Werfen wir einen Blick auf unsre eigene Geschichte, auf die Zeiten der Entstehung der heutigen pädagogischen Provinzen, in unserem Lande wie in so manchem anderen, auf die Entstehung der verschiedenen Orden und Hierarchien, deren eine unser Orden ist, so sehen wir alsbald, daß unsre Hierarchie und Heimat, unser liebes Kastalien, keineswegs von Leuten gegründet wurde, welche sich zur Weltgeschichte so resigniert und so hochmütig verhielten wie wir. Unsre Vorgänger und Stifter begannen ihr Werk am Ende des kriegerischen Zeitalters in einer zerstörten Welt. Wir sind gewohnt, die Weltzustände jener Zeit, welche etwa mit dem ersten sogenannten Weltkriege begann, einseitig daraus zu erklären, daß eben damals der Geist nichts gegolten habe und für die gewaltigen Machthaber nur ein gelegentlich benutztes, untergeordnetes Kampfmittel gewesen sei, worin wir eine Folge der »feuilletonistischen« Korruption sehen. Nun, es ist leicht, die Ungeistigkeit und Brutalität festzustellen, mit welcher jene Machtkämpfe geführt wurden. Wenn ich sie ungeistig nenne, so tue ich es nicht, weil ich ihre gewaltigen Leistungen an Intelligenz und Methodik nicht sähe, sondern weil wir gewohnt sind und darauf halten, den Geist in erster Linie als Willen zur Wahrheit zu betrachten, und was an Geist in jenen Kämpfen verbraucht wurde, scheint allerdings mit dem Willen zur Wahrheit nichts gemein zu haben. Es war das Unglück jener Zeit, daß einer aus der ungeheuer raschen Vermehrung der Menschenzahl entstandenen Unruhe und Dynamik keine einigermaßen feste moralische Ordnung entgegenstand; was an Resten einer solchen übrig war, wurde durch die aktuellen Schlagworte verdrängt, und wir stoßen im Verlauf jener Kämpfe auf wunderliche und schreckliche Tatsachen. Ganz ähnlich wie bei der Kirchenspaltung durch Luther, vier Jahrhunderte früher, war plötzlich die ganze Welt von ungeheurer Unruhe erfüllt, überall bildeten sich Kampffronten, überall war plötzlich bittre Todfeindschaft zwischen jung und alt, zwischen Vaterland und Menschheit, zwischen Rot und Weiß, und wir Heutigen vermögen die Macht und innere Dynamik jenes »Rot« und »Weiß,« vermögen die eigentlichen Inhalte und Bedeutungen all jener Devisen und Kampfrufe überhaupt nicht mehr zu rekonstruieren, geschweige denn zu begreifen und mitzufühlen; ähnlich wie in Luthers Zeit sehen wir in ganz Europa, ja der halben Erde Gläubige und Ketzer, Junge und Alte, Verfechter des Gestrigen und Verfechter des Morgigen begeistert oder verzweifelt aufeinander loshauen, oft liefen die Fronten quer durch die Landkarten, Völker und Familien, und wir dürfen nicht daran zweifeln, daß für die Mehrzahl der Kämpfenden selbst, oder doch ihrer Führer, dies alles höchst sinnvoll war, so wie wir auch vielen der Anführer und Wortführer in jenen Kämpfen eine gewisse robuste Gutgläubigkeit, einen gewissen Idealismus, wie man es damals nannte, nicht absprechen dürfen. Es wurde überall gekämpft, getötet und zerstört, und überall auf beiden Seiten mit dem Glauben, man kämpfe für Gott gegen den Teufel.
Bei uns ist jene wilde Zeit hoher Begeisterungen, wilden Hasses und ganz unsäglicher Leiden in eine Art von Vergessenheit gesunken, die man kaum begreift, weil sie doch so eng mit der Entstehung all unsrer Einrichtungen zusammenhängt und deren Voraussetzung und Ursache ist. Ein Satiriker könnte diese Vergessenheit vergleichen mit jener Vergeßlichkeit, welche geadelte und arrivierte Abenteurer für ihre Geburt und ihre Eltern haben. Wir wollen jene kriegerische Epoche noch ein wenig im Auge behalten. Ich habe manche ihrer Dokumente gelesen und mich dabei weniger für die unterworfenen Völker und zerstörten Städte interessiert als für das Verhalten der Geistigen in jener Zeit. Sie hatten es schwer, und die meisten haben nicht standgehalten. Es gab Märtyrer, sowohl unter den Gelehrten wie unter den Religiösen, und es ist ihr Martyrium und Vorbild selbst in jener an Greuel gewöhnten Zeit nicht ohne Wirkung geblieben. Immerhin – die meisten Vertreter des Geistes ertrugen den Druck jener Gewaltepoche nicht. Die einen ergaben sich und stellten ihre Gaben, Kenntnisse und Methoden den Machthabern zur Verfügung; bekannt ist der Ausspruch eines damaligen Hochschulprofessors in der Republik der Massageten: »Was zweimal zwei ist, hat nicht die Fakultät zu bestimmen, sondern unser Herr General.« Andre wieder machten Opposition, solange sie dies auf einem halbwegs geschützten Räume tun konnten, und erließen Proteste. Ein weltberühmter Autor soll damals – wir lesen es bei Ziegenhalß – in einem einzigen Jahre über zweihundert solche Proteste, Mahnungen, Appelle an die Vernunft usw. unterzeichnet haben, mehr vielleicht, als er wirklich gelesen hatte. Die meisten aber lernten das Schweigen, sie lernten auch das Hungern und Frieren, auch das Betteln und das Sichverbergen vor der Polizei, sie starben vorzeitig, und wer gestorben war, wurde von den Überlebenden darum beneidet. Unzählige haben Hand an sich gelegt. Es war wirklich kein Vergnügen und keine Ehre mehr, ein Gelehrter oder Literat zu sein: wer sich in den Dienst der Machthaber und der Schlagworte stellte, der hatte zwar Amt und Brot, aber auch die Verachtung der Besten unter seinen Kollegen und doch wohl meistens ein recht schlechtes. Gewissen; wer diesen Dienst verweigerte, mußte hungern, mußte vogelfrei leben und im Elend oder Exil sterben. Es wurde da eine grausame, eine unerhört harte Auslese veranstaltet. Nicht nur die Forschung, soweit sie nicht Macht- und Kriegszwecken dienstbar war, kam rasch in Verfall, sondern auch der Schulbetrieb. Vor allem die Weltgeschichte, von jeder der jeweils führenden Nationen ausschließlich auf sich selbst bezogen, wurde unendlich vereinfacht und umgedichtet, Geschichtsphilosophie und Feuilleton herrschten bis in die Schulen hinein.
Genug der Einzelheiten. Es waren heftige und wilde Zeiten, chaotische und babylonische Zeiten, in welchen Völker und Parteien, Alt und Jung, Rot und Weiß einander nicht mehr verstanden. Das Ende davon war, nach genügender Ausblutung und Verelendung, die immer mächtigere Sehnsucht aller nach Besinnung, nach Wiederfindung einer gemeinsamen Sprache, nach Ordnung, nach Sitte, nach gültigen Maßen, nach einem Alphabet und Einmaleins, das nicht mehr von Machtinteressen diktiert und jeden Augenblick abgeändert würde. Es entstand ein ungeheures Bedürfnis nach Wahrheit und Recht, nach Vernunft, nach Überwindung des Chaos. Dieses Vakuum am Ende einer gewalttätigen und ganz nach außen gerichteten Epoche, diese unsäglich dringend und flehentlich gewordene Sehnsucht aller nach einem Neubeginn und einer Ordnung ist es gewesen, der wir unser Kastalien und unser Dasein verdanken. Die winzig kleine, tapfere, halbverhungerte, aber unbeugsam gebliebene Schar der wahrhaft Geistigen begann sich ihrer Möglichkeiten bewußt zu werden, begann in asketisch-heroischer Selbstzucht sich eine Ordnung und Konstitution zu geben, begann überall in kleinen und kleinsten Gruppen wieder zu arbeiten, aufzuräumen mit den Schlagworten, und ganz von unten auf wieder eine Geistigkeit, einen Unterricht, eine Forschung, eine Bildung aufzubauen. Der Bau ist gelungen, er ist aus seinen ärmlich-heldischen Anfängen langsam zu einem Prachtbau gewachsen, hat in einer Reihe von Generationen den Orden, die Erziehungsbehörde, die Eliteschulen, die Archive und Sammlungen, die Fachschulen und Seminare, das Glasperlenspiel geschaffen, und wir sind es, die heute als Erben und Nutznießer in dem beinahe allzu prachtvollen Gebäude wohnen. Und, es sei nochmals gesagt, wir wohnen darin als ziemlich ahnungslose und ziemlich bequem gewordene Gäste, wir wollen nichts mehr wissen von den ungeheuren Menschenopfern, über welchen unsre Grundmauern errichtet sind, nichts von den leidvollen Erfahrungen, deren Erben wir sind, und nichts von der Weltgeschichte, welche unseren Bau errichtet oder geduldet hat, welche uns trägt und duldet und vielleicht noch manche Kastalier und Magister nach uns Heutigen, welche aber einmal unsern Bau wieder stürzen und verschlingen wird, wie sie alles wieder stürzt und verschlingt, was sie hat wachsen lassen.
