Dem Vorsteher der Ordensleitung in Hirsland war Knecht bisher nicht nähergetreten, als die amtlichen Funktionen es erforderten. Er sah ihn wohl nur bei denjenigen Vollsitzungen der Erziehungsbehörde, die in Hirsland stattfanden, und auch da nahm der Vorsteher meistens nur die mehr formelhaften und dekorativen Amtshandlungen vor, den Empfang und die Verabschiedung der Kollegen, während die Hauptarbeit der Sitzungsleitung dem Sprecher zufiel. Der bisherige Vorsteher, zur Zeit von Knechts Amtsantritt schon ein Mann in ehrwürdigem Alter, wurde vom Magister Ludi zwar sehr verehrt, gab ihm aber niemals Anlaß, die Distanz zu verringern, er war für ihn schon nahezu kein Mensch, keine Person mehr, sondern schwebte, ein Hoherpriester, ein Symbol der Würde und Sammlung, als schweigsame Spitze und Bekrönung über dem Bau der Behörde und der ganzen Hierarchie. Dieser ehrwürdige Mann war gestorben, und an seine Stelle hatte der Orden den neuen Vorsteher Alexander gewählt. Alexander war eben jener Meditationsmeister, den die Ordensleitung vor Jahren unserem Josef Knecht für die erste Zeit seiner Amtsführung beigegeben hatte, und seit damals hatte der Magister diesen vorbildlichen Ordensmann bewundert und dankbar geliebt, aber auch dieser hatte den Glasperlenspielmeister während jener Zeit, da dieser täglich Gegenstand seiner Sorge und gewissermaßen sein Beichtkind gewesen war, nahe genug in seinem persönlichen Wesen und Gehaben beobachten und kennenlernen können, um ihn zu lieben. Die bis dahin latent gebliebene Freundschaft wurde beiden bewußt und fand ihre Gestalt von dem Augenblicke an, da Alexander Knechts Kollege und Präsident der Behörde wurde, denn nun sahen sie sich des öftern wieder und hatten gemeinsame Arbeit zu tun. Freilich fehlte es dieser Freundschaft an Alltag, wie es ihr auch an gemeinsamen Jugenderlebnissen fehlte, es war eine kollegiale Sympathie unter Hochgestellten, und ihre Äußerungen beschränkten sich auf ein kleines Mehr an Wärme bei Begrüßung und Abschied, ein lückenloseres und rascheres gegenseitiges Verstehen, etwa noch auf ein minutenlanges Plaudern in Sitzungspausen.
War auch verfassungsmäßig der Vorsteher der Ordensleitung, auch Ordensmeister genannt, seinen Kollegen, den Magistern, nicht übergeordnet, so war er es doch durch die Tradition, nach welcher der Ordensmeister den Sitzungen der obersten Behörde präsidierte, und je meditativer und mönchischer der Orden in den letzten Jahrzehnten geworden war, desto mehr war seine Autorität gewachsen, freilich nur innerhalb der Hierarchie und Provinz, nicht außerhalb. Es waren in der Erziehungsbehörde mehr und mehr der Ordensvorsteher und der Glasperlenspielmeister die beiden eigentlichen Exponenten und Repräsentanten des kastalischen Geistes geworden; gegenüber den uralten, aus vorkastalischen Epochen überkommenen Disziplinen, wie Grammatik, Astronomie, Mathematik oder Musik, waren meditative Geisteszucht und Glasperlenspiel ja auch die für Kastalien eigentlich charakteristischen Güter. So war es nicht ohne Bedeutung, wenn ihre beiden derzeitigen Vertreter und Leiter in einem freundschaftlichen Verhältnis zueinander standen, es war für beide eine Bestätigung und Erhöhung ihrer Würde, eine Zugabe an Wärme und Zufriedenheit im Leben, ein Ansporn mehr zur Erfüllung ihrer Aufgabe; in ihren Personen die beiden innersten, die sakralen Güter und Kräfte der kastalischen Welt darzustellen und vorzuleben. Für Knecht also bedeutete das eine Bindung mehr, ein Gegengewicht mehr gegen die in