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Aber lasset mich versuchen,« fuhr er nach einer Atempause fort, »diese Sache noch von einer andern Seite her anzufassen. Könnet Ihr Euch an die Legende vom heiligen Christophorus erinnern? Ja? Also dieser Christophorus war ein Mann von großer Kraft und Tapferkeit, er wollte aber nicht Herr werden und regieren, sondern dienen, das Dienen war seine Stärke und Kunst, darauf verstand er sich. Doch war es ihm nicht einerlei, wem er diene. Es mußte der größte, der mächtigste Herr sein. Und wenn er von einem Herrn hörte, der noch mächtiger war als sein bisheriger, so bot er diesem seine Dienste an. Dieser große Diener hat mir immer gefallen, und ein wenig muß ich ihm ähnlich sein. Wenigstens habe ich in der einzigen Zeit meines Lebens, in der ich über mich selbst zu verfügen hatte, in den Studentenjahren, lange gesucht und geschwankt, welchem Herrn ich dienen solle. Ich habe gegen das Glasperlenspiel, das ich doch längst als die kostbarste und eigenste Frucht unsrer Provinz erkannt hatte, jahrelang mich gewehrt und mißtrauisch verhalten. Ich hatte den Köder gekostet und wußte, daß es Reizvolleres und Differenzierteres auf Erden nicht gab, als sich dem Spiel zu ergeben, hatte auch schon ziemlich früh gemerkt, daß dies entzückende Spiel nicht naive Feierabendspieler verlange, sondern den, der es sich einmal ein Stück weit zu eigen gemacht hatte, ganz und gar verlangte und in seinen Dienst zog. Und mich nun mit allen meinen Kräften und Interessen für immer diesem Zauber zu verschreiben, dagegen wehrte sich in mir ein Instinkt, ein naives Gefühl für das Einfache, für das Ganze und Gesunde, das mich vor dem Geist des Waldzeller Vicus Lusorum warnte als vor einem Spezialisten- und Virtuosengeist, einem hochkultivierten, äußerst reich durchgearbeiteten Geist zwar, der aber doch vom Ganzen des Lebens und Menschentums abgetrennt war und sich in eine hochmütige Einsamkeit verstiegen hatte. Jahre habe ich gezweifelt und geprüft, bis der Entschluß reif war und ich mich trotz allem für das Spiel entschied. Ich tat es, weil eben jener Drang in mir war, das Höchste an Erfüllung zu suchen und nur dem größten Herrn zu dienen.«

»Ich verstehe,« sagte Meister Alexander. »Aber wie ich es auch betrachte und wie Ihr es auch darstellen möget, ich stoße stets auf denselben Grund für alle Eure Eigenartigkeiten. Ihr habet ein Zuviel an Gefühl für Eure eigene Person, oder an Abhängigkeit von ihr, was keineswegs dasselbe ist, wie eine große Persönlichkeit sein. Einer kann ein Stern erster Ordnung sein an Begabung, Willenskraft, Ausdauer, aber so gut zentriert, daß er in dem System, dem er angehört, ohne jede Reibung und Energievergeudung mitschwingt. Ein andrer hat dieselben hohen Gaben, noch schönere vielleicht, aber die Achse geht nicht genau durchs Zentrum, und er verschwendet die Hälfte seiner Kraft in exzentrischen Bewegungen, die ihn selber schwächen und seine Umwelt stören. Zu dieser Art müsset Ihr gehören. Nur muß ich freilich gestehen, Ihr habet das vortrefflich zu verbergen verstanden. Desto heftiger scheint das Übel jetzt sich zu entladen. Ihr erzählet mir vom heiligen Christophorus, und ich muß sagen: wenn diese Gestalt auch etwas Großartiges und Rührendes hat, ein Vorbild für einen Diener unserer Hierarchie ist sie nicht. Wer dienen will, soll dem Herrn dienen, dem er geschworen hat, auf Gedeih und Verderb, und nicht mit dem heimlichen Vorbehalt, den Herrn zu wechseln, sobald er einen prächtigeren findet. Der Diener macht sich damit zum Richter seiner Herren, und genau dasselbe tut ja Ihr auch. Ihr wollet nur immer dem höchsten Herrn dienen und seid so treuherzig, über den Rang der Herren, zwischen denen Ihr wählet, selber zu entscheiden.«

