keineswegs«, versicherte ihm Loomis. »Du bist unverheiratet, also kann dich niemand tadeln. Die junge Dame ist verheiratet. Das ist ihre Verantwortung. Aber vergiß nicht, als erwachsener Mensch muß sie ihre genauen Entscheidungen treffen; sie ist nicht unveräußerlicher Besitz ihres Mannes. Sie hat ihre Entscheidung getroffen, und wir müssen Ehrlichkeit respektieren. Alles andere wäre eine Beleidigung. Schließlich ist da noch der Mann. Er wird nichts davon erfahren, ist also auch nicht davon betroffen. Im Gegenteil, er kann nur gewinnen. Seine Frau wird zum Ausgleich besonders nett zu ihm sein. Er muß annehmen, daß er das seiner großartigen Männlichkeit verdankt, und kann sich einiges darauf einbilden. Du siehst, Crompton, jeder hat einen Vorteil davon, niemand einen Nachteil.«
»Reine Haarspalterei«, sagte Crompton, erhob sich und ging auf die Tür zu.
»Nur zu, mein Junge«, sagte Loomis.
Crompton grinste idiotisch und öffnete die Tür. Dann überfiel ihn ein Gedanke, er knallte die Tür zu und legte sich aufs Bett.
»Ausgeschlossen«, sagte er.
»Was ist denn nun wieder los?«
»Die Begründung von vorhin mag stichhaltig sein oder nicht«, erklärte Crompton. »Ich besitze nicht genügend Erfahrung, um darüber urteilen zu können. Aber das eine weiß ich: ich unternehme nichts dergleichen, solange du zusiehst!«
»Aber - verdammt noch mal, ich bin doch du! Du bist ich! Wir sind zwei Teile einer einzigen Persönlichkeit!«
»Das sind wir eben noch nicht«, erwiderte Crompton. »Wir existieren jetzt als schizoide Teile, zwei Menschen in einem Körper. Später, wenn es wirklich einmal zur Verschmelzung gekommen ist. Aber unter den jetzigen Umständen verbietet mir mein Gefühl für Anständigkeit, das zu tun, was du vorschlägst. Es ist undenkbar! Ich will nichts mehr davon hören.«
Daraufhin verlor Loomis die Beherrschung. Da er sich gehindert sah, seiner eigenen Persönlichkeit auch einmal Ausdruck zu verleihen, wütete und schrie er, warf Crompton unzählige Schimpfnamen an den Kopf, wovon >dreckiger kleiner Feigling< noch der mildeste war. Sein Zorn löste Reaktionen in Cromptons Gehirn aus, hallte durch ihren gesamten, gemeinsam bewohnten Organismus wider. Die Spaltungslinien zwischen den beiden Persönlichkeiten vertieften sich, neue Risse traten zutage, und der Bruch drohte die beiden Ichs in echter Dr.Jekyll-und-Mr.Hyde-Manier voneinander zu isolieren.
Cromptons dominierende Persönlichkeit trug ihn über diese Gefahr hinweg. In seiner maßlosen Wut auf Loomis begann sein Verstand jedoch Antidole zu produzieren. Diese noch immer nicht ganz erforschten winzigen Abwehrkörper hatten, gleich den Leukozyten im Blutkreislauf, die Aufgabe, Schmerzen zu lindern und die wunde Stelle im Verstand abzuriegeln.
Loomis zuckte entsetzt zurück, als die Antidole ihren Schutzwall um ihn errichteten, ihn abdrängten, zurückschoben und einmauerten.
»Crompton! Bitte!«
Loomis drohte die Gefahr, völlig und für immer abgeschlossen zu werden, in einem dunklen Winkel verlorenzugehen. Und mit ihm würde auch die letzte Chance auf eine Reintegrierung dahin sein. Aber Crompton gewann rechtzeitig seine Beherrschung zurück. Der Strom von Antidolen versiegte, der Schutzwall löste sich auf, und Loomis bezog erschrocken wieder seine Position.
Einige Zeit sprachen sie nicht miteinander. Loomis schmollte einen ganzen Tag und schwor sich, Crompton diese Brutalität nie zu verzeihen. Aber er war in erster Linie und vor allem anderen Sinnesmensch, dem Augenblick lebend, ein Wesen ohne Vergangenheit, das sich keine Gedanken um die Zukunft machte. Sein Groll schwand dahin, er wurde wieder er selbst.
Crompton war nicht so vergeßlich, aber er begriff seine Verantwortung als beherrschender Teil seines Ichs. Er bemühte sich, die Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten, und binnen kurzer Frist harmonierten die beiden Persönlichkeiten in vollstem Einklang.
In gegenseitigem Einverständnis wichen sie künftig der jungen Dame aus. Der letzte Teil der Reise verging sehr schnell, und das Raumschiff erreichte endlich die Venus.
Man setzte sie im Satelliten Drei ab, wo sie bei Zoll-, Einwan-derungs- und Gesundheitsbeamten vorstellig wurden. Man verpaßte ihnen Injektionen gegen schleichendes Fieber, Venuspest, die Knightsche Krankheit und das Große Jucken. Sie erhielten Pulver gegen Moorfäule und Pillen gegen Blaufuß. Schließlich gestattete man ihnen, mit der Fährrakete zum Ausschiirungshafen in New Port Haarlem hinunterzufliegen.
Diese Stadt am Westufer der Inland-Zee, lag in der gemäßigten Zone des Planeten. Trotzdem war ihnen nach dem kühlen, belebenden Marsklima unangenehm warm. Hier sahen sie die ersten Venus-Ureinwohner außerhalb eines Zirkus; sie begegne-ten ihnen sogar zu Hunderten. Die Eingeborenen waren im Durchschnitt eineinhalb Meter groß, und ihre geschuppten Leiber wiesen auf die entfernte Verwandtschaft mit Eidechsen hin. Auf den Bürgersteigen gingen sie aufrecht, aber bei großem Gedränge bewegten sie sich quer über die Häuserfassaden, mit ihren Saugnäpfen an Händen, Füßen, Knien und Unterarmen Halt findend.
Viele Gebäude waren zum Schutz der Fenster mit Stacheldraht garniert, denn den Eingeborenen wurde nachgesagt, daß sie zwischen mein und dein kaum unterschieden: ihr einziger Sport war der Meuchelmord.
Crompton hielt sich einen Tag in der Stadt auf und flog dann mit einem Hubschrauber nach East Marsh, der letzten Anschrift Dan Stacks. Der Flug erwies sich als monotones Surren und Knattern durch dichte Wolkenbänke, die jede Sicht nach unten verhinderten. Das Radargerät gab schrille Töne von sich, während die Antenne den Himmel nach den wandernden Inversionszonen absuchte, wo der gefürchtete Venus-Tornado, der >Zicre<, manchmal in wenigen Augenblicken sein verwüstendes Werk begann. Aber bei diesem Flug blieben die Winde sanftmütig, und Crompton schlief die meiste Zeit.
East Marsh war ein geschäftiger Hafen an einem Zufluß der Inland-Zee. Hier machte Crompton Stacks Pflegeeltern ausfindig, ein Greisenpaar um die Achtzig. Sie berichteten ihm, daß Dan ein großer, starker Bursche sei, manchmal ein wenig unbesonnen, aber von Herzen gutmütig. Sie versicherten ihm, daß das mit dem Mädel von den Morrisons gar nicht stimme. Dan sei zu Unrecht beschuldigt worden. Dan würde einem hilflosen, armen Mädchen nie so etwas antun.