ihm großgewordene Tendenz zum Verzicht auf dies alles und zum Durchbruch in eine andre, neue Lebenssphäre. Dennoch entwickelte diese Tendenz sich unaufhaltsam weiter. Seit sie ihm selbst völlig bewußt geworden war, dies mag etwa im sechsten oder siebenten Jahr seines Magistrates gewesen sein, hatte sie sich erkräftigt und war von ihm, dem Mann des »Erwachens,« ohne Scheu in sein bewußtes Leben und Denken aufgenommen worden. Seit jener Zeit etwa, glauben wir sagen zu dürfen, war der Gedanke an den kommenden Abschied von seinem Amte und von der Provinz ihm vertraut – manchmal in der Art, wie einem Gefangenen der Glaube an Befreiung es ist, manchmal auch so, wie einem Schwerkranken das Wissen um den Tod es sein mag. In jener ersten Aussprache mit dem wiedergekehrten Jugendkameraden Plinio hatte er ihm zum erstenmal Ausdruck in Worten gegeben, möglicherweise nur um den schweigsam und verschlossen gewordenen Freund zu gewinnen und aufzuschließen, vielleicht aber auch, um mit dieser ersten Mitteilung an einen andern seinem neuen Erwachen, seiner neuen Lebensstimmung einen Mitwisser, eine erste Wendung nach außen, einen ersten Anstoß zur Verwirklichung zu geben. In den weiteren Gesprächen mit Designori nahm Knechts Wunsch, irgendeinmal seine jetzige Lebensform abzulegen und den Sprung in eine neue zu wagen, schon den Rang eines Entschlusses ein. Inzwischen baute er die Freundschaft mit Plinio, der nun nicht mehr nur durch Bewunderung, sondern ebensosehr durch die Dankbarkeit des Genesenden und Geheilten an ihn gebunden war, sorgfältig aus und besaß in ihr eine Brücke zur Außenwelt und ihrem mit Rätseln beladenen Leben.
Daß der Magister seinem Freunde Tegularius erst sehr spät Einblick in sein Geheimnis und seinen Plan eines Ausbruches gegönnt hat, darf uns nicht wundern. So wohlwollend und fördernd er jede seiner Freundschaften gestaltet hat, so selbständig und diplomatisch hat er sie doch zu überblicken und zu leiten gewußt. Nun war mit dem Wiedereintritt von Plinio in sein Leben für Fritz ein Nebenbuhler auf den Plan getreten, ein neu-alter Freund mit Ansprüchen an Knechts Interesse und Herz, und dieser konnte wohl kaum darüber erstaunt sein, daß Tegularius darauf zunächst mit heftiger Eifersucht reagierte; ja für eine Weile, bis er nämlich Designori vollends gewonnen und richtig eingeordnet hatte, mag dem Magister die schmollende Zurückhaltung des andern eher willkommen gewesen sein. Auf die Dauer freilich war eine andere Erwägung wichtiger. Wie war sein Wunsch, sich Waldzell und der Magisterwürde sachte zu entziehen, einer Natur wie Tegularius mundgerecht und verdaulich zu machen? Wenn Knecht einmal Waldzell verließ, so ging er diesem Freunde für immer verloren; ihn auf den schmalen und gefährlichen Weg, der vor ihm lag, mitzunehmen, daran war nicht zu denken, selbst wenn jener wider alles Erwarten die Lust und den Wagemut dazu aufbringen sollte. Knecht wartete, überlegte und zögerte sehr lange, ehe er ihn zum Mitwisser seiner Absichten machte. Schließlich tat er es doch, als sein Entschluß zum Aufbruch längst fest geworden war. Es wäre ihm allzusehr gegen die Natur gewesen, den Freund bis zuletzt blind zu lassen und gewissermaßen hinter seinem Rücken Pläne zu betreiben und Schritte vorzubereiten, deren Folgen ja auch jener würde mitzutragen haben. Womöglich wollte er ihn, ebenso wie Plinio, nicht nur zum Mitwisser, sondern zum wirklichen oder doch eingebildeten Mithelfer und Mittäter machen, da Aktivität jede Lage leichter nehmen hilft.
