Mit den Atemübungen, zu denen er streng rhythmische Kommandos gab, lenkte er den Freund heilsam von seiner Selbstquälerei ab, und danach fand er ihn auch willig, auf Vernunftgründe zu hören und den Schreckens- und Sorgenaufwand wieder abzubauen. Sie gingen in Titos Zimmer hinauf; mit Vergnügen betrachtete Knecht das Durcheinander knabenhafter Besitztümer, er griff nach einem auf dem Tischchen beim Bett liegenden Buch, sah ein darein gestecktes Stück Papier hervorragen, und siehe, es war ein Zettel mit einer Botschaft des Verschwundenen. Er reichte das Blatt Designori hin und lachte, und auch dessen Gesicht ward nun wieder hell. Auf dem Zettel teilte Tito seinen Eltern mit, er sei heute in aller Frühe aufgebrochen und reise allein ins Gebirge, wo er in Belpunt auf den neuen Lehrer warte. Man möge ihm, ehe seine Freiheit wieder so lästig beschränkt werde, dieses kleine Vergnügen gönnen, er habe einen unüberwindlichen Widerwillen dagegen, diese schöne kleine Reise in Begleitung des Lehrers, schon als Beaufsichtigter und Gefangener, zu machen.
»Sehr verständlich,« meinte Knecht. »Ich werde ihm also morgen nachreisen und ihn wohl schon in deinem Landhaus finden. Jetzt aber geh vor allem zu deiner Frau und bringe ihr die Nachricht.«
Für den Rest dieses Tages war die Stimmung im Hause heiter und entspannt. An jenem Abend hat Knecht auf Plinios Drängen dem Freund in Kürze die Vorgänge der letzten Tage und namentlich seine beiden Gespräche mit Meister Alexander erzählt. An jenem Abend hat er auch einen wunderlichen Vers auf ein Zettelchen geschrieben, das heute im Besitz Tito Designoris ist. Damit hat es folgende Bewandtnis:
Der Hausherr hatte ihn vor der Abendmahlzeit für eine Stunde allein gelassen. Knecht sah einen Schrank voll alter Bücher stehen, der seine Neugierde weckte. Auch dies war ein Vergnügen, das er in vielen Jahren der Enthaltsamkeit verlernt und beinah vergessen hatte und das ihn jetzt innig an seine Studenten jähre erinnerte: vor unbekannten Büchern stehen, aufs Geratewohl hineingreifen und sich da und dort einen Band herausfischen, dessen Vergoldung oder Autorname, dessen Format oder Lederfarbe einen ansprach. Mit Behagen überflog er vorerst die Titel auf den Bücherrücken und stellte fest, daß es lauter schöne Literatur des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts sei, was er da vor sich habe. Schließlich zog er einen abgebleichten Leinenband heraus, dessen Titel »Weisheit des Brahmanen« ihn lockte. Stehend erst, dann sitzend blätterte er in dem Buch, das viele Hunderte von Lehrgedichten enthielt, ein kurioses Nebeneinander von lehrhafter Gesprächigkeit und wirklicher Weisheit, von Philistrosität und echtem Dichtergeist. Es fehlte diesem sonderbaren und rührenden Buch, so wollte es ihm scheinen, keineswegs an Esoterik, aber sie stak in derben hausbackenen Schalen, und nicht jene Gedichte darin waren die hübschesten, in welchen wirklich eine Lehre und Weisheit nach Gestalt strebte, sondern jene, in welchen des Dichters Gemüt, sein Liebesvermögen, seine Redlichkeit und Menschenliebe, sein bürgerlich gediegener Charakter Ausdruck fand. Indem er mit einer eigenen Mischung von Respekt und Belustigung in das Buch einzudringen versuchte, fiel ein Vers ihm in die Augen, den er mit Befriedigung und Zustimmung in sich einließ und dem er lächelnd zunickte, als sei er ihm eigens für diesen Tag entgegengeschickt. Er hieß:
Er zog die Schublade des Schreibtisches, suchte und fand ein Blättchen Papier und schrieb sich die Verse darauf ab. Später zeigte er sie Plinio und sagte dazu: »Die Verse haben mir gefallen, sie haben etwas Besonderes: so trocken und zugleich so innig! Und sie passen so gut auf mich und meine augenblickliche Lage und Stimmung. Wenn ich auch kein Gärtner bin und meine Tage nicht der Pflege einer seltenen Pflanze widmen will, so bin ich doch ein Lehrer und Erzieher, und bin auf dem Wege zu meiner Aufgabe, zu dem Kind, das ich erziehen will. Wie sehr freue ich mich darauf! Was nun den Verfasser dieser Verse betrifft, den Dichter Rückert, so hat er vermutlich diese drei edlen Passionen alle gehabt, die des Gärtners, die des Erziehers und die des Autors, und grade diese wird wohl bei ihm den ersten Platz eingenommen haben, er nennt sie an letzter und bedeutsamster Stelle, und er ist in den Gegenstand seiner Passion so sehr verliebt, daß er zärtlich wird und ihn nicht Buch, sondern »Büchlein« nennt. Wie rührend ist das.«
Plinio lachte. »Wer weiß,« meinte er, »ob das hübsche Diminutiv nicht bloß ein Kniff des Reimschmiedes ist, der an dieser Stelle ein zweisilbiges Wort statt des einsilbigen brauchte.«
»Wir wollen ihn doch nicht unterschätzen,« verteidigte sich Knecht. »Ein Mann, der Zehntausende von Verszeilen in seinem Leben geschrieben hat, läßt sich nicht von einer schäbigen metrischen Notdurft in die Enge treiben. Nein, höre doch nur hin, wie zärtlich und auch ein wenig verschämt das klingt: ein Büchlein, das wir schreiben! Vielleicht ist es auch nicht bloß Verliebtheit, was aus dem »Buch« ein »Büchlein« gemacht hat. Vielleicht ist es auch beschönigend und versöhnend gemeint. Vielleicht, ja wahrscheinlich war dieser Dichter ein so an sein Tun hingegebener Autor, daß er selber je und je seinen Hang zum Büchermachen als eine Art Leidenschaft und Laster empfand. Dann hätte das Wort »Büchlein« nicht nur den verliebten Sinn und Klang, sondern auch den beschönigenden, ableitenden, entschuldigenden, den der Spieler meint, wenn er nicht zu einem Spiel, sondern zu einem »Spielchen« einlädt, und der Trinker, wenn er noch ein »Gläschen« oder »Schöppchen« verlangt. Nun, das sind Vermutungen. Auf jeden Fall hat der Sänger zu dem Kind, das er erziehen, und dem Büchlein, das er schreiben will, meine volle Zustimmung und mein Mitgefühl. Denn nicht bloß die Leidenschaft des Erziehenwollens ist mir bekannt, nein, auch das Büchleinschreiben ist eine Passion, die mir nicht gar zu ferne liegt. Und jetzt, da ich mich vom Amt befreit habe, hat der Gedanke wieder etwas köstlich Lockendes für mich: einmal in Muße und bei guter Laune ein Buch zu schreiben, nein; ein Büchlein, eine kleine Schrift für Freunde und Gesinnungskameraden.« »Und worüber?« fragte Designori neugierig.
»Ach, einerlei, es käme auf den Gegenstand nicht an. Er würde mir nur ein Anlaß sein, mich einzuspinnen und das Glück zu genießen, viel freie Zeit zu haben. Worauf es mir dabei ankäme, das wäre der Ton, eine schickliche Mitte zwischen Ehrfurcht und Vertraulichkeit, zwischen Ernst und Spielerei, ein Ton nicht der Belehrung, sondern der freundschaftlichen Mitteilung und Aussprache über dies und jenes, was ich erfahren und gelernt zu haben glaube. Die Art, wie dieser Friedrich Rückert das Belehren und das Denken, das Mitteilen und Plaudern in seinen Versen mischt, wäre wohl nicht die meine, und doch spricht etwas in dieser Art mich liebenswürdig an, sie ist persönlich und doch nicht willkürlich, sie ist spielerisch und bindet sich doch an feste Formregeln, das gefällt mir. Nun, vorläufig werde ich zu den Freuden und Problemen des Büchleinschreibens nicht kommen, ich habe mich jetzt für anderes zusammenzuhalten. Aber später einmal, denke ich mir, könnte mir wohl noch das Glück einer Autorschaft blühen, wie sie mir vorschwebt, ein behagliches, aber sorgfältiges Anfassen der Dinge, nicht zum einsamen Vergnügen nur, sondern stets im Gedanken an einige wenige gute Freunde und Leser.«
Am nächsten Morgen trat Knecht seine Reise nach Belpunt an. Designori hatte ihm gestern erklärt, er wolle ihn dorthin begleiten, dies hatte er entschieden abgelehnt und, als jener doch noch ein Wort der Überredung wagte, ihn beinahe angefahren. »Der Junge,« sagte er kurz, »wird genug zu tun haben, um dem fatalen neuen Lehrer zu begegnen und ihn zu verdauen, wir dürfen ihm nicht dazu auch noch den Anblick seines Vaters zumuten, der ihn grade jetzt schwerlich beglücken würde.«
Während er in dem von Plinio für ihn gemieteten Reisewagen durch den frischen Septembermorgen fuhr, kehrte ihm die gute Reiselaune von gestern zurück. Er unterhielt sich des öftern mit dem Wagenführer, ließ zuweilen halten oder langsam fahren, wenn die Landschaft ihn anzog, spielte auch mehrmals die kleine Flöte. Es war eine schöne und spannende Fahrt, aus der Hauptstadt und Niederung den Vorbergen und weiter dem Hochgebirg entgegen, und zugleich führte sie aus dem zu Ende gehenden Sommer mehr und mehr in den Herbst hinein. Um Mittag etwa begann der letzte große Anstieg in großen Kurven durch schon spärlich werdenden Nadelwald, an schäumenden, zwischen Felsen brausenden Bergbächen hin, über Brücken und an einsam stehenden, schwer gemauerten, kleinfenstrigen Gehöften vorbei in die steinerne, immer strenger und rauher werdende Gebirgswelt hinein, in deren Härte und Ernst die vielen kleinen Blumenparadiese doppelt lieblich blühten.
Das kleine Landhaus, das man endlich erreichte, lag an einem Bergsee in den grauen Felsen versteckt, von denen es sich kaum abhob. Bei seinem Anblick empfand der Reisende die Strenge, ja Finsterkeit dieser dem rauhen Hochgebirge angepaßten Bauart; gleich darauf aber erhellte ein heiteres Lächeln sein Gesicht, denn in der offenstehenden Haustüre sah er eine Gestalt stehen, einen Jüngling in farbiger Jacke und kurzer Hose, es konnte nur sein Schüler Tito sein, und obwohl er dieses Flüchtlings wegen nicht eigentlich und ernstlich besorgt gewesen war, atmete er doch befreit und dankbar auf. Wenn Tito hier war und den Lehrer auf der Schwelle des Hauses begrüßte, so war alles gut, und es fiel manche Verwicklung dahin, deren Möglichkeit er unterwegs immerhin in Betracht gezogen hatte.
Der Knabe kam ihm entgegen, lächelnd und freundlich und ein klein wenig verlegen, er half ihm aussteigen und sagte dabei: »Es war nicht böse gemeint, daß ich Sie die Reise allein machen ließ.« Und noch ehe Knecht hatte antworten können, fügte er zutraulich hinzu: »Ich glaube, Sie haben verstanden, wie es gemeint war. Sonst hätten Sie gewiß meinen Vater mitgebracht. Daß ich gut angekommen bin, habe ich ihm schon gemeldet.«
Knecht drückte ihm lachend die Hand und ließ sich von ihm ins Haus führen, wo auch die Magd ihn begrüßte und ihm ein baldiges Abendessen verhieß. Als er nun, einem ungewohnten Bedürfnis nachgebend, sich vor Tisch ein wenig auf das Ruhebett legte, wurde ihm erst bewußt, daß er von der schönen Wagenfahrt merkwürdig ermüdet, ja erschöpft war, und während er den Abend mit seinem Schüler verplauderte und sich dessen Sammlungen von Bergblumen und Schmetterlingen zeigen ließ, nahm diese Müdigkeit noch zu, er fühlte sogar etwas wie Schwindel, eine noch nie empfundene Leere im Kopf und eine lästige Schwäche und Ungleichmäßigkeit des Herzschlags. Doch blieb er bis zur vereinbarten Schlafenszeit mit Tito sitzen und gab sich Mühe, nichts von seinem Unwohlsein merken zu lassen. Der Schüler wunderte sich ein wenig darüber, daß der Magister kein Wort von Schulbeginn, Stundenplan, letzten Zeugnissen und dergleichen Dingen sagte, ja als Tito einen Versuch wagte, diese gute Stimmung auszunützen, und für morgen früh einen größeren Spaziergang vorschlug, um den Lehrer mit der neuen Umgebung bekannt zu machen, wurde der Vorschlag freundlich angenommen.