Meister Thomas von der Trave nun hatte seit Jahr und Tag einen »Schatten« namens Bertram walten lassen, dem es mehr an Glück als an Begabung oder gutem Willen gemangelt zu haben scheint. Er war ein vorzüglicher Glasperlenspieler, wie es sich von selbst versteht, er war auch ein mindestens nicht ungeschickter Lehrer und ein gewissenhafter Beamter, seinem Meister unbedingt ergeben; dennoch war er im Lauf der letzten Jahre bei den Beamten eher unbeliebt geworden und hatte die nachwachsende jüngste Schicht der Elite gegen sich, und da er nicht die ritterlich klare Natur seines Meisters besaß, störte das die Sicherheit und Ruhe seiner Haltung. Der Magister ließ ihn nicht fallen, hatte ihn aber seit Jahren den Reibungen mit jener Elite möglichst entzogen, ihn überhaupt immer seltener an die Öffentlichkeit gestellt und mehr in den Kanzleien und im Archiv verwendet. Dieser unbescholtene, aber nicht oder doch zur Zeit nicht mehr beliebte Mann, vom Glück sichtlich nicht begünstigt, sah sich nun plötzlich durch die Krankheit seines Meisters an die Spitze des Vicus Lusorum und, falls er wirklich das Jahresspiel zu leiten haben würde, für die Festzeit an den sichtbarsten Posten der ganzen Provinz gestellt und wäre dieser großen Aufgabe nur dann gewachsen gewesen, wenn die Mehrzahl der Glasperlenspieler oder doch die Repetentenschaft ihn durch ihr Vertrauen gestützt hätte, was jedoch bedauerlicherweise nicht geschah. So kam es denn, daß das Ludus sollemnis diesmal zu einer schweren Prüfung, beinahe zu einer Katastrophe für Waldzell wurde.
Erst am Tage vor Spielbeginn wurde amtlich bekanntgegeben, daß der Magister ernstlich erkrankt und außerstande sei, das Spiel zu leiten. Wir wissen nicht, ob diese Hintanhaltung der Mitteilung etwa vom Willen des kranken Magisters diktiert war, der vielleicht bis zum letzten Augenblick hoffte, sich wieder aufraffen und dem Spiele doch noch vorstehen zu können. Wahrscheinlich ist, daß er schon zu krank war, um solche Gedanken zu hegen, und daß sein »Schatten« den Fehler beging, Kastalien bis zur vorletzten Stunde im Ungewissen über die Lage in Waldzell zu lassen. Freilich ließe sich auch darüber noch streiten, ob dies Zögern wirklich ein Fehler war. Es geschah ohne Zweifel in guter Absicht, nämlich um das Fest nicht von vornherein zu mißkreditieren und die Verehrer des Meisters Thomas vom Besuch abzuschrecken. Und wäre alles gut gegangen, hätte zwischen der Waldzeller Spielergemeinde und Bertram das Vertrauen bestanden, so hätte – es ist sehr wohl denkbar – der »Schatten« wirklich zum Stellvertreter werden und das Fehlen des Magisters nahezu unbemerkt bleiben können. Es ist müßig, weitere Vermutungen hierüber aufzustellen; wir glaubten nur andeuten zu müssen, daß jener Bertram nicht so unbedingt ein Versager oder gar ein Unwürdiger war, wie die öffentliche Meinung Waldzells damals ihn sah. Er war weit mehr Opfer als Schuldiger.
Es vollzog sich nun wie alljährlich der Zustrom der Gäste zum großen Spiel. Viele kamen ahnungslos, andre mit Besorgnis um das Ergehen des Magister Ludi und mit unfrohen Vorgefühlen für den Verlauf des Festes. Waldzell und die nahen Siedlungen füllten sich mit Menschen, die Ordensleitung und die Erziehungsbehörde fanden sich beinahe vollzählig ein, auch aus entlegenem Teilen des Landes und dem Auslande kamen festlich gestimmte Reisende, die Gästehäuser überfüllend. Wie immer wurde die Feier am Abend vor Spielbeginn durch die Meditationsstunde eröffnet, während welcher vom Glockenzeichen an das ganze mit Menschen gefüllte Festgebiet in ein tiefes, andächtiges Schweigen versank. Der folgende Morgen brachte die erste der musikalischen Aufführungen und die Verkündigung des ersten Spielsatzes sowie die Meditation über die beiden musikalischen Themata dieses Satzes. Bertram, in der Festtracht des Glasperlenspielmeisters, zeigte ein gemessenes und beherrschtes Auftreten, nur war er sehr blaß und erschien in der Folge von Tag zu Tag mehr überanstrengt, leidend und resigniert, in den letzten Tagen glich er wirklich einem Schatten. Schon am zweiten Spieltage verbreitete sich das Gerücht, Magister Thomas« Befinden habe sich verschlechtert, und sein Leben sei in Gefahr, und am Abend dieses Tages vernahm man da und dort und überall unter den Eingeweihteren die ersten Beiträge zu der allmählich entstehenden Legende um den kranken Meister und seinen »Schatten.« Diese Legende, vom innersten Kreis des Vicus Lusorum, der Repetentenschaft ausgehend, wollte wissen, der Meister sei willens und wäre auch fähig gewesen, als Spielleiter zu amtieren, habe jedoch dem Ehrgeiz seines »Schattens« das Opfer gebracht und diesem die festliche Aufgabe überlassen. Nun aber, da Bertram seiner hohen Rolle eben doch nicht ganz gewachsen scheine und das Spiel zu einer Enttäuschung zu werden drohe, wisse der kranke Mann sich für das Spiel, für seinen »Schatten« und dessen Versagen verantwortlich und habe es auf sich genommen, an dessen Stelle selbst für den Fehler zu büßen; dies und nichts andres sei die Ursache der raschen Verschlimmerung seines Befindens und der Steigerung des Fiebers. Natürlich war dies nicht die einzige Lesart der Legende, doch war es die der Elite, und zeigte deutlich, daß die Elite, der strebsame Nachwuchs, die Situation als tragisch empfand und kein Abbiegen, Aufhellen oder Beschönigen dieser Tragik zu unterstützen gewillt war. Der Verehrung gegen den Meister hielt die Abneigung gegen seinen »Schatten« die Waage, diesem wurden Mißerfolg und Sturz gewünscht, sollte selbst der Meister mitbüßen müssen. Wieder einen Tag später konnte man erzählen hören, der Magister habe vom Krankenlager aus seinen Stellvertreter sowie zwei Senioren der Elite beschworen, Frieden zu halten und das Fest nicht zu gefährden; andern Tages wurde behauptet, er habe seinen letzten Willen diktiert und der Behörde den Mann namhaft gemacht, den er sich zum Nachfolger wünsche; es wurden auch Namen genannt. Zusammen mit den Nachrichten von dem sich stets verschlimmernden Befinden des Magisters zirkulierten diese und andere Gerüchte, und im Festsaal sowohl wie in den Gästehäusern sank die Stimmung von Tag zu Tag, wenn auch niemand sich so weit gehen ließ, auf die Fortführung zu verzichten und abzureisen. Es lag ein schwerer und finsterer Druck über der ganzen Veranstaltung, deren äußerer Ablauf sich dennoch in korrekter Form vollzog, aber von der Freude und Gehobenheit, die man bei diesem Feste kannte und erwartete, war wenig zu spüren, und als am vorletzten Spieltage der Schöpfer des Festspieles, Magister Thomas, die Augen für immer schloß, gelang es den Bemühungen der Behörde nicht, die Verbreitung der Nachricht zu unterdrücken, und merkwürdigerweise empfanden manche Teilnehmer diese Lösung des Knotens als befreiend. Die Spielschüler und namentlich die Elite, obwohl sie vor dem Ende des Ludus sollemnis weder Trauer anlegen noch den in diesen Tagen so streng vorgeschriebenen Ablauf der Stunden mit ihrem Wechsel von Vorführungen und Versenkungsübungen im geringsten unterbrechen durften, begingen den letzten Festakt und Festtag einmütig in einer Haltung und Stimmung, als wäre er eine Trauerfeier für den verehrten Toten, und ließen um den übermüdeten, schlaflosen, bleich und mit halbgeschlossenen Augen weiter amtierenden Bertram eine eisige Atmosphäre der Vereinsamung entstehen.