Ich kehre aus der Historie zurück, und das Ergebnis, die Anwendung auf heute und auf uns ist diese: unser System und Orden hat den Höhepunkt der Blüte und des Glückes, welche das rätselhafte Spiel des Weltgeschehens zuweilen dem Schönen und Wünschenswerten gestattet, schon überschritten. Wir sind im Niedergang, der sich vielleicht noch sehr lange hinziehen kann, aber in jedem Falle kann uns nichts Höheres, Schöneres und Wünschenswerteres mehr zufallen, als was wir schon besessen haben, der Weg führt abwärts; wir sind geschichtlich, glaube ich, reif zum Abbau, und er wird unzweifelhaft erfolgen, nicht heut und morgen, aber übermorgen. Ich schließe dies nicht etwa nur aus einer allzu moralischen Beurteilung unserer Leistungen und Fähigkeiten, ich schließe es noch weit mehr aus den Bewegungen, die ich in der Außenwelt sich vorbereiten sehe. Es nähern sich kritische Zeiten, überall spürt man die Vorzeichen, die Welt will wieder einmal ihren Schwerpunkt verlegen. Machtverschiebungen bereiten sich vor, sie werden nicht ohne Krieg und Gewalt sich vollziehen, eine Bedrohung des Friedens nicht nur, sondern auch des Lebens und der Freiheit droht vom fernen Osten her. Mag unser Land und seine Politik sich neutral halten, mag unser ganzes Volk einstimmig (was es jedoch nicht tut) beim Bisherigen verharren und uns und den kastalischen Idealen treu bleiben wollen, es wird vergeblich sein. Schon jetzt sprechen manche unsrer Parlamentarier gelegentlich recht deutlich davon, daß Kastalien ein etwas teurer Luxus für unser Land sei. Sobald es zu ernstlichen kriegerischen Rüstungen, Rüstungen zur Abwehr nur, genötigt sein wird, und das kann bald geschehen, wird es zu großen Sparmaßnahmen kommen, und trotz aller Wohlgesinntheit der Regierung für uns wird ein großer Teil davon uns treffen. Wir sind stolz darauf, daß unser Orden und die Stetigkeit der geistigen Kultur, die er gewährleistet, vom Lande verhältnismäßig bescheidene Opfer verlangen. Im Vergleich mit andern Zeitaltern, namentlich der feuilletonistischen Frühzeit mit ihren üppig dotierten Hochschulen, ihren zahllosen Geheimräten und luxuriösen Instituten sind diese Opfer in der Tat nicht groß, und verschwindend klein sind sie verglichen mit denen, welche im kriegerischen Jahrhundert der Krieg und die Rüstung verschlang. Aber eben diese Rüstung wird vielleicht in Bälde wieder oberstes Gebot sein, im Parlament werden die Generäle wieder dominieren, und wenn das Volk vor die Wahl gestellt wird, Kastalien zu opfern oder sich der Gefahr von Krieg und Untergang auszusetzen, so wissen wir, wie es stimmen wird. Es wird alsdann auch ohne Zweifel sofort eine kriegerische Ideologie in Schwung kommen und namentlich die Jugend ergreifen, eine Schlagwort-Weltanschauung, nach welcher Gelehrte und Gelehrtentum, Latein und Mathematik, Bildung und Geistespflege nur soweit als lebensberechtigt gelten, als sie kriegerischen Zwecken zu dienen vermögen.
Die Woge ist schon unterwegs, einmal wird sie uns wegspülen. Vielleicht wird das gut und notwendig sein. Vorerst aber steht uns, sehr zu verehrende Kollegen, nach dem Maß unserer Einsicht in das Geschehen, nach dem Maß unseres Erwachtseins und unsrer Tapferkeit jene beschränkte Freiheit des Entschließens und Handelns zu, welche dem Menschen gegönnt ist und welche die Weltgeschichte zur Menschengeschichte macht. Wir können, wenn wir wollen, die Augen schließen, denn die Gefahr ist noch einigermaßen fern; vermutlich werden wir, die wir heute Magister sind, alle noch m Ruhe zu Ende amten und uns in Ruhe zum Sterben legen können, ehe die Gefahr nahe kommt und allen sichtbar wird. Für mich jedoch, und wohl nicht für mich allein, würde diese Ruhe nicht die des guten Gewissens sein. Ich möchte nicht in Ruhe weiter mein Amt verwalten und Glasperlenspiele spielen, zufrieden damit, daß das Kommende ja wohl mich nicht mehr am Leben treffen werde. Nein, sondern mir scheint es notwendig, mich zu erinnern, daß auch wir Unpolitischen der Weltgeschichte angehören und sie machen helfen. Darum sagte ich am Eingang meines Schreibens, daß meine Amtstüchtigkeit geschmälert oder doch bedroht sei, denn ich kann nicht hindern, daß ein großer Teil meiner Gedanken und Sorgen durch die zukünftige Gefahr in Anspruch genommen ist. Ich versage es zwar meiner Phantasie, mit den Formen zu spielen, welche das Unheil für uns und mich etwa annehmen könnte. Aber ich kann mich der Frage nicht verschließen: was haben wir und was habe ich zu tun, um der Gefahr zu begegnen? Darüber sei mir noch ein Wort erlaubt.