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Knecht hatte gestern auf seiner Fahrt nach Hirsland beschlossen: was immer dort geschehen möge, es unter keinen Umständen zu bereuen. Für heute nun verbot er sich, an die Einzelheiten seiner Gespräche mit Alexander zu denken, an seinen Kampf mit ihm, seinen Kampf um ihn. Er stand ganz dem Gefühl von Entspannung und Freiheit offen, das ihn erfüllte wie einen Bauer nach getanem Tagewerk das Feierabendgefühl, er wußte sich geborgen und zu nichts verpflichtet, wußte sich für einen Augenblick vollkommen entbehrlich und ausgeschaltet, zu keiner Arbeit, keinem Denken verpflichtet, und der lichte farbige Tag umgab ihn sanft strahlend, ganz Bild, ganz Gegenwart, ohne Forderung, ohne Gestern und Morgen. Zuweilen summte der Zufriedene im Gehen eines der Marschlieder vor sich hin, die sie einst als kleine Eliteschüler in Eschholz auf Ausflügen drei- und vierstimmig gesungen hatten, und es kamen ihm aus der heitern Morgenfrühe seines Lebens kleine helle Erinnerungen und Klänge herübergeflogen wie Vogelgezwitscher.

Unter einem Kirschbaume mit schon ins Purpurne spielendem Laube machte er halt und setzte sich ins Gras. Er griff in die Brusttasche seines Rockes und zog ein Ding hervor, das Meister Alexander nicht bei ihm vermutet hätte, eine kleine hölzerne Flöte nämlich, die er mit einer gewissen Zärtlichkeit betrachtete. Er besaß dieses naiv und kindlich aussehende Instrument noch nicht sehr lange, ein halbes Jahr etwa, und erinnerte sich mit Vergnügen des Tages, an dem es in seinen Besitz gelangt war. Er war damals nach Monteport gefahren, um mit Carlo Ferromonte einige musiktheoretische Fragen durchzusprechen; es war dabei die Rede auch auf die Holzblasinstrumente gewisser Zeitalter gekommen, und er hatte seinen Freund gebeten, ihm die Monteporter Instrumentensammlung zu zeigen. Nach dem genußreichen Gang durch einige Säle voll alter Orgeltische, Harfen, Lauten, Klaviere waren sie in ein Magazin gekommen, wo Instrumente für die Schulen aufbewahrt wurden. Dort hatte Knecht eine ganze Lade voll solcher kleiner Flötchen liegen sehen, hatte eines betrachtet und probiert und den Freund gefragt, ob er wohl eine dieser Flöten mitnehmen dürfe. Lachend hatte Carlo ihn gebeten, sich eine auszusuchen, hatte ihn lachend eine Quittung darüber unterschreiben lassen, ihm dann aber äußerst genau den Bau des Instrumentes, seine Handhabung und die Technik des Spieles auf ihm erklärt. Knecht hatte das hübsche Spielzeugchen mitgenommen und hatte, da er seit der Blockflöte seiner Eschholzer Knabenzeit nie mehr ein Blasinstrument gespielt und sich mehrmals schon vorgenommen hatte, wieder eines zu lernen, je und je darauf geübt. Nächst den Tonleitern hatte er dazu ein Heft mit alten Melodien benützt, das Ferromonte für Anfänger herausgegeben hatte, und je und je war aus dem Magistergarten oder aus seinem Schlafzimmer der sanfte süße Klang des Flötchens gedrungen. Längst war er noch kein Meister, aber eine Anzahl jener Choräle und Lieder hatte er spielen gelernt, er wußte sie auswendig, und von manchen auch die Texte. Eines dieser Lieder, zur Stunde wohl passend, kam ihm in den Sinn. Er sagte ein paar Verszeilen vor sich hin:

Mein Haupt und Glieder, Die lagen darnieder, Aber nun steh ich, Bin munter und fröhlich, Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.

Dann setzte er das Instrument an die Lippen und blies die Melodie, schaute in die sanft glänzende Weite gegen das ferne Hochgebirge hin, hörte das heiter fromme Lied im süßen Flötenton dahinklingen und fühlte sich mit Himmel, Bergen, Lied und Tag einig und zufrieden. Mit Vergnügen fühlte er das glatte runde Holz zwischen seinen Fingern und dachte daran, daß außer dem Kleid auf seinem Leibe dies Flötchen das einzige Stück Eigentum war, das er sich erlaubt hatte, von Waldzell mitzunehmen. Es hatte sich in den Jahren manches um ihn angesammelt, was mehr oder weniger die Eigenschaft persönlichen Besitztums trug, vor allem an Aufzeichnungen, Exzerptheften und dergleichen; das alles hatte er zurückgelassen, es mochte vom Spielerdorf beliebig verwendet werden. Das Flötchen aber hatte er mitgenommen und war froh darüber, es bei sich zu haben; es war ein bescheidener und liebenswürdiger Reisekamerad.

