»Es hatte die Flagge gehisst«, sagte Burden bedrückt. »In der Dunkelheit dachten wir, es sei eins von uns.«
Mit dem Gold an Bord hatte das Schiff den Anker gelichtet. Morgans Mannschaft war in der Nacht verschwunden. Sie ließen einen leeren Tresorraum und eine Stadt im Schockzustand zurück.
Burden berichtete, dass das alles vor rund zwei Stunden passiert sei.
Morgan hatte das Militär blamiert. Und er hatte es mit einer Präzision gemacht, auf die das Militär stolz gewesen wäre. Selbst bis hin zu der Tatsache, dass sie den Überfall nachts ausgeführt hatten, damit die Telegrafenstation in Deal die nächste Station nicht darüber benachrichtigen konnte, dass die Admiralität angegriffen worden war.
Nun war für Hawkwood der Moment gekommen, wo er die Verzweiflung des Leutnant Burden noch verschlimmern musste.
Es waren keine Franzosen, eröffnete er ihm, und der Mann schien vor ihren Augen um hundert Jahre zu altern.
Hawkwood und Lasseur ließen den völlig geknickten Leutnant in seinem leeren Tresorraum zurück, wo er darüber nachdenken konnte, was von seiner Karriere noch übrig war, und gingen zurück, um sich mit Jago und Micah zu treffen.
»Vielleicht erschießt er sich«, sagte Lasseur. »Es wäre der ehrenhafteste Ausweg.«
»Ich glaube, dass jemand anderes es vielleicht für ihn macht«, sagte Hawkwood.
Draußen wurden die Leichen auf einen Wagen geladen.
Jago deutete mit dem Kopf auf die Soldaten, die die umgestürzte Kanone bewachten. »Am Strand liegen auch Leichen, und der Korporal sagte, dass oben bei der Festung noch mehr liegen«, sagte er, dann sah er Lasseur an. »Es sind Franzosen.« Jago wandte sich wieder an Hawkwood: »Ich dachte, du sagtest, dass Morgan und seine Leute hinter der Sache stecken?«
»Die Uniformen sind zwar französisch«, sagte Hawkwood, »aber es waren Morgans Leute.«
Jago schüttelte den Kopf. »Die Toten, die ich sah, waren bestimmt Franzosen. Sie waren tätowiert. Diesen Adler erkenne ich immer.«
»Du hast sie gesehen?«
»Zum Strand geht’s da lang -« Jago zeigte die Richtung. »Und du wirst dir nicht einmal die Füße nass machen.«
»Zeig sie mir«, sagte Hawkwood.
Die Leichen lagen Seite an Seite, das Gesicht nach oben, auf dem Kiesstrand, bereit zum Abtransport. Im Mondlicht, mit ihren dunklen Uniformjacken, den Tschakos und den schmutzigen Hosen, die Gesichter schon grau und im Tode verzerrt, sahen sie aus wie blutige Stoffpuppen, die die Flut hier angespült hatte.
Le Jeune sah aus, als sei er hundert Jahre alt. Die Tätowierung war etwas unter der Ellenbeuge sichtbar. Die Jacke war zu kurz für ihn gewesen. Der Ärmel hatte sich hochgeschoben. Louis Beaudouin, der neben ihm lag, sah dagegen aus wie zwölf. Souville sah bereits aus wie ein Skelett, und Rousseau war auch nicht ansehnlicher.
Jago hatte von weiteren Leichen gesprochen, die vor der Festung lagen. Hawkwood hätte wetten mögen, um wen es sich dort handelte.
»Er hat sie umgebracht«, keuchte Lasseur. »Er hat sie alle umgebracht.« Der Wind fuhr ihm durchs Haar, während er fassungslos auf die Leichen starrte.
»Sie hatten ihren Zweck erfüllt«, sagte Hawkwood und im selben Moment wünschte er, er hätte es nicht gesagt, obwohl er wusste, dass es die Wahrheit war. Morgan hatte Franzosen in französischen Uniformen benutzt; und wer sie gehört hatte, wie sie sich Befehle zuriefen und sich gegenseitig in ihrer Sprache anfeuerten, für den hätte es keinen Zweifel gegeben, dass eine französische Bande das Gold geraubt hatte.
Und die Toten in französischen Infanterieuniformen verliehen dieser Lüge noch mehr Glaubwürdigkeit. In dem allgemeinen Durcheinander würde man keine Zweifel daran haben, dass Burdens belagerte Truppen es geschafft hatten, einige von ihnen zu töten.
Und so war Morgan imstande, sich unbehelligt davonzumachen.
Früher oder später wäre die Wahrheit ans Licht gekommen. Morgan hielt seine Leute an einer kurzen Leine. Die altgedienten Mitglieder seiner Mannschaft konnten den Mund halten, aber dies hier war eine zu große Sache. Irgendwann würde einer die Geschichte über einem Glas Grog und einer Pfeife Tabak zum Besten geben. Aber dann würde es zu spät sein.
Müde ließ Hawkwood sich auf den Kies fallen und legte die Hände auf die Knie.
Was hatte es alles genützt?
Jago setzte sich neben ihn und seufzte tief. »Ich weiß nicht, wie’s dir geht, aber ich werde langsam zu alt für diese Hetzerei. Für einen Mann in meinem Alter ist das nicht mehr gesund.«
Hawkwood hörte Rufe hinter sich und das Trampeln von schweren Stiefeln. In Kürze würde das Militär erfahren, dass ihr Gold nicht von Franzosen, sondern von jemandem ganz aus der Nähe gestohlen worden war, und sie würden anfangen, an die Türen zu klopfen.
Inwieweit waren die Bewohner der Stadt in die Sache verwickelt gewesen? Morgan hätte seine Mannschaft und die Waffen - besonders die Kanone - nicht aufstellen können, ohne dass jemand Schmiere stand und ihn unterstützte. Man musste auch die Wagen und die Pferde in Betracht ziehen. Morgan hatte damit geprahlt, dass es keinen Mangel an Leuten gab, die willens waren, ihm zu helfen. Hieß das, dass er sogar eine ganze Stadt für sich gewinnen konnte? Die Bewohner von Deal waren eine eingeschworene Gesellschaft, und sie hatten es mehr als einmal erlebt, dass ihr Lebensunterhalt von der Obrigkeit zunichtegemