Mit Vergnügen hatte der Magister zugehört und den Freund sich in eine gewisse zornige Wärme hineinreden sehen, die er an ihm gern hatte.
»Möchtest du recht haben!« sagte er halb scherzhaft. »Du hast es jedenfalls mit dem, was du über die Beziehung des Gedichtes zur Musik sagst. Das »Durchschreiten der Räume« und der Grundgedanke meiner Verse kommt, ohne daß ich es wußte oder beachtete, in der Tat von der Musik her. Ob ich den Gedanken verdorben und die Vision verfälscht habe, weiß ich nicht; vielleicht hast du recht. Als ich die Verse machte, handelten sie ja schon nicht mehr von der Musik, sondern von einem Erlebnis, dem Erlebnis nämlich, daß das schöne musikalische Gleichnis mir seine moralische Seite gezeigt hatte und zur Weckung und Mahnung, zum Lebensruf in mir geworden war. Die imperative Form des Gedichtes, die dir besonders mißfällt, ist nicht Ausdruck eines Befehlen- und Belehrenwollens, denn der Befehl, die Mahnung ist nur an mich selbst gerichtet. Das hättest du, auch wenn du es nicht ohnehin recht wohl wüßtest, aus der letzten Verszeile sehen können, mein Bester. Also ich habe eine Einsicht, eine Erkenntnis, ein inneres Gesicht erlebt und möchte den Gehalt und die Moral dieser Einsicht mir selber zurufen und einhämmern. Darum ist das Gedicht mir auch, obwohl ich es nicht wußte, im Gedächtnis geblieben. Mögen diese Verse nun gut oder schlecht sein, ihren Zweck haben sie also erreicht, die Mahnung hat in mir fortgelebt und ist nicht vergessen worden. Heute klingt sie mir wieder wie neu; das ist ein schönes kleines Erlebnis, dein Spott kann es mir nicht verderben. Aber es ist Zeit aufzubrechen. Wie schön waren jene Zeiten, Kamerad, wo wir, beide Studenten, es uns des öftern erlauben durften, die Hausordnung zu umgehen und bis tief in die Nächte hinein im Gespräch beisammenzubleiben. Als Magister darf man das nicht mehr, schade!«
»Ach,« meinte Tegularius, »man dürfte schon, man hat nur die Courage nicht.«
Knecht legte ihm lachend die Hand auf die Schulter.
»Was die Courage betrifft, mein Lieber, da wäre ich noch zu ganz anderen Streichen fähig. Gute Nacht, alter Nörgler!«
Fröhlich verließ er die Zelle, unterwegs jedoch in den nächtlich leeren Gängen und Höfen der Siedlung kam der Ernst ihm wieder, der Ernst des Abschieds. Abschiednehmen weckt stets Erinnerungsbilder, und ihn suchte auf diesem Gange die Erinnerung an jenes erste Mal heim, da er, noch ein Knabe, als neu eingerückter Waldzeller Schüler seinen ersten ahnungs- und hoffnungsvollen Gang durch Waldzell und den Vicus Lusorum getan hatte, und nun erst, inmitten der nachtkühlen schweigenden Bäume und Gebäude, spürte er durchdringend und schmerzlich, daß er dies alles nun zum letztenmal vor Augen habe, zum letztenmal dem Stillwerden und Einschlummern der tagsüber so belebten Siedlung lausche, zum letztenmal das kleine Licht überm Pförtnerhaus sich im Brunnenbecken spiegeln, zum letztenmal das Nachtgewölk über die Bäume seines Magistergartens ziehen sehe. Er schritt langsam alle Wege und Winkel des Spielerdorfes ab, fühlte ein Verlangen, noch einmal die Pforte zu seinem Garten zu öffnen und einzutreten, doch hatte er den Schlüssel nicht bei sich, das half ihm rasch zur Ernüchterung und Rückbesinnung. Er kehrte in seine Wohnung zurück, schrieb noch einige Briefe, darunter eine Ankündigung seines Eintreffens an Designori in die Hauptstadt, dann befreite er sich in sorgfältiger Meditation von den Seelenwallungen dieser Stunde, um morgen stark zu sein für seine letzte Arbeit in Kastalien, die Aussprache mit dem Ordensleiter.