Aufmerksam hatte Knecht zugehört, nicht ohne daß ein Schatten von Traurigkeit über sein Gesicht ging. Er fuhr fort: »Euer Urteil in Ehren, ich habe es nicht anders erwarten können. Aber laßt mich weiter erzählen, noch ein wenig. Ich bin also Glasperlenspieler geworden und hatte nun in der Tat für eine gute Weile die Überzeugung, dem höchsten aller Herren zu dienen. Wenigstens hat mein Freund Designori, unser Gönner beim Bundesrat, mir einmal äußerst anschaulich geschildert, was für ein arroganter, hochnäsiger, blasierter Spielvirtuos und Elitehirsch ich einst gewesen bin. Aber ich muß Euch noch sagen, welche Bedeutung seit den Studentenjahren und dem »Erwachen« für mich das Wort Transzendieren gehabt hat. Es war mir, glaube ich, beim Lesen eines aufklärerischen Philosophen und unter dem Einfluß des Meister Thomas von der Trave zugeflogen und war mir seither, gleich dem »Erwachen,« ein rechtes Zauberwort, fordernd und treibend, tröstend und versprechend. Mein Leben, so etwa nahm ich mir vor, sollte ein Transzendieren sein, ein Fortschreiten von Stufe zu Stufe, es sollte ein Raum um den andern durchschritten und zurückgelassen werden, so wie eine Musik Thema um Thema, Tempo um Tempo erledigt, abspielt, vollendet und hinter sich läßt, nie müde, nie schlafend, stets wach, stets vollkommen gegenwärtig. Im Zusammenhang mit den Erlebnissen des Erwachens hatte ich gemerkt, daß es solche Stufen und Räume gibt und daß jeweils die letzte Zeit eines Lebensabschnittes eine Tönung von Welke und Sterbenwollen in sich trägt, welche dann zum Hinüberwechseln in einen neuen Raum, zum Erwachen, zu neuem Anfang führt. Auch dieses Bild, das vom Transzendieren, teile ich Euch mit, als ein Mittel, das vielleicht mein Leben deuten hilft. Die Entscheidung für das Glasperlenspiel war eine wichtige Stufe, nicht weniger die erste spürbare Einordnung in die Hierarchie. Auch in meinem Amt als Magister noch habe ich solche Stufengänge erlebt. Das Beste, was das Amt mir brachte, war die Entdeckung, daß nicht nur Musizieren und Glasperlenspielen beglückende Tätigkeiten sind, sondern auch Lehren und Erziehen. Und allmählich entdeckte ich noch weiter, daß das Erziehen mir desto mehr Freude mache, je jünger und unverbildeter die Zöglinge waren. Auch dies führte, wie manches andre, mit den Jahren dahin, daß ich mir junge und immer jüngere Schüler wünschte, daß ich am liebsten Lehrer an einer Anfängerschule geworden wäre, kurz, daß meine Phantasie sich zuweilen mit Dingen beschäftigte, welche schon außerhalb meines Amtes lagen.«

Er machte eine Ruhepause. Der Vorstand bemerkte:

»Ihr setzet mich immer mehr in Erstaunen, Magister. Da sprechet Ihr von Eurem Leben, und es ist kaum von etwas andrem die Rede als von privaten, subjektiven Erlebnissen, persönlichen Wünschen, persönlichen Entwicklungen und Entschlüssen! Ich wußte wirklich nicht, daß ein Kastalier Euren Ranges sich und sein Leben so sehen könne.«

Seine Stimme hatte einen Klang zwischen Vorwurf und Trauer, der Knecht weh tat; doch faßte er sich und rief munter: »Aber Hochverehrter, wir sprechen zur Stunde ja nicht von Kastalien, von der Behörde und der Hierarchie, sondern einzig von mir, von der Psychologie eines Mannes, der Euch leider große Ungelegenheiten hat bereiten müssen. Von meiner Amtsführung, meiner Pflichterfüllung, meinem Wert oder Unwert als Kastalier und als Magister zu sprechen, steht mir nicht zu. Meine Amtsführung liegt, wie die ganze Außenseite meines Lebens, offen und nachprüfbar vor Euch, viel werdet Ihr nicht zu strafen finden. Worum es hier geht, ist ja etwas ganz anderes, nämlich Euch den Weg sichtbar zu machen, den ich als Einzelner gegangen bin und der mich jetzt aus Waldzell hinausgeführt hat und morgen zu Kastalien hinausführen wird. Höret mir noch eine kleine Weile zu, seid so gütig!

Daß ich vom Vorhandensein einer Welt außerhalb unsrer kleinen Provinz wußte, verdanke ich nicht meinen Studien, in welchen diese Welt nur als ferne Vergangenheit vorkam, sondern zuerst meinem Mitschüler Designori, der ein Gast von draußen war, und später meinem Aufenthalt bei den Benediktinervätern und dem Pater Jakobus.

Es war sehr wenig, was ich mit eigenen Augen von der Welt gesehen habe, aber durch jenen Mann bekam ich eine Ahnung von dem, was man Geschichte nennt, und es mag sein, daß ich schon damit den Grund zu der Isolierung legte, in die ich nach meiner Rückkehr geriet. Meine Rückkehr aus dem Kloster geschah in ein nahezu geschichtsloses Land, in eine Provinz von Gelehrten und Glasperlenspielern, eine höchst vornehme und auch höchst angenehme Gesellschaft, in welcher ich aber mit meiner Ahnung von der Welt, meiner Neugierde auf sie, meiner Teilnahme für sie ganz allein zu stehen schien. Es war genug da, um mich dafür zu entschädigen; es gab da einige Männer, die ich hoch verehrte und deren Kollege zu werden mir eine beschämende und beglückende Ehre war, und eine Menge von gut erzogenen und hochgebildeten Leuten, es gab auch Arbeit genug und recht viele begabte und liebenswerte Schüler. Nur hatte ich während meiner Lehrzeit bei Pater Jakobus die Entdeckung gemacht, daß ich nicht nur ein Kastalier, sondern auch ein Mensch sei, daß die Welt, die ganze Welt mich angehe und Anspruch auf mein Mitleben in ihr habe. Aus dieser Entdeckung folgten Bedürfnisse, Wünsche, Forderungen, Verpflichtungen, denen ich in keiner Weise nachleben durfte. Das Leben der Welt, wie es der Kastalier ansieht, war etwas Zurückgebliebenes und Minderwertiges, ein Leben der Unordnung und Roheit, der Leidenschaften und der Zerstreutheit, es war nichts Schönes und Begehrenswertes. Aber die Welt und ihr Leben war ja unendlich viel größer und reicher als die Vorstellungen, die sich ein Kastalier von ihr machen konnte, sie war voll Werden, voll Geschichte, voll Versuch und ewig neuem Anfang, sie war vielleicht chaotisch, aber sie war die Heimat und der Mutterboden aller Schicksale, aller Erhebungen, aller Künste, alles Menschentums, sie hatte die Sprachen, die Völker, die Staaten, die Kulturen, sie hatte auch uns und unser Kastalien hervorgebracht und würde sie alle wieder sterben sehen und überdauern. Zu dieser Welt hatte mein Lehrer Jakobus eine Liebe in mir erweckt, welche beständig wuchs und Nahrung suchte, und in Kastalien war nichts, was ihr Nahrung gab, hier war man außerhalb der Welt, war selbst eine kleine, vollkommene und nicht mehr werdende, nicht mehr wachsende Welt.«

Er atmete tief und schwieg eine Weile. Da der Vorstand nichts entgegnete und ihn nur erwartend ansah, nickte er ihm sinnend zu und fuhr fort: »Ich hatte nun zwei Bürden zu tragen, manche Jahre. Ich hatte ein großes Amt zu verwalten und seine Verantwortung zu tragen, und ich hatte mit meiner Liebe fertig zu werden. Das Amt, so viel war mir von Anfang an klar, durfte unter dieser Liebe nicht leiden. Im Gegenteil, es sollte, wie ich dachte, Gewinn von ihr haben. Sollte ich, was ich aber nicht hoffte, meine Arbeit um etwas weniger vollkommen und tadellos tun, als man von einem Magister erwarten kann, so wußte ich doch, daß ich im Herzen wacher und lebendiger war als mancher makellose Kollege und daß ich meinen Schülern und Mitarbeitern dies und jenes zu geben hatte. Meine Aufgabe sah ich darin, das kastalische Leben und Denken ohne Bruch mit der Überlieferung langsam und sanft zu erweitern und zu erwärmen, ihm von der Welt und Geschichte her neues Blut zuzuführen, und eine hübsche Fügung hat es gewollt, daß zur selben Zeit draußen im Lande ein Weltmensch genau ebenso empfand und dachte und von einer Befreundung und Durchdringung von Kastalien und Welt geträumt hat: es war Plinio Designori.«

Meister Alexander verzog den Mund ein wenig, als er sagte: »Nun ja, vom Einfluß dieses Mannes auf Euch habe ich nie viel Erfreuliches erwartet, so wenig wie von Eurem ungeratenen Schützling Tegularius. Und Designori ist es also, der Euch vollends zum Bruch mit der Ordnung gebracht hat?«

»Nein, Domine, aber er hat mir, zum Teil ohne es zu wissen, dabei geholfen. Er brachte etwas Luft in meine Stille, ich kam durch ihn wieder in Berührung mit der Außenwelt, und so erst wurde es mir möglich, einzusehen und mir selber einzugestehen, daß ich am Ende meiner hiesigen Laufbahn sei, daß mir die eigentliche Freude an meiner Arbeit verlorengegangen und daß es Zeit sei, der Plage ein Ende zu machen. Es war wieder eine Stufe zurückgelegt, ich hatte einen Raum durchschritten, und der Raum war diesmal Kastalien.«