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Damit wäre Eure Bitte um Antwort auf Euer Schreiben erfüllt. Wir konnten nicht die Antwort geben, die Ihr möget erhofft haben. Doch möchten wir auch unsre Anerkennung für den anregenden und mahnenden Wert Eures Dokumentes nicht verschweigen. Wir rechnen darauf, uns über dessen Inhalt noch mündlich mit Euch zu unterhalten, und zwar bald, denn wenn auch die Ordensleitung sich auf Euch verlassen zu können glaubt, ist ihr dennoch jener Punkt Eures Schriftstückes, an dem Ihr von einer Verminderung oder Gefährdung Eurer Eignung zur ferneren Amtsführung sprechet, ein Grund zur Besorgnis.

Knecht las das Schreiben ohne besondere Erwartungen, aber mit größter Aufmerksamkeit. Daß man bei der Behörde »Grund zur Besorgnis« habe, hatte er sich wohl denken können, und außerdem glaubte er es aus einem bestimmten Anzeichen schließen zu müssen. Es war neulich im Spielerdorf ein Gast aus Hirsland erschienen mit regulärem Ausweis und einer Empfehlung von der Ordensleitung, er hatte um Gastrecht für einige Tage gebeten, angeblich zu Arbeiten in Archiv und Bibliothek, hatte auch darum ersucht, gastweise einige Vorlesungen Knechts mithören zu dürfen, war still und aufmerksam, ein schon älterer Mann, in fast allen Abteilungen und Räumen der Siedlung aufgetaucht, hatte sich nach Tegularius erkundigt und mehrmals den in der Nähe wohnenden Direktor der Waldzeller Eliteschule aufgesucht; es konnte kaum ein Zweifel herrschen, der Mann war ein Beobachter, abgesandt, um festzustellen, wie es im Spielerdorf stehe, ob Vernachlässigung zu spüren sei, ob der Magister gesund und auf dem Posten, die Beamtenschaft fleißig, die Schülerschaft nicht etwa beunruhigt sei. Eine volle Woche war er dageblieben, von Knechts Vorlesungen hatte er keine versäumt, sein Beobachten und seine stille Allgegenwärtigkeit war zweien der Beamten aufgefallen. Den Bericht dieses Spähers hatte also die Ordensleitung noch abgewartet, ehe sie ihre Antwort an den Magister gesandt hatte.

Was war nun von dem Antwortschreiben zu halten, und wer mochte sein Verfasser sein? Der Stil verriet ihn nicht, es war der gangbare, unpersönliche Behördenstil, wie der Anlaß ihn forderte. Bei zarterem Abtasten ergab jedoch das Schreiben mehr an Eigenart und Persönlichkeit, als man beim ersten Lesen vermutet hätte. Die Grundlage des ganzen Dokumentes war hierarchischer Ordensgeist, Gerechtigkeit und Ordnungsliebe. Man konnte deutlich sehen, wie unwillkommen, unbequem, ja lästig und ärgerniserweckend Knechts Gesuch gewirkt hatte, seine Ablehnung war sicher vom Verfasser dieser Antwort schon bei der ersten Kenntnisnahme und unbeeinflußt von den Urteilen anderer beschlossen worden. Dagegen stand dem Unwillen und der Abwehr doch eine andre Bewegung und Stimmung entgegen, eine spürbare Sympathie, ein Betonen aller milden und freundschaftlichen Urteile und Äußerungen, die in der Sitzung über Knechts Gesuch gefallen waren. Knecht zweifelte nicht daran, daß Alexander, der Vorstand der Ordensleitung, der Verfasser der Antwort sei.

Wir haben hier das Ende unseres Weges erreicht und hoffen, alles Wesentliche von Josef Knechts Lebenslauf berichtet zu haben. Über das Ende dieses Lebenslaufes wird ein späterer Biograph ohne Zweifel noch manche Einzelheit feststellen und mitteilen können.

Wir verzichten darauf, eine eigene Darstellung von des Magisters letzten Tagen zu geben, wir wissen über sie nicht mehr als jeder Waldzeller Student und könnten es auch nicht besser machen als die »Legende vom Glasperlenspielmeister,« welche bei uns in vielen Abschriften zirkuliert und vermutlich ein paar bevorzugte Schüler des Dahingegangenen zu Verfassern hat. Diese Legende möge unser Buch beschließen.

Die Legende

Wenn wir die Unterhaltungen der Kameraden über das Verschwinden unseres Meisters, über dessen Ursachen, über Recht und Unrecht seiner Entschlüsse und Schritte, über Sinn oder Widersinn seines Schicksals anhören, so muten sie uns an wie die Erörterungen des Diodorus Siculus über die mutmaßlichen Ursachen der Überschwemmungen des Nils, und es schiene uns nicht nur unnütz, sondern unrecht, diese Erörterungen noch um neue zu vermehren. Statt dessen wollen wir in unserem Herzen das Andenken des Meisters pflegen, der so bald nach seinem geheimnisvollen Aufbruche in die Welt in ein noch fremderes und geheimnisvolleres Jenseits hinübergegangen ist. Seinem uns teuren Andenken zu dienen, wollen wir aufzeichnen, was uns über diese Ereignisse zu Ohren gekommen ist.

Nachdem der Meister den Brief gelesen hatte, in welchem die Behörde sein Gesuch abschlägig beschied, spürte er ein leises Schaudern, ein Morgengefühl von Kühle und Nüchternheit, das ihm anzeigte, die Stunde sei gekommen, und es gebe nun kein Zögern und Verweilen mehr. Dies eigene Gefühl, das er »Erwachen« nannte, war ihm von den entscheidenden Augenblicken seines Lebens her bekannt, es war ein belebendes und zugleich schmerzliches, eine Mischung von Abschied und Aufbruch, tief im Unbewußten rüttelnd wie Frühlingssturm. Er sah nach der Uhr, in einer Stunde hatte er eine Kurslektion zu halten. Er beschloß, diese Stunde der Einkehr zu widmen, und begab sich in den stillen Magistergarten. Auf dem Wege dahin begleitete ihn eine Verszeile, die ihm plötzlich eingefallen war:

Denn jedem Anfang ist ein Zauber eigen …

die sagte er vor sich hin, nicht wissend, bei welchem Dichter er sie einst gelesen habe, aber der Vers sprach ihn an und gefiel ihm und schien dem Erlebnis der Stunde ganz zu entsprechen. Im Garten setzte er sich auf eine mit ersten welken Blättern bestreute Bank, regelte die Atmung und kämpfte um die innere Stille, bis er geklärten Herzens in Betrachtung versank, in der die Konstellation dieser Lebensstunde sich in allgemeinen, überpersönlichen Bildern ordnete. Auf dem Rückwege zum kleinen Hörsaal aber meldete sich schon wieder jener Vers, er mußte ihm wieder nachsinnen und fand, er müsse etwas anders lauten. Bis plötzlich sein Gedächtnis sich erhellte und ihm zu Hilfe kam. Leise sprach er vor sich hin:

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Aber erst gegen Abend, als längst die Kursstunde gehalten und allerlei andere Tagesarbeit getan war, entdeckte er die Herkunft jener Verse. Sie standen nicht bei irgendeinem alten Dichter, sie standen in einem seiner eigenen Gedichte, die er einst als Schüler und Student geschrieben hatte, und das Gedicht endete mit der Zeile:

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Noch an diesem Abend beschied er seinen Stellvertreter zu sich und eröffnete ihm, daß er morgen für unbestimmte Zeit verreisen müsse. Er übergab ihm alles Laufende mit kurzen Anweisungen und verabschiedete sich freundlich und sachlich wie sonst vor einer kurzen Amtsreise.

Daß er den Freund Tegularius verlassen müsse, ohne ihn einzuweihen und ihn mit einem Abschiednehmen zu belasten, war ihm schon früher klargeworden. Er mußte so handeln, nicht nur um den so empfindlichen Freund zu schonen, sondern auch um seinen ganzen Plan nicht zu gefährden. Mit einer vollzogenen Handlung und Tatsache würde sich der andre vermutlich schon abfinden, während eine überraschende Aussprache und Abschiedsszene ihn zu unliebsamen Unbeherrschtheiten hinreißen konnte. Knecht hatte eine Weile sogar daran gedacht, abzureisen, ohne ihn überhaupt noch einmal zu sehen. Nun er dies überlegte, fand er aber doch, daß es einer Flucht vor dem Schwierigen allzu ähnlich sein würde. So klug und richtig es sein mochte, dem Freunde eine Szene und Aufregung und eine Gelegenheit zu Torheiten zu ersparen, so wenig durfte er sich selbst eine solche Schonung gönnen. Es war noch eine halbe Stunde bis zur Zeit der Nachtruhe, er konnte Tegularius noch aufsuchen, ohne ihn oder sonst jemanden zu stören. Es war schon Nacht auf dem weiten Innenhofe, den er überschritt. Er klopfte an seines Freundes Zelle, mit dem eigentümlichen Gefühclass="underline" zum letztenmal, und fand ihn allein. Erfreut begrüßte ihn der beim Lesen Überraschte, legte sein Buch beiseite und hieß den Besucher sitzen.

»Ein altes Gedicht ist mir heute eingefallen,« fing Knecht zu plaudern an, »oder doch einige Verse daraus. Vielleicht weißt du, wo das Ganze zu finden ist?«

Und er zitierte: »Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…«

Der Repetent brauchte sich nicht lange zu bemühen. Er erkannte das Gedicht nach kurzem Nachdenken wieder, stand auf und holte aus einem Pultfach das Manuskript von Knechts Gedichten, die Urhandschrift, welche dieser ihm einst geschenkt hatte. Er suchte darin und zog zwei Blätter heraus, welche die erste Niederschrift des Gedichtes trugen. Er reichte sie dem Magister hin.

»Hier,« sagte er lächelnd, »der Ehrwürdige möge sich bedienen. Es ist das erstemal seit vielen Jahren, daß Ihr Euch dieser Dichtungen zu erinnern geruhet.«

Josef Knecht betrachtete die Blätter aufmerksam und nicht ohne Bewegung. Als Student, während seines Aufenthaltes im ostasiatischen Studienhaus, hatte er diese beiden Blätter einst mit Verszeilen beschrieben, eine ferne Vergangenheit blickte ihn aus ihnen an, alles sprach von einem beinahe vergessenen, nun mahnend und schmerzlich wieder erwachenden Ehemals, das schon leicht angegilbte Papier, die jugendliche Handschrift, die Streichungen und Korrekturen im Texte. Er meinte sich nicht nur des Jahres und der Jahreszelt zu erinnern, in welchen diese Verse entstanden waren, sondern auch des Tages und der Stunde, und zugleich jener Stimmung, jenes starken und stolzen Gefühls, das ihn damals erfüllt und beglückt hatte und dem die Verse Ausdruck gaben. Er hatte sie an einem jener besonderen Tage geschrieben, an welchen das seelische Erlebnis ihm zuteil geworden war, das er Erwachen nannte.

Sichtlich war die Oberschrift des Gedichtes, noch vor dem Gedichte selbst, als dessen erste Zeile entstanden. Mit großen Buchstaben in stürmischer Handschrift war sie hingesetzt und lautete:

»Transzendieren!«

Später erst, zu einer anderen Zeit, in anderer Stimmung und Lebenslage, war diese Überschrift samt dem Ausrufezeichen gestrichen und war in kleineren, dünneren, bescheideneren Schriftzeichen dafür eine andere hingeschrieben worden. Sie hieß: »Stufen.«

Knecht erinnerte sich jetzt wieder, wie er damals, vom Gedanken seines Gedichtes beschwingt, das Wort »Transzendieren!« hingeschrieben hatte, als einen Zuruf und Befehl, eine Mahnung an sich selbst, als einen neu formulierten und bekräftigten Vorsatz, sein Tun und Leben unter dies Zeichen zu stellen und es zu einem Transzendieren, einem entschlossen-heitern Durchschreiten, Erfüllen und Hintersichlassen jedes Raumes, jeder Wegstrecke zu machen. Halblaut las er einige Strophen vor sich hin:

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf um Stufe heben, weiten.

»Ich hatte die Verse viele Jahre vergessen,« sagte er, »und als einer von ihnen mir heute zufällig einfiel, wußte ich nicht mehr, woher ich ihn kenne und daß er von mir sei. Wie kommen sie dir heute vor? Sagen sie dir noch etwas?«

Tegularius besann sich.

»Mir ist es gerade mit diesem Gedicht immer eigentümlich gegangen,« sagte er dann. »Das Gedicht gehört zu den wenigen von Euch, die ich eigentlich nicht mochte, an denen irgend etwas mich abstieß oder störte. Was es sei, wußte ich damals nicht. Heute glaube ich es zu sehen. Euer Gedicht, Verehrter, das Ihr mit dem Marschbefehl »Transzendieren!« überschrieben und dessen Titel Ihr später, Gott sei Dank, durch einen sehr viel besseren ersetzt habet, hat mir nie so recht gefallen, weil es etwas Befehlendes, etwas Moralisierendes oder Schulmeisterliches hat. Könnte man ihm dieses Element nehmen oder vielmehr diese Tünche abwaschen, so wäre es eines Eurer schönsten Gedichte, das habe ich soeben wieder bemerkt. Sein eigentlicher Inhalt ist mit dem Titel »Stufen« nicht schlecht angedeutet; Ihr hättet aber ebensogut und noch besser »Musik« oder, »Wesen der Musik« darüber schreiben können. Denn nach Abzug jener moralisierenden oder predigenden Haltung ist es recht eigentlich eine Betrachtung über das Wesen der Musik, oder meinetwegen ein Lobgesang auf die Musik, auf ihre stete Gegenwärtigkeit, auf ihre Heiterkeit und Entschlossenheit, auf ihre Beweglichkeit und rastlose Entschlossenheit und Bereitschaft zum Weitereilen, zum Verlassen des eben erst betretenen Raumes oder Raumabschnittes. Wäre es bei dieser Betrachtung oder diesem Lobgesang über den Geist der Musik geblieben, hättet Ihr nicht, offenbar schon damals von einem Erzieherehrgeiz beherrscht, eine Mahnung und Predigt daraus gemacht, so könnte das Gedicht ein vollkommenes Kleinod sein. So wie es vorliegt, scheint es mir nicht nur zu lehrhaft, zu lehrerhaft, sondern es scheint mir auch an einem Denkfehler zu kranken. Es setzt, lediglich der moralischen Wirkung wegen, Musik und Leben einander gleich, was mindestens sehr fragwürdig und bestreitbar ist, es macht aus dem natürlichen und moralfreien Motor, der die Triebfeder der Musik ist, ein »Leben,« das uns durch Zurufe, Befehle und gute Lehren erziehen und entwickeln will. Kurz, es wird in diesem Gedicht eine Vision, etwas Einmaliges, Schönes und Großartiges zu Lehrzwecken verfälscht und ausgenutzt, und dies ist es, was mich schon immer dagegen eingenommen hat.«