Wir finden ihn, wie erwähnt, von seinem zweiten Amtsjahre an wieder geschichtlichen Studien zugewendet, und zwar war er außer mit der kastalischen Geschichte hauptsächlich mit der Lektüre aller der großen und kleinern Arbeiten beschäftigt, welche Pater Jakobus über den benediktinischen Orden verfaßt hatte. Mit Herrn Dubois und einem der Philologen von Keuperheim, welcher bei den Sitzungen der Behörde als Sekretär stets zugegen war, fand er auch Gelegenheit, diese historischen Interessen im Gespräch ausschwingen oder neu anregen zu lassen, was ihm stets eine willkommene Erfrischung und Freude war. In seiner täglichen Umgebung allerdings fehlte diese Gelegenheit, und wahrhaft verkörpert begegnete ihm die Unlust dieser Umgebung gegen alle Beschäftigung mit der Historie in der Person seines Freundes Fritz. Wir fanden unter andrem ein Notizblatt mit Aufzeichnungen über eine solche Unterhaltung, in welcher Tegularius mit Leidenschaft ausführte, daß die Geschichte für Kastalier ein des Studiums durchaus unwürdiger Gegenstand sei. Gewiß könne man auf geistreiche und amüsante, nötigenfalls auch auf hochpathetische Art Geschichtsdeutung, Geschichtsphilosophie treiben, es sei das ein Spaß wie andre Philosophien, er habe nichts dagegen, wenn sich jemand daran erlustige. Aber das Ding selber, das Objekt dieses Spaßes, die Geschichte nämlich, sei etwas so Häßliches, zugleich Banales und Teuflisches, zugleich Scheußliches und Langweiliges, daß er nicht begreife, wie man sich mit ihr befassen könne. Ihr Inhalt sei ja lediglich der menschliche Egoismus und der ewig gleiche, ewig sich selbst überschätzende und sich selbst glorifizierende Kampf um die Macht, um die materielle, brutale, viehische Macht, um ein Ding also, das in der Vorstellungswelt eines Kastaliers nicht vorkomme oder doch nicht den geringsten Wert habe. Weltgeschichte sei der endlose, geist- und spannungslose Bericht über die Vergewaltigung der Schwächern durch die Stärkern, und die eigentliche und wirkliche Geschichte, die zeitlose Geschichte des Geistes, mit dieser weltalten, dummen Prügelei der Ehrgeizigen um die Macht und der Streber um den Platz an der Sonne in Verbindung zu bringen oder gar aus ihr erklären zu wollen, sei eigentlich schon ein Verrat am Geist und erinnere ihn an eine im neunzehnten oder zwanzigsten Jahrhundert weitverbreitete Sekte, von der ihm einmal erzählt worden sei und welche allen Ernstes des Glaubens gewesen sei, die den Göttern dargebrachten Opfer der alten Völker samt diesen Göttern, ihren Tempeln und Mythen seien gleich allen andern hübschen Dingen die Folgen eines berechenbaren Zuwenig oder Zuviel an Essen und Arbeit, Resultate einer aus Arbeitslohn und Brotpreis zu errechnenden Spannung, die Künste und Religionen seien Scheinfassaden, sogenannte Ideologien über einer lediglich mit Hunger und mit Fressen beschäftigten Menschheit gewesen. Knecht, den die Unterhaltung belustigte, fragte obenhin, ob denn die Geschichte des Geistes, der Kultur, der Künste nicht auch Geschichte und mit der übrigen Geschichte immerhin in einigem Zusammenhang sei. Nein, rief sein Freund heftig, eben dies leugne er. Weltgeschichte sei ein Wettlauf in der Zeit, ein Rennen um Gewinn, um Macht, um Schätze, es komme dabei stets darauf an, wer Kraft, Glück oder Gemeinheit genug habe, den Moment nicht zu verpassen. Geistestat, Kulturtat, Kunsttat dagegen sei genau das Gegenteil, es sei jedesmal ein Ausbruch aus der Zeitknechtschaft, ein Hinüberschlüpfen des Menschen aus dem Dreck seiner Triebe und seiner Trägheit auf eine andere Ebene, ins Zeitlose, Zeitbefreite, Göttliche, ganz und gar Ungeschichtliche und Widergeschichtliche. Knecht hörte ihm mit Vergnügen zu und reizte ihn noch zu weiteren, keineswegs witzlosen Entladungen, dann schloß er das Gespräch gelassen mit der Bemerkung: »Alle Achtung vor deiner Liebe zum Geist und seinen Taten! Nur ist die geistige Schöpfung etwas, woran wir nicht so eigentlich teilnehmen können, wie mancher glaubt. Ein Gespräch von Plato oder ein Chorsatz von Heinrich Isaac und alles, was wir Geistestat oder Kunstwerk oder objektivierten Geist nennen, sind Endergebnisse, letzte Resultate eines Kampfes um Läuterung und Befreiung, sie sind meinetwegen, wie du es nennst, Ausbrüche aus der Zeit ins Zeitlose, und in den meisten Fällen sind jene Werke die vollkommensten, welche von dem Kampf und Ringen, das ihnen voranging, nichts mehr ahnen lassen. Es ist ein großes Glück, daß wir diese Werke haben, und wir Kastalier leben ja beinahe ganz von ihnen, wir sind ja nicht anders mehr schöpferisch als im Reproduzieren, wir leben dauernd in jener jenseitigen Sphäre der Zeit- und Kampflosigkeit, welche eben aus jenen Werken besteht und uns ohne sie nicht bekannt wäre. Und wir gehen im Vergeistigen oder, wenn du willst, im Abstrahieren noch immer weiter; wir legen in unsrem Glasperlenspiel jene Werke der Weisen und Künstler in ihre Teile auseinander, ziehen Stilregeln, Formschemata, sublimierte Deutungen aus ihnen und operieren mit diesen Abstraktionen, als wären sie Bausteine. Nun, dies alles ist sehr schön, das bestreitet dir niemand. Aber nicht jeder kann sein Leben lang ausschließlich Abstraktionen atmen, essen und trinken. Vor dem, was ein Waldzeller Repetent als seines Interesses würdig empfindet, hat die Historie den einen Vorzug: sie hat es mit der Wirklichkeit zu tun. Abstraktionen sind entzückend, aber ich bin dafür, daß man auch Luft atmen und Brot essen muß.«
Je und je ermöglichte Knecht einen kurzen Besuch bei dem greisen Alt-Musikmeister. Der ehrwürdige Alte, dessen Kräfte jetzt sichtlich zur Neige gingen und der sich des Gebrauchs der Rede längst völlig entwöhnt hatte, verharrte in seinem Zustande heiterer Sammlung bis zuletzt. Er war nicht krank, und sein Tod war nicht eigentlich ein Sterben, es war eine fortschreitende Entstofflichung, ein Schwinden der leiblichen Substanz und der leiblichen Funktionen, während das Leben sich immer ausschließlicher im Blick der Augen und dem leisen Strahlen des einsinkenden Greisengesichtes sammelte. Den meisten Bewohnern von Monteport war dies eine wohlbekannte und mit Ehrfurcht hingenommene Erscheinung, aber nur wenigen, wie Knecht, Ferromonte und dem jungen Petrus, war eine Art von Teilnahme an diesem Abendglanz und Ausleuchten eines reinen und selbstlosen Lebens vergönnt. Diesen wenigen, wenn sie vorbereitet und gesammelt den kleinen Raum betraten, darin der Altmeister in seinem Lehnstuhle saß, gelang der Eintritt in diesen sanften Glanz des Entwerdens, das Mitfühlen der wortlos gewordenen Vollendung, wie im Bereiche unsichtbarer Strahlen weilten sie beglückende Augenblicke in der kristallnen Sphäre dieser Seele, unirdischer Musik teilhaftig, und kehrten dann mit geklärten und gestärkten Herzen in ihren Tag zurück wie von einem hohen Berggipfel. Es kam der Tag, an welchem Knecht die Nachricht von seinem Tode erhielt, er reiste eilig hin und fand den sanft Entschlafenen auf seinem Lager liegend, das kleine Gesicht hingeschwunden und eingesunken zu einer stillen Rune und Arabeske, einer magischen Figur, nicht mehr zu lesen und doch wie von Lächeln und vollendetem Glück erzählend. Am Grabe hat nach dem Musikmeister und Ferromonte auch Knecht gesprochen, und er sprach nicht von dem erleuchteten Weisen der Musik, nicht von dem großen Lehrer, nicht von dem gütig klugen ältesten Mitglied der obersten Behörde, er sprach nur von der Gnade seines Alters und Todes, von der unsterblichen Schönheit des Geistes, die in ihm sich den Genossen seiner letzten Tage offenbart hatte.
Wir wissen aus mehreren Äußerungen, daß es sein Wunsch war, das Leben des Alt-Magisters zu beschreiben, allein zu einer solchen Arbeit ließ das Amt ihm keine Muße. Er hatte gelernt, seinen Wünschen wenig Raum mehr zu gönnen. Einem seiner Repetenten sagte er einmaclass="underline" »Es ist schade, daß ihr Studenten den Überfluß und Luxus nicht so recht kennet, in dem ihr lebet. Aber es ist auch mir so gegangen, als ich noch Student war. Man studiert und arbeitet, man geht nicht müßig, man glaubt sich für fleißig halten zu dürfen – aber was alles man tun, was alles man aus dieser Freiheit machen könnte, empfindet man kaum. Dann kommt plötzlich ein Ruf der Behörde, man wird gebraucht, man bekommt einen Lehrauftrag, eine Mission, ein Amt, rückt von da in ein höheres hinauf und findet sich unversehens in einem Netz von Aufgaben und Pflichten gefangen, das immer enger und dichter wird, je mehr man sich darin rührt. Es sind lauter an sich kleine Aufgaben, aber jede will zu ihrer Stunde besorgt sein, und der Amtstag hat viel mehr Aufgaben als Stunden. Das ist gut so, es soll nicht anders sein. Aber wenn man zwischen Lehrsaal, Archiv, Kanzlei, Sprechzimmer, Sitzungen, Amtsreisen einmal einen Augenblick jener Freiheit gedenkt, die man besaß und verloren hat, der Freiheit zu unbefohlenen Arbeiten, unbeschränkten weiträumigen Studien, dann kann man sich einen Augenblick sehr nach ihr sehnen und sich einbilden: wenn man sie noch einmal wieder besäße, würde man ihre Freuden und Möglichkeiten bis zum Grunde genießen.«