Andern Tages traf der Wanderer in der Hauptstadt ein und sprach im Hause Designori vor. Plinio kam ihm die Treppe herab entgegen und umarmte ihn bewegt.

»Wir haben dich sehnlich und mit Sorgen erwartet,« rief er. »Du hast einen großen Schritt getan, Freund, möge er uns allen Gutes bringen. Aber daß sie dich fortgelassen haben! Ich hätte es nie geglaubt.«

Knecht lachte. »Du siehst, ich bin da. Aber davon werde ich dir gelegentlich erzählen. Jetzt möchte ich vor allem meinen Schüler begrüßen und natürlich auch deine Frau und alles mit euch besprechen, wie wir es mit meinem neuen Amt halten wollen. Ich bin begierig darauf, es anzutreten.«

Plinio rief eine Magd herbei und gab ihr den Auftrag, sofort seinen Sohn zu holen.

»Den jungen Herrn?« fragte sie, anscheinend verwundert, lief dann aber rasch davon, während der Hausherr seinen Freund in dessen Gastzimmer führte und ihm eifrig zu berichten begann, wie er alles für Knechts Ankunft und sein Zusammenleben mit dem jungen Tito vorbedacht und vorbereitet habe. Alles habe sich nach Knechts Wünschen einrichten lassen, auch Titos Mutter habe diese Wünsche nach einigem Widerstreben begriffen und sich ihnen gefügt. Sie besäßen ein Ferienhäuschen im Gebirge, Belpunt geheißen, hübsch an einem See gelegen, dort sollte Knecht mit seinem Zögling vorerst leben, eine alte Magd werde sie bedienen, sie sei schon dieser Tage hingereist, um alles einzurichten. Freilich sei dies nur ein Aufenthalt für kürzere Zeit, bis zum Eintritt des Winters höchstens, aber gerade für diese erste Zeit sei gewiß eine solche Abgeschiedenheit nur förderlich. Auch sei es ihm lieb, daß Tito ein großer Freund der Berge und jenes Hauses Belpunt sei, so daß er sich auf den Aufenthalt dort oben freue und ohne Widerstreben hingehe. Es fiel Designori ein, daß er eine Mappe mit Lichtbildern von Haus und Gegend besitze; er zog Knecht mit sich in sein Arbeitszimmer, suchte eifrig nach der Mappe und begann, als er sie gefunden und geöffnet hatte, seinem Gaste das Haus zu zeigen und zu schildern, die Bauernstube, den Kachelofen, die Lauben, den Badeplatz am See, den Wasserfall.

»Gefällt es dir?« fragte er angelegentlich. »Wirst du dich dort wohlfühlen können?«

»Warum nicht?« sagte Knecht gelassen. »Aber wo bleibt wohl Tito? Es ist schon eine gute Weile her, seit du nach ihm geschickt hast.«

Sie sprachen noch ein wenig hin und her, dann hörte man Schritte draußen, die Tür ging auf, und es kam jemand herein, doch war es weder Tito noch die nach ihm ausgesandte Magd. Es war Titos Mutter, Frau Designori. Knecht erhob sich zur Begrüßung, sie streckte ihm die Hand entgegen und lächelte ihn mit einer etwas mühsamen Freundlichkeit an, während er sah, daß unter diesem höflichen Lächeln ein Ausdruck von Sorge oder Ärger lag. Sie hatte kaum ein paar Worte des Willkommens hervorgebracht, als sie sich ihrem Mann zuwandte und sich ungestüm der Mitteilung entledigte, welche ihr auf der Seele lag.