Zur gewohnten Stunde erhob sich der Magister andern Morgens, bestellte den Wagen und fuhr davon, nur wenige bemerkten seine Abreise, niemand dachte sich etwas dabei. Durch den von ersten Frühherbstnebeln getränkten Morgen fuhr er nach Hirsland, kam gegen Mittag an und ließ sich beim Magister Alexander, dem Vorstande der Ordensleitung, melden. Bei sich trug er, in ein Tuch geschlagen, ein schönes metallenes Kästchen, das er aus einem Geheimfach seiner Kanzlei mitgenommen hatte und das die Insignien seiner Würde, die Siegel und Schlüssel, enthielt.
In der »großen« Amtsstube der Ordensleitung empfing man ihn etwas überrascht, es war kaum jemals vorgekommen, daß ein Magister hier unangemeldet oder uneingeladen erschien. Im Auftrag des Ordensleiters wurde er bewirtet, dann öffnete man ihm eine Ruhezelle im alten Kreuzgang und teilte ihm mit, der Ehrwürdige hoffe in zwei oder drei Stunden sich für ihn freimachen zu können. Er ließ sich ein Exemplar der Ordensregeln geben und ließ sich nieder, durchlas das ganze Heft und vergewisserte sich ein letztes Mal der Einfachheit und Legalität seines Vorhabens, dessen Sinn und innere Berechtigung mit Worten aufzuzeigen ihm dennoch auch in dieser Stunde noch eigentlich unmöglich schien. Er erinnerte sich eines Satzes in den Regeln, über welchen man ihn einst, in den letzten Tagen seiner Jugendfreiheit und Studienzeit, hatte meditieren lassen, es war im Augenblick vor seiner Aufnahme in den Orden gewesen. Er las den Satz nach, gab sich der Betrachtung hin und spürte dabei, ein wie ganz andrer er zur Stunde sei als der etwas ängstliche junge Repetent, der er damals gewesen war. »Beruft dich die hohe Behörde,« so hieß es an jener Stelle der Regel, »in ein Amt, so wisse: jeder Aufstieg in der Stufe der Ämter ist nicht ein Schritt in die Freiheit, sondern in die Bindung. Je größer die Amtsgewalt, desto strenger der Dienst. Je stärker die Persönlichkeit, desto verpönter die Willkür.« Wie hatte dies alles einst so endgültig und so eindeutig geklungen, und wie sehr hatte doch die Bedeutung mancher Worte, zumal so verfänglicher Worte wie »Bindung,« »Persönlichkeit,« »Willkür« sich seit damals für ihn gewandelt, ja umgekehrt! Und wie waren sie doch schön, klar, festgefügt und bewundernswert suggestiv, diese Sätze, wie konnten sie einem jungen Geiste absolut, zeitlos und durch und durch wahr erscheinen! Oh, und sie wären dies ja auch gewesen, wäre nur Kastalien die Welt, die ganze, mannigfaltige und doch unteilbare, statt daß es eben nur ein Weltchen in der Welt oder ein kühner und gewaltsamer Ausschnitt aus ihr war! Wäre die Erde eine Eliteschule, wäre der Orden die Gemeinschaft aller Menschen und der Ordensvorstand Gott, wie vollkommen wären dann jene Sätze und die ganze Regel! Ach, wäre es doch so gewesen, wie hold, wie blühend und unschuldig schön wäre das Leben! Und einst war es ja auch wirklich so gewesen, einst hatte er es so sehen und erleben können: den Orden und den kastalischen Geist als das Göttliche und Absolute, die Provinz als Welt, die Kastaller als Menschheit und den nichtkastalischen Teil des Ganzen als eine Art Kinderwelt, eine Vorstufe der Provinz, ein der letzten Kultur und Erlösung noch wartender Urboden, der zu Kastalien mit Ehrfurcht emporblickte und ihm je und je so liebenswürdige Besuche zusandte wie den jungen Plinio.
Wie eigentümlich stand es doch auch um ihn selbst, um Josef Knecht und seinen eigenen Geist! Hatte er nicht jene ihm eigene Art von Einsicht und Erkenntnis, jenes Erleben der Wirklichkeit, das er als Erwachen bezeichnete, in früheren Zeiten, ja gestern noch, als ein schrittweises Vordringen ins Herz der Welt, ins Zentrum der Wahrheit betrachtet, als etwas gewissermaßen Absolutes, als einen Weg oder ein Fortschreiten, das man zwar nur schrittweise vollziehen konnte, das aber in der Idee kontinuierlich und gradlinig war? War es ihm einst, in der Jugend, nicht als Erwachen, als Fortschritt, als unbedingt wertvoll und richtig erschienen, die Außenwelt zwar in der Gestalt Plinios anzuerkennen, sich aber bewußt und genau als Kastalier von ihr zu distanzieren? Und wieder war es ein Fortschritt und war Wahrhaftigkeit gewesen, als er nach jahrelangen Zweifeln sich für das Glasperlenspiel und das Waldzeller Leben entschied. Und wieder, als er sich von Meister Thomas in den Dienst einreihen und durch den Musikmeister in den Orden aufnehmen, und als er später sich zum Magister ernennen ließ. Es waren lauter kleine oder große Schritte auf einem scheinbar geradlinigen Wege gewesen – und doch stand er jetzt, am Ende dieses Weges, keineswegs im Herzen der Welt und im Innersten der Wahrheit, sondern auch das jetzige Erwachen war nur ein Augenaufschlagen und ein Sichwiederfinden in neuer Lage, ein Sicheinfügen in neue Konstellationen gewesen. Derselbe strenge, klare, eindeutige, gradlinige Pfad, der ihn nach Waldzell, nach Mariafels, in den Orden, in das Magisteramt geführt hatte, der führte ihn nun wieder hinaus. Was eine Folge von Akten des Erwachens gewesen, war zugleich eine Folge von Abschieden. Kastalien, das Glasperlenspiel, die Meisterwürde waren jedes ein Thema gewesen, welches abzuwandeln und zu erledigen, ein Raum, der zu durchschreiten, zu transzendieren gewesen war. Schon lagen sie hinter ihm. Und offenbar haue er einstmals, als er das Gegenteil von dem dachte und tat, was er heute dachte und tat, doch schon etwas von dem fragwürdigen Sachverhalt gewußt oder doch geahnt; hatte er nicht über jenes Gedicht, das er als Student geschrieben und das von den Stufen und den Abschieden handelte, den Ausruf »Transzendieren!« gesetzt? So war sein Weg denn im Kreise gegangen, oder in einer Ellipse oder Spirale, oder wie immer, nur nicht geradeaus, denn das Geradlinige gehörte offenbar nur der Geometrie, nicht der Natur und dem Leben an. Der Selbstermahnung und Selbstermutigung seines Gedichtes aber hatte er, auch nachdem er das Gedicht und sein damaliges Erwachen längst vergessen hatte, treulich Folge geleistet, nicht vollkommen zwar, nicht ohne Zögerungen, Zweifel, Anwandlungen und Kämpfe, aber durchschritten hatte er Stufe um Stufe, Raum nach Raum tapfer, gesammelt und leidlich heiter, nicht so strahlend wie der alte Musikmeister, doch ohne Müdigkeit und Trübung, ohne Abfall und Untreue. Und wenn er jetzt für kastalische Begriffe Abfall und Untreue beging, wenn er, aller Ordensmoral entgegen, scheinbar im Dienst der eigenen Persönlichkeit, also in Willkür handelte, so würde auch dies im Geiste der Tapferkeit und der Musik geschehen, taktfest also und heiter, gehe es im übrigen wie es möge. Hätte er doch, was ihm selber so klar schien, auch den andern klarmachen und beweisen können: daß nämlich die »Willkür« seines jetzigen Handelns in Wahrheit Dienst und Gehorsam war, daß er nicht einer Freiheit, sondern neuen, unbekannten und unheimlichen Bindungen entgegenging, nicht ein Flüchtling, sondern ein Gerufener, nicht eigenwillig, sondern gehorchend, nicht Herr, sondern Opfer! Und wie stand es dann mit den Tugenden, mit der Heiterkeit, dem Takthalten, der Tapferkeit? Sie wurden klein, aber sie blieben bestehen. Wenn es schon kein Gehen, sondern nur ein Geführtwerden, wenn es schon kein eigenmächtiges Transzendieren gab, sondern nur ein Sichdrehen des Raumes um den in seiner Mitte Stehenden, so bestanden die Tugenden dennoch und behielten ihren Wert und ihren Zauber, sie bestanden im Jasagen, statt Verneinen, im Gehorchen, statt Ausweichen und vielleicht ein wenig auch darin, daß man so handelte und dachte, als sei man Herr und aktiv, daß man das Leben und die Selbsttäuschung, diese Spiegelung mit dem Anschein von Selbstbestimmung und Verantwortung, ungeprüft hinnahm, daß man aus unbekannten Ursachen eben doch im Grunde mehr zum Tun als zum Erkennen, mehr triebhaft als geistig geschaffen war. Oh, hierüber ein Gespräch mit Pater Jakobus haben zu können!