Josef Knecht, obwohl durch Tegularius noch in lebendiger Fühlung mit der Elite und als alter Spieler für alle diese Strömungen und Stimmungen voll empfänglich, ließ sie dennoch nicht in sich eindringen, vom vierten oder fünften Tage an verbot er seinem Freunde Fritz sogar, ihn mit Nachrichten über des Magisters Krankheit zu behelligen; er empfand und verstand zwar die tragische Beschattung des Festes wohl, er gedachte des Meisters mit tiefer Besorgnis und Trauer und des wie zum Mitsterben verurteilten »Schattens« Bertram mit wachsendem Unbehagen und Mitleid, wehrte sich aber standhaft und hart gegen alle Beeinflussungen durch echte oder legendäre Nachrichten, übte strengste Konzentration, gab sich den Übungen und dem Gange des schön gebauten Spieles willig hin und erlebte denn trotz allen Unstimmigkeiten und Verdunkelungen das Fest in ernster Gehobenheit. Dem »Schatten« Bertram blieb es erspart, als Vizemagister am Ende auch noch die Gratulanten und die Behörden wie üblich empfangen zu müssen, auch der herkömmliche Freudentag der Studierenden des Glasperlenspiels fiel diesmal dahin. Unmittelbar nach dem musikalischen Schlußakt des Festes gab die Behörde den Tod des Magisters bekannt, und es begannen im Vicus Lusorum die Trauertage, welche auch der im Gästehaus wohnende Josef Knecht mitbeging. Das Begräbnis des verdienten Mannes, der noch heute in hohem Ansehen steht, wurde mit der in Kastalien üblichen Einfachheit begangen. Bertram, sein »Schatten,« der seine schwere Rolle während des Festes mit Aufgebot seiner letzten Kräfte zu Ende gespielt hatte, begriff seine Lage. Er bat um Urlaub und wanderte ins Gebirge.
Im Spielerdorf, ja in ganz Waldzell herrschte Trauer. Vielleicht hatte niemand zum verstorbenen Magister intime, betont freundschaftliche Beziehungen gehabt, aber die Überlegenheit und Lauterkeit seines vornehmen Wesens zusammen mit seiner Klugheit und seinem zart ausgebildeten Sinn für Formen hatten ihn zu einem Regenten und Repräsentanten gemacht, wie ihn das im Grunde ganz demokratisch angelegte Kastalien nicht zu allen Zeiten hervorbrachte. Man war stolz auf ihn gewesen. Schien seine Person den Bezirken der Leidenschaft, der Liebe, der Freundschaft entrückt, so war sie ein desto geeigneterer Gegenstand für das Verehrungsbedürfnis der Heranwachsenden gewesen, und diese Würde und fürstliche Grazie, die ihm übrigens den halb zärtlich gemeinten Spottnamen »die Exzellenz« eingetragen, hatte ihm trotz harter Widerstände im Lauf der Jahre auch im hohen Rat, in den Sitzungen und gemeinsamen Arbeiten der Erziehungsbehörde eine etwas gesonderte Stellung gegeben. Die Frage der Wiederbesetzung seines hohen Amtes wurde natürlich eifrig besprochen, nirgends eifriger als in der Elite der Glasperlenspieler. Die Funktionen des Magisteramtes waren nach dem Ausscheiden und der Abreise des »Schattens,« dessen Sturz man in diesem Kreise gewollt und erreicht hatte, von der Elite selbst durch Abstimmung an drei provisorische Vertreter verteilt worden, das heißt natürlich nur die internen Funktionen im Vicus Lusorum, nicht die behördlichen im Erziehungsrat. Dem Herkommen gemäß würde dieser das Magistrat nicht länger als drei Wochen unbesetzt lassen. In Fällen, wo ein sterbender oder ausscheidender Magister einen dezidierten, konkurrenzlosen Nachfolger hinterließ, war das Amt sogar sofort, nach nur einer einzigen Vollsitzung der Behörde, neu besetzt worden. Diesmal würde es wohl länger dauern.
Während der Trauertage sprach Josef Knecht mit seinem Freunde gelegentlich über das beendete Spiel und seinen so merkwürdig verdüsterten Verlauf.
»Dieser Stellvertreter Bertram,« sagte Knecht, »hat seine Rolle nicht nur leidlich zu Ende geführt, das heißt einen wirklichen Magister bis zuletzt zu spielen versucht, sondern hat meines Erachtens weit mehr getan, er hat sich diesem Ludus sollemnis als seiner letzten und feierlichsten Amtshandlung zum Opfer gebracht. Ihr wäret hart, nein, grausam gegen ihn, ihr hättet das Fest und hättet Bertram retten können und habet es nicht getan, ich erlaube mir kein Urteil darüber, ihr werdet Gründe gehabt haben. Jetzt aber, wo dieser arme Bertram ausgeschieden ist und ihr euren Willen durchgesetzt habet, solltet ihr großmütig sein. Ihr müsset ihm, wenn er wieder erscheint, entgegenkommen und zeigen, daß ihr sein Opfer verstanden habt.«