»Es ist wirklich peinlich,« rief sie, »denke dir, der Junge ist verschwunden und nirgends zu finden.«

»Nun, er wird ausgegangen sein,« beruhigte Plinio. »Er wird schon kommen.«

»Leider ist das nicht wahrscheinlich,« sagte die Mutter, »er ist nämlich schon seit heut morgen fort. Ich habe es schon in der Frühe bemerkt.«

»Und warum erfahre ich es erst jetzt?«

»Weil ich natürlich mit jeder Stunde seine Rückkehr erwartete und weil ich dich nicht unnütz aufregen wollte. Anfangs dachte ich ja auch gar nicht an etwas Schlimmes, ich dachte, er sei spazierengegangen. Erst als er mittags ausblieb, begann ich mir Sorge zu machen. Du warst heut zu Tische nicht da, sonst hättest du es mittags erfahren. Auch da noch wollte ich mir einreden, es sei nur eine Nachlässigkeit von ihm, mich so lang warten zu lassen. Aber das war es also nicht.«

»Erlauben Sie mir eine Frage,« sagte Knecht. »Der junge Mann hat doch von meiner baldigen Ankunft und von Ihren Absichten mit ihm und mir gewußt?«

»Selbstverständlich, Herr Magister, und er schien mit diesen Absichten sogar nahezu zufrieden, zumindest war es ihm lieber, Sie zum Lehrer zu bekommen, als nochmals auf irgendeine Schule geschickt zu werden.«

»Nun,« meinte Knecht, »dann ist ja alles gut. Ihr Sohn, Signora, ist an sehr viel Freiheit gewöhnt, besonders in letzter Zeit, da ist ihm die Aussicht auf einen Erzieher und Zuchtmeister begreiflicherweise eher fatal. Und so hat er sich im Augenblick, ehe er dem neuen Lehrer übergeben werden sollte, davongemacht, vielleicht weniger in der Hoffnung, seinem Schicksal wirklich zu entlaufen, als in der Meinung, bei einem Aufschub könne er nichts verlieren. Und außerdem wollte er vermutlich seinen Eltern und dem von ihnen bestellten Schulmeister einen Puff geben und seinen Trotz gegen die ganze Welt der Erwachsenen und Lehrer zum Ausdruck bringen.«

Designori war es lieb, daß Knecht den Vorfall so wenig tragisch nahm. Er selbst aber war voll Sorge und Beunruhigung, seinem liebenden Herzen schien jede Gefährdung des Sohnes möglich. Vielleicht, dachte er, war er allen Ernstes entflohen, vielleicht dachte er sogar daran, sich ein Leid anzutun? Ach, alles, was in der Erziehung dieses Knaben versäumt und falsch gemacht worden war, schien sich jetzt rächen zu sollen, grade im Augenblick, wo man es gutzumachen hoffte.

Gegen Knechts Rat bestand er darauf, daß etwas geschehe, etwas getan werde; er fühlte sich unfähig, den Schlag leidend und untätig hinzunehmen, und steigerte sich in eine Ungeduld und nervöse Aufgeregtheit hinein, die seinem Freunde höchlich mißfiel. So beschloß man denn, Botschaften in einige Häuser zu senden, in welchen Tito zuweilen bei Altersgenossen verkehrte. Knecht war froh, als Frau Designori gegangen war, um dies anzuordnen, und er den Freund für sich allein hatte.

»Plinio,« sagte er, »du machst ein Gesicht, als hätte man dir deinen Sohn tot ins Haus getragen. Er ist kein kleines Kind mehr und wird weder unter einen Wagen geraten sein noch Tollkirschen gegessen haben. Also fasse dich, Lieber. Da das Söhnchen nicht da ist, erlaube mir, für einen Augenblick an seiner Stelle dich in die Schule zu nehmen. Ich habe dich ein wenig beobachtet und finde, daß du nicht eben gut in Form bist. In dem Augenblick, in dem ein Athlet einen unerwarteten Schlag oder Druck erleidet, macht seine Muskulatur wie von selbst die nötigen Bewegungen, dehnt oder duckt sich und hilft ihm, der Lage Herr zu werden. So hättest du, Schüler Plinio, im Augenblick, als du den Schlag empfingst – oder was dir übertriebenerweise wie ein Schlag vorkam –, das erste Abwehrmittel bei seelischen Angriffen anwenden und auf langsame, sorgfältig beherrschte Atmung bedacht sein müssen. Statt dessen hast du geatmet wie ein Schauspieler, der Erschüttertsein darstellen muß. Du bist nicht gut genug gerüstet, ihr Weltleute scheinet dem Leiden und den Sorgen auf eine ganz besondere Art offenzustehen. Es hat etwas Hilfloses und Rührendes und manchmal, nämlich wenn es sich um echte Leiden handelt und das Martyrium Sinn hat, auch etwas Großartiges. Aber für den Alltag ist dieser Verzicht auf Abwehr keine Waffe; ich werde dafür sorgen, daß dein Sohn einmal besser gerüstet sein wird, wenn er es nötig hat. Und jetzt, Plinio, sei so gut und mache ein paar Übungen mit mir, damit ich sehe, ob du wirklich alles schon wieder verlernt hast.«