Knechts Gedanken über einen drohenden Niedergang des kastalischen Wesens waren seinem Freunde natürlich längst bekannt, soweit eben er sie mitzuteilen gewillt und jener sie aufzunehmen bereit war. An sie knüpfte der Magister an, als er entschlossen war, sich dem andern zu eröffnen. Wider sein Erwarten und zu seiner großen Erleichterung nahm Fritz das ihm vertraulich Mitgeteilte nicht tragisch, vielmehr schien ihn die Vorstellung, daß ein Magister seine Würde der Behörde wieder hinwerfe, den Staub Kastaliens von den Füßen schüttle und sich ein Leben nach seinem eigenen Geschmacke wähle, angenehm anzuregen, ja zu belustigen. Als Einzelgänger und Feind aller Normierung war Tegularius stets auf selten des einzelnen gegen die Behörde gewesen; die offizielle Macht auf geistreiche Art zu bekämpfen, zu necken, zu überlisten, dazu war er stets zu haben. Damit war Knecht der Weg gewiesen, und aufatmend, mit einem Innern Lachen, ging er alsbald auf des Freundes Reaktion ein. Er ließ ihn bei der Auffassung, es handle sich um eine Art von Handstreich gegen die Behörde und den Beamtenzopf, und wies ihm bei diesem Streich die Rolle eines Mitwissers, Mitarbeiters und Mitverschworenen zu. Es sollte ein Gesuch des Magisters an die Behörde ausgearbeitet werden, eine Aufstellung und Erläuterung all der Gründe, welche ihm den Rücktritt von seinem Amte nahelegten, und die Vorbereitung und Ausarbeitung dieses Gesuches sollte hauptsächlich Tegularius« Aufgabe sein. Vor allem sollte er sich Knechts geschichtliche Auffassung vom Entstehen, Großwerden und jetzigen Stand Kastaliens zu eigen machen, sodann historisches Material sammeln und Knechts Wünsche und Vorschläge daraus belegen. Daß er damit auf ein bisher von ihm abgelehntes und verachtetes Gebiet eingehen mußte, auf die Beschäftigung mit der Historie, schien ihn nicht zu stören, und Knecht beeilte sich, ihm dazu die nötigen Anweisungen zu geben. Und so vertiefte sich denn Tegularius mit dem Eifer und der Zähigkeit, die er für abseitige und einsame Unternehmungen aufzubringen vermochte, in seine neue Aufgabe. Ihm, dem hartnäckigen Individualisten, erwuchs ein merkwürdig grimmiges Vergnügen aus diesen Studien, die ihn in den Stand setzen sollten, den Bonzen und der Hierarchie ihre Mängel und Fragwürdigkeiten nachzuweisen oder doch sie zu reizen.
An diesem Vergnügen hatte Josef Knecht ebensowenig teil, wie er an einen Erfolg der Bemühungen seines Freundes glaubte. Er war entschlossen, sich aus den Fesseln seiner jetzigen Lage zu lösen und für Aufgaben, die er auf sich warten fühlte, frei zu machen, aber es war ihm klar, daß er weder die Behörde durch Vernunftgründe überwinden noch einen Teil des hier zu Leistenden auf Tegularius abladen könne. Diesen beschäftigt und abgelenkt zu wissen für die Zeit, da er noch in seiner Nähe leben würde, war ihm jedoch sehr willkommen. Nachdem er beim nächsten Zusammenkommen Plinio Designori davon erzählt hatte, fügte er hinzu: »Freund Tegularius ist nun beschäftigt und für das entschädigt, was er durch deine Wiederkehr meint verloren zu haben. Seine Eifersucht ist schon beinahe geheilt, und die Arbeit an seiner Aktion für mich und gegen meine Kollegen bekommt ihm gut, er ist nahezu glücklich. Aber glaube nicht, Plinio, daß ich mir von seiner Aktion irgend etwas verspreche, außer eben dem Guten, das sie für ihn selber hat. Daß unsre oberste Behörde dem geplanten Gesuch Folge geben wird, ist völlig unwahrscheinlich, ja unmöglich, höchstens wird sie mir mit einer sanft rügenden Vermahnung antworten. Was zwischen meinen Absichten und deren Verwirklichung steht, ist das Grundgesetz unsrer Hierarchie selbst, und eine Behörde, die ihren Glasperlenspielmeister auf ein noch so überzeugend begründetes Gesuch hin entläßt und ihm eine Tätigkeit außerhalb Kastaliens zuweist, würde mir auch gar nicht gefallen. Außerdem ist Meister Alexander von der Ordensleitung da, ein Mann, der durch nichts zu beugen ist. Nein, diesen Kampf werde ich schon allein ausfechten müssen. Aber lassen wir also erst Tegularius seinen Scharfsinn üben! Wir verlieren dadurch nichts als ein wenig Zeit, und die brauche ich ohnehin, um hier alles so geordnet zurückzulassen, daß mein Abgang ohne Schaden für Waldzell erfolgen kann. Du aber mußt mir inzwischen drüben bei euch eine Unterkunft und Arbeitsmöglichkeit schaffen, sei es noch so bescheiden, im Notfall bin ich mit einer Stelle etwa als Musiklehrer zufrieden, es braucht nur ein Anfang, ein Sprungbrett zu sein.«