Ähnlich wie jener Abend mit dem Gang von der Märchenerzählerin zu den Töpfen am Herd des Alten hat sich eine andere Stunde in Knechts Gedächtnis geprägt, eine Stunde zwischen Nacht und Morgen, da ihn der Meister zwei Stunden nach Mitternacht geweckt hatte und mit ihm in tiefer Finsternis hinausgegangen war, um ihm den letzten Aufgang einer schwindenden Mondsichel zu zeigen. Da harrten sie, der Meister in schweigsamer Regungslosigkeit, der Junge etwas furchtsam und vor Mangel an Schlaf fröstelnd, inmitten der Waldhügel auf einer frei vorgebauten Felsplatte lange Zeit, bis an der vom Meister vorbezeichneten Stelle und in der von ihm vorausbeschriebenen Gestalt und Neigung der dünne Mond hervorkam, ein zarter gebogener Strich. Bang und bezaubert starrte Knecht auf das langsam steigende Gestirn, zwischen Wolkenfinsternissen schwamm es sanft in einer klaren Himmelsinsel hinan.
»Bald wird er seine Gestalt wechseln und wieder anschwellen, dann kommt die Zeit, um den Buchweizen auszusäen,« sagte der Regenmacher, die Tage an seinen Fingern vorzählend. Dann versank er wieder in das vorige Schweigen, wie alleingelassen kauerte Knecht auf dem tauglänzenden Stein und zitterte vor Kühle, aus der Waldtiefe kam ein langgezogener Eulenschrei herauf. Lange sann der Alte, dann erhob er sich, legte die Hand auf Knechts Haar und sagte leise, wie aus einem Traum heraus: »Wenn ich gestorben bin, fliegt mein Geist in den Mond. Du wirst dann ein Mann sein und eine Frau haben, meine Tochter Ada wird deine Frau sein. Wenn sie einen Sohn von dir bekommt, wird mein Geist zurückkehren und in eurem Sohn wohnen, und du wirst ihn Turu nennen, wie ich Turu hieß.«
Staunend hörte der Lehrling zu, er wagte kein Wort zu sagen, die dünne Silbersichel stieg und war schon halb von den Wolken verschlungen. Wunderlich berührte den jungen Menschen eine Ahnung von vielen Zusammenhängen und Verknüpfungen, Wiederholungen und Kreuzungen zwischen den Dingen und Geschehnissen, wunderlich fand er sich als Zuschauer und auch als Mitspieler vor diesen fremden, nächtlichen Himmel gestellt, wo über den unendlichen Wäldern und Hügeln die scharfe dünne Sichel, vom Meister genau vor verkündet, erschienen war; wunderbar erschien ihm der Meister und in tausend Geheimnisse eingehüllt, er, der an seinen eigenen Tod dachte, er, dessen Geist im Monde weilen und vom Monde zurück in einen Menschen kehren würde, welcher Knechts Sohn sein und des gewesenen Meisters Namen tragen sollte.
Wunderlich aufgerissen und stellenweise durchsichtig gleich dem Wolkenhimmel schien die Zukunft, schien das Schicksal vor ihm zu liegen, und daß man von ihnen wissen, sie nennen und von ihnen sprechen konnte, schien ihm wie ein Ausblick in unabsehbare Räume voll von Wundern und doch voll Ordnung. Einen Augenblick schien alles ihm vom Geiste erfaßbar, alles wißbar, alles belauschbar, der leise, sichere Gang der Gestirne oben, das Leben der Menschen und Tiere, ihre Gemeinschaften und Feindschaften, Begegnungen und Kämpfe, alles Große und Kleine samt dem in jedem Lebendigen mit eingeschlossenen Tod, das alles sah oder fühlte er in einem ersten Ahnungsschauer als ein Ganzes und sich selbst darin eingeordnet und einbezogen als etwas durchaus Geordnetes, von Gesetzen Beherrschtes, dem Geiste Zugängliches. Es war die erste Ahnung von den großen Geheimnissen, ihrer Würde und Tiefe sowohl wie ihrer Wißbarkeit, die den Jüngling in dieser nächtlich-morgendlichen Waldkühle auf dem Felsen über den tausend flüsternden Wipfeln wie eine Geisterhand berührte. Er konnte nicht davon sprechen, damals nicht und in seinem ganzen Leben nicht, aber daran denken mußte er viele Male, ja es war in seinem weiteren Leben und Erfahren immer diese Stunde und ihr Erlebnis mit gegenwärtig. »Denke daran,« mahnte sie, »denke daran, daß es dies alles gibt, daß zwischen dem Mond und dir und Turu und Ada Strahlen und Ströme gehen, daß es den Tod gibt und das Seelenland und die Wiederkehr von dort und daß auf alle Bilder und Erscheinungen der Welt es eine Antwort innen in deinem Herzen gibt, daß alles dich angeht, daß du von allem so viel wissen solltest, als dem Menschen irgend zu wissen möglich ist.« So etwa sprach diese Stimme. Für Knecht war es das erstemal, daß er die Stimme des Geistes so vernahm, ihre Verlockung, ihre Forderung, ihr magisches Werben. Schon manchen Mond hatte er am Himmel wandern sehen und manchen nächtlichen Eulenruf gehört, und aus dem Mund des Meisters, so wenig redselig er sein mochte, hatte er schon manches Wort alter Weisheit oder einsamer Betrachtung vernommen – in der heutigen Stunde aber war es neu und anders, es war die Ahnung vom Ganzen, die ihn getroffen hatte, das Gefühl der Zusammenhänge und Beziehungen, der Ordnung, die ihn selbst mit einbezog und mitverantwortlich machte. Wer den Schlüssel dazu hätte, der müßte nicht bloß aus den Fußspuren ein Tier, an den Wurzeln oder Samen eine Pflanze zu erkennen imstande sein, er müßte das Ganze der Welt: die Gestirne, die Geister, die Menschen, die Tiere, die Heilmittel und Gifte, alles müßte er in seiner Ganzheit erfassen und aus jedem Teil und Zeichen jeden ändern Teil ablesen können. Es gab gute Jäger, die konnten aus einer Spur, aus einer Losung, aus einem Haar und Überbleibsel mehr erkennen als andre: sie erkannten an ein paar winzigen Haaren nicht nur, von welcher Art Tier sie stammten, sondern auch, ob es alt oder jung, Männchen oder Weibchen sei. Andre erkannten an einer Wolkenform, an einem Geruch in der Luft, an einem besondern Verhalten der Tiere oder Pflanzen das kommende Wetter für Tage voraus; sein Meister war darin unerreicht und nahezu unfehlbar. Andre wieder hatten eine angeborene Geschicklichkeit: es gab Knaben, die vermochten mit den Steinen einen Vogel auf dreißig Schritt zu treffen, sie hatten es nicht gelernt, sie konnten es einfach, es geschah nicht durch Bemühung, sondern durch Zauber oder Gnade, der Stein in ihrer Hand flog von selbst, der Stein wollte treffen, und der Vogel wollte getroffen sein. Andre sollte es geben, welche die Zukunft vorauswußten: ob ein Kranker sterben werde oder nicht, ob eine Schwangere Knaben oder Mädchen gebären werde; die Tochter der Ahnnmtter war dafür berühmt, und auch der Wettermacher besaß, sagte man, etwas von solchem Wissen. Es mußte nun, so schien es Knecht in jenem Augenblick, im riesigen Netz der Zusammenhänge einen Mittelpunkt geben, von dem aus alles gewußt, alles Vergangene und alles Kommende gesehen und abgelesen werden konnte. Dem, der an diesem Mittelpunkt stünde, müßte das Wissen zulaufen wie dem Tal das Wasser und dem Kohl der Hase, sein Wort müßte scharf und unfehlbar treffen wie der Stein aus der Hand des Scharfschützen, er müßte kraft des Geistes alle diese einzelnen wunderbaren Gaben und Fähigkeiten in sich vereinen und spielen lassen: dies wäre der vollkommene, weise, unübertreffliche Mensch! So wie er zu werden, sich ihm anzunähern, zu ihm unterwegs zu sein: das war der Weg der Wege, das war das Ziel, das gab einem Leben Weihe und Sinn. So etwa empfand er es, und was wir in unsrer ihm unbekannten, begrifflichen Sprache darüber zu sagen versuchen, kann nichts von deren Schauer und von der Glut seines Erlebnisses mitteilen. Das nächtliche Aufstehen, die Führung durch den finstern, lautlosen Wald voll Gefahr und Geheimnis, das Harren auf der Steinplatte oben in der Morgenkälte, das Erscheinen des dünnen Mondgespenstes, die spärlichen Worte des weisen Mannes, das Alleinsein mit dem Meister zu außerordentlicher Stunde, dies alles wurde von Knecht als eine Feier und ein Mysterium erlebt und aufbewahrt, als Feier der Initiation, als seine Aufnahme in einen Bund und Kult, in ein dienendes, aber ehrenvolles Verhältnis zum Unnennbaren, zum Weltgeheimnis. Zu Gedanken oder gar zu Worten konnte dies Erlebnis und manches ähnliche nicht werden, und ferner und unmöglicher noch als jeder andre Gedanke wäre etwa dieser gewesen: »Bin nur ich allein es, der dies Erlebnis schafft, oder ist es objektive Wirklichkeit? Fühlt der Meister dasselbe wie ich, oder lächelt er über mich? Sind meine Gedanken bei diesem Erlebnis neue, eigene, einmalige, oder hat der Meister und mancher vor ihm einst genau dasselbe erlebt und gedacht?« Nein, es gab diese Brechungen und Differenzierungen nicht, es war alles Wirklichkeit, war getränkt und voll von Wirklichkeit wie ein Brotteig von Hefe. Wolken, Mond und wechselndes Himmelstheater, nasser kalter Kalksteinboden unterm nackten Fuß, feuchte rieselnde Taukälte in der bleichen Nachtluft, tröstlicher Heimatgeruch nach Herdrauch und Laubstreu, aufbewahrt im Fell, das der Meister umgeschlagen trug, Klang von Würde und leiser Anklang von Alter und Todesbereitschaft in seiner rauhen Stimme – alles war überwirklich und drang beinah gewalttätig in die Sinne des Jünglings. Und für Erinnerungen sind Sinneseindrücke ein tieferer Nährboden als die besten Systeme und Denkmethoden.
Der Regenmacher gehörte zwar zu den wenigen, welche einen Beruf ausübten, eine spezielle Kunst und Fähigkeit eigens ausgebildet hatten, doch war sein Alltagsleben von dem aller andern nach außen hin nicht so sehr verschieden. Er war ein hoher Beamter und genoß Ansehen, erhielt auch Abgaben und Lohn vom Stamm, sooft er für die Allgemeinheit zu tun hatte, doch kam dies nur bei besonderen Anlässen vor. Seine weitaus wichtigste und feierlichste, ja heilige Funktion war es, im Frühling für jede Art von Frucht und Kraut den Tag der Aussaat zu bestimmen; dies tat er unter genauer Berücksichtigung des Mondstandes teils nach ererbten Regeln, teils nach der eigenen Erfahrung. Die feierliche Handlung der Saateröffnung selbst, das Ausstreuen der ersten Handvoll Korn und Samen ins Gemeindeland, gehörte aber schon nicht mehr zu seinem Amt, so hoch stand kein Mann im Range; es wurde alljährlich von der Ahnmutter selbst oder deren ältesten Verwandten vollzogen. Zur wichtigsten Person des Dorfes wurde der Meister in jenen Fällen, wo er wirklich als Wettermacher zu amten hatte. Dies geschah, wenn eine lange Trockenheit, Nässe oder Kälte die Felder belagerte und den Stamm mit Hungersnot bedrohte. Dann hatte Turu die Mittel anzuwenden, die man gegen Dürre und Mißwachs kannte: Opfer, Beschwörungen, Bittgänge. Der Sage nach gab es, wenn bei hartnäckiger Trockenheit oder endlosem Regen alle anderen Mittel versagten und die Geister durch kein Zureden, Flehen oder Drohen umzustimmen waren, noch ein letztes unfehlbares Mittel, das zu Zeiten der Mütter und Großmütter des öfteren sollte angewandt worden sein; die Opferung des Wettermachers selbst durch die Gemeinde. Die Ahnmutter, sagte man, habe dies noch erlebt und mitangesehen.
Außer der Sorge um das Wetter hatte der Meister noch eine Art privater Praxis, als Geisterbeschwörer, als Anfertiger von Amuletten und Zaubermitteln und in gewissen Fällen als Arzt, soweit dies nicht der Ahnmutter vorbehalten war. Im übrigen aber lebte Meister Turu das Leben jedes andern. Er half, wenn die Reihe an ihn kam, das Gemeindeland bestellen und hatte bei der Hütte auch seinen eigenen kleinen Pflanzgarten. Er sammelte Früchte, Pilze, Brennholz und bewahrte sie auf. Er fischte und jagte und hielt eine Ziege oder zwei. Als Bauer war er gleich jedem andern, als Jäger, Fischer und Kräutersucher aber war er nicht gleich irgendeinem andern, sondern war ein Einzelgänger und Genie und stand im Ruf, eine Menge von natürlichen und magischen Listen, Griffen, Vorteilen und Hilfsmitteln zu kennen. Einer von ihm geflochtenen Weidenschlinge, hieß es, konnte kein gefangenes Tier wieder entrinnen, die Fischköder wußte er durch besondere Mittel duftend und schmackhaft zu machen, er verstand es, die Krebse an sich zu locken, und es gab Leute, welche glaubten, daß er auch die Sprache mancher Tiere verstehe. Sein eigentlichstes Gebiet aber war doch das seiner magischen Wissenschaft: das Beobachten des Mondes und der Sterne, die Kenntnis der Wetterzeichen, das Vorgefühl für Witterung und Wachstum, die Beschäftigung mit allem, was als Hilfsmittel magischer Wirkungen diente. So war er groß als Kenner und Sammler von jenen Gebilden der Pflanzen- und Tierwelt, welche als Heilmittel und als Gifte, als Träger von Zauber, als Segen und Schutzmittel gegen die Unheimlichen dienen konnten. Er kannte und fand ein jedes Kraut, auch das seltenste, er wußte, wo und wann es blühe und Samen trage, wann es Zeit sei, seine Wurzel zu graben. Er kannte und fand alle Arten von Schlangen und Kröten, wußte mit der Verwendung von Hörnern, Hufen, Klauen, Haaren Bescheid, kannte sich mit den Verwachsungen, Mißbildungen, Spuk- und Schreckformen aus, den Knollen, Kröpfen und Warzen am Holz, am Blatt, am Korn, an der Nuß, am Hörn und Huf.