Gedanken oder Träumereien ähnlicher Art waren der Nachklang seiner Meditation. Es ging, so schien es, beim »Erwachen« nicht um die Wahrheit und die Erkenntnis, sondern um die Wirklichkeit und deren Erleben und Bestehen. Im Erwachen drang man nicht näher an den Kern der Dinge, an die Wahrheit heran, man erfaßte, vollzog oder erlitt dabei nur die Einstellung des eigenen Ich zur augenblicklichen Lage der Dinge. Man fand nicht Gesetze dabei, sondern Entschlüsse, man geriet nicht in den Mittelpunkt der Welt, aber in den Mittelpunkt der eigenen Person. Darum war auch das, was man dabei erlebte, so wenig mitteilbar, so merkwürdig dem Sagen und Formulieren entrückt; Mitteilungen aus diesem Bereich des Lebens schienen nicht zu den Zwecken der Sprache zu zählen. Wurde man ausnahmsweise dabei einmal ein Stück weit verstanden, dann war der Verstehende ein Mann in ähnlicher Lage, ein Mitleidender oder Miterwachender. Ein Stückchen weit hatte Fritz Tegularius ihn gelegentlich verstanden, noch weiter hatte Plinios Verständnis gereicht. Wen konnte er sonst noch nennen? Niemand.
Es fing schon an zu dämmern, und er war in seinem Gedankenspiel völlig entrückt und eingesponnen, als man an die Türe pochte. Da er nicht gleich wach war und antwortete, wartete der Draußenstehende ein wenig und versuchte es dann abermals mit leisem Klopfen. Jetzt gab Knecht Antwort, erhob sich und ging mit dem Boten, der ihn ins Kanzleigebäude und ohne weitere Anmeldung in das Arbeitszimmer des Vorstands führte. Meister Alexander kam ihm entgegen.
»Schade,« sagte er, »daß Ihr unangemeldet kommet; so habet Ihr warten müssen. Ich bin voll Erwartung, zu erfahren, was Euch so plötzlich hergeführt hat. Es ist doch nichts Schlimmes?«
Knecht lachte. »Nein, nichts Schlimmes. Aber komme ich wirklich so ganz unerwartet, und könnet Ihr Euch gar nicht denken, was es sei, das mich hertreibt?«
Alexander blickte ihm ernst und mit Besorgnis in die Augen. »Nun ja,« sagte er, »denken kann ich mir dies und jenes. Ich dachte mir zum Beispiel schon dieser Tage, daß die Angelegenheit Eures Rundschreibens gewiß für Euch noch nicht erledigt sei. Die Behörde mußte es etwas knapp beantworten und in einem für Euch, Domine, vielleicht enttäuschenden Sinn und Ton.«
»Nein,« meinte Josef Knecht, »im Grunde hatte ich kaum etwas anderes erwartet, als was die Antwort der Behörde dem Sinn nach enthält. Und was den Ton betrifft, gerade der Ton tat mir wohl. Ich merkte dem Schreiben an, daß es seinem Verfasser Mühe gemacht, ja beinahe Kummer gemacht und daß er das Bedürfnis gefühlt habe, der für mich unangenehmen und etwas beschämenden Antwort einige Tropfen Honig beizumischen, und das ist ihm ja vortrefflich gelungen, ich bin ihm dafür dankbar.«
»Und den Inhalt des Schreibens habet Ihr also, Verehrter, angenommen?«
»Zur Kenntnis genommen, ja, und im Grunde auch verstanden und gebilligt. Die Antwort konnte wohl nichts andres bringen als eine Abweisung meines Gesuches, verbunden mit einer sanften Vermahnung. Mein Rundschreiben war etwas Ungewohntes und für die Behörde recht Unbequemes, darüber war ich nie im Zweifel. Es war aber außerdem, insofern es ein persönliches Gesuch enthielt, vermutlich nicht sehr zweckmäßig abgefaßt. Ich konnte kaum eine andre als eine abschlägige Antwort erwarten.«
»Es ist uns lieb,« sagte der Vorstand der Ordensleitung mit einem Hauch von Schärfe, »daß Ihr es so ansehet und daß unser Schreiben Euch also nicht etwa in einem schmerzlichen Sinn hat überraschen können. Sehr lieb ist uns das. Aber noch verstehe ich eines nicht. Wenn Ihr beim Abfassen und Absenden Eures Schreibens – ich verstehe Euch doch richtig? – schon an einen Erfolg und eine bejahende Antwort nicht geglaubt habet, ja im voraus vom Mißerfolg überzeugt wäret, warum habt Ihr dann Euer Rundschreiben, das doch immerhin auch eine große Arbeit bedeutete, zu Ende und ins Reine geschrieben und abgesandt?«
Knecht sah ihn freundlich an, als er Antwort gab:
»Herr Vorstand, mein Schreiben hatte zwei Inhalte, zwei Absichten, und ich glaube nicht, daß sie alle beide so völlig ergebnis- und erfolglos geblieben sind. Es enthielt eine persönliche Bitte, um Amtsenthebung und Verwendung meiner Person an anderem Orte; diese persönliche Bitte durfte ich als etwas verhältnismäßig Nebensächliches betrachten, jeder Magister soll ja seine persönlichen Angelegenheiten möglichst zurückstellen. Die Bitte wurde abgeschlagen, damit hatte ich mich abzufinden. Aber mein Rundschreiben enthielt ja noch sehr viel anderes als jene Bitte, es enthielt eine Menge von Tatsachen, teils Gedanken, die ich zur Kenntnis der Behörde zu bringen und ihrer Beachtung zu empfehlen für meine Pflicht hielt. Es haben alle Magister, oder es hat doch die Mehrzahl der Magister meine Darlegungen, um nicht zu sagen Mahnungen, gelesen, und wenn auch gewiß die meisten von ihnen diese Speise nur ungern zu sich nahmen und eher unwillig reagierten, so haben sie eben doch gelesen und in sich eingelassen, was ich ihnen glaubte sagen zu müssen. Daß sie das Schreiben nicht mit Beifall aufnahmen, ist in meinen Augen kein Mißerfolg, ich suchte ja nicht Beifall und Zustimmung, ich bezweckte vielmehr Beunruhigung und Aufrüttelung. Ich würde es sehr bereuen, wenn ich aus den von Euch genannten Gründen auf die Absendung meiner Arbeit verzichtet hätte. Ob sie nun viel oder wenig wirkte, ein Weckruf, eine Anrufung ist sie doch gewesen.«
»Gewiß,« sagte zögernd der Vorstand, »doch wird mir dadurch das Rätsel nicht gelöst. Wenn Ihr Mahnungen, Weckrufe, Warnungen an die Behörde gelangen lassen wolltet, warum habt Ihr Eure goldenen Worte in ihrer Wirkung dadurch abgeschwächt oder doch gefährdet, daß Ihr sie mit einer privaten Bitte verbandet, einer Bitte zudem, an deren Erfüllung und Erfüllbarkeit Ihr selbst nicht recht geglaubt habet? Ich verstehe das einstweilen noch nicht. Aber es wird sich ja wohl klären, wenn wir das Ganze durchsprechen. Jedenfalls liegt dort der schwache Punkt Eures Rundschreibens, in der Verbindung des Weckrufs mit dem Gesuch, des Mahnens mit dem Bitten. Ihr wäret doch, sollte man meinen, nicht darauf angewiesen, das Gesuch als Vehikel für die Mahnrede zu benützen. Ihr konntet mündlich oder schriftlich Eure Kollegen leicht genug erreichen, wenn Ihr sie eines Aufrütteins für bedürftig hieltet. Und das Gesuch wäre seinen eigenen Amtsweg gegangen.«
Freundschaftlich blickte Knecht ihn an. »Ja,« sagte er leichthin, »es mag sein, daß Ihr recht habet. Obgleich – seht Euch die verzwickte Sache doch noch einmal an! Es handelt sich weder bei der Mahnrede noch bei dem Gesuch um etwas Alltägliches, Gewohntes und Normales, sondern beide gehörten schon dadurch zusammen, daß sie ungewöhnlich und aus Not entstanden waren und sich außerhalb der Konvention stellten. Es ist weder üblich und normal, daß ohne dringenden äußern Anlaß ein Mensch seine Kollegen plötzlich beschwört, sich ihrer Sterblichkeit und der Fragwürdigkeit ihrer ganzen Existenz zu erinnern, noch auch ist es üblich und alltäglich, daß ein kastalischer Magister sich um einen Schullehrerposten außerhalb der Provinz bewirbt. Insofern passen die beiden Inhalte meines Schreibens recht wohl zusammen. Für einen Leser, der das ganze Schreiben wirklich ernst genommen hätte, hätte sich nach meiner Meinung als Resultat der Lektüre ergeben müssen: daß hier nicht nur ein etwas schrulliger Mann seine Ahnungen verkündigt und seine Kollegen anzupredigen unternimmt, sondern daß es diesem Manne mit seinen Gedanken und seiner Not bitterer Ernst ist, daß er bereit ist, sein Amt, seine Würde, seine Vergangenheit wegzuwerfen und an bescheidenster Stelle von vorn anzufangen, daß er der Würde, des Friedens, der Ehre und Autorität satt ist und sie loszuwerden und wegzuwerfen begehrt. Aus diesem Ergebnis – ich versuche noch immer, mich in die Leser meines Schriftstückes hineinzudenken – wären dann, scheint mir, zwei Schlüsse möglich gewesen: der Schreiber dieser Moralpredigt sei leider etwas verrückt, komme also als Magister ohnehin nicht mehr in Betracht – oder aber; da der Schreiber dieser lästigen Predigt sichtlich nicht verrückt, sondern normal und gesund sei, müsse hinter seinen Predigten und Pessimismen mehr stecken als Laune und Schrulle, nämlich eine Wirklichkeit, eine Wahrheit. So etwa hatte ich mir den Vorgang in den Köpfen der Leser gedacht und muß zugeben, daß ich mich dabei verrechnet habe. Statt daß mein Gesuch und mein Weckruf einander gestützt und verstärkt haben, sind alle beide nicht ernst genommen und beiseite gelegt worden. Ich bin über diese Ablehnung weder sehr betrübt noch eigentlich überrascht, denn im Grunde, das muß ich wiederholen, hatte ich sie trotz allem erwartet, und im Grunde, es sei zugegeben, hatte ich die Ablehnung auch verdient. Mein Gesuch nämlich, an dessen Erfolg ich nicht glaubte, war eine Art Finte, war eine Gebärde, eine Formel.«
Meister Alexanders Gesicht war noch ernster und beinahe finster geworden. Doch unterbrach er den Magister nicht.
»Es stand mit mir nicht so,« fuhr dieser fort, »daß ich beim Absenden meines Gesuches eine günstige Antwort ernstlich erhofft und mich auf sie gefreut hätte, aber auch nicht so, daß ich bereit gewesen wäre, eine ablehnende Antwort als höhere Entscheidung gehorsam hinzunehmen.«
»– nicht bereit, die Antwort Eurer Behörde als höhere Entscheidung hinzunehmen – habe ich recht gehört, Magister?« unterbrach ihn der Vorstand, jedes Wort scharf betonend. Offenbar hatte er jetzt den vollen Ernst der Lage erkannt.
Knecht verneigte sich leicht. »Gewiß, Ihr habet recht gehört. Es war so, daß ich an eine Aussicht auf Erfolg meines Gesuches kaum glauben konnte, das Gesuch aber doch vortragen zu müssen meinte, um der Ordnung und Form zu genügen. Ich gab damit der verehrten Behörde gewissermaßen eine Möglichkeit in die Hand, die Sache glimpflich abzutun. Sollte sie zu dieser Lösung nicht neigen, nun so war ich allerdings schon damals entschlossen, mich nicht hinhalten und beruhigen zu lassen, sondern zu handeln.«
»Und wie zu handeln?« fragte Alexander mit leiser Stimme.
»So, wie es mir Herz und Vernunft vorschreiben. Ich war entschlossen, mein Amt niederzulegen und eine Tätigkeit außerhalb Kastaliens auch ohne Auftrag oder Urlaub von der Behörde anzutreten.«
Der Ordensleiter schloß die Augen und schien nicht mehr zuzuhören, Knecht erkannte, daß er jene Notübung vollziehe, mit deren Hilfe die Ordensleute in Fällen von plötzlicher Gefahr und Bedrohung sich der Selbstbeherrschung und inneren Ruhe zu versichern suchen und die mit zweimaligem sehr langem Anhalten des Atems bei leerer Lunge verbunden ist. Er sah das Gesicht des Mannes, an dessen widerwärtiger Lage er sich schuldig wußte, ein wenig erbleichen, dann im langsamen, mit den Bauchmuskeln beginnenden Einatmen wieder seine Farbe gewinnen, sah die sich wieder öffnenden Augen des von ihm so hochgeschätzten, ja geliebten Mannes einen Moment starr und verloren blicken, alsbald aber erwachen und sich erkräftigen; mit einem leisen Schrecken sah er diese klaren, beherrschten, stets in Zucht gehaltenen Augen eines Mannes, der gleich groß im Gehorchen wie im Befehlen war, sich nun auf ihn richten und ihn mit gefaßter Kühle betrachten, ihn mustern, ihn richten. Lange mußte er diesen Blick schweigend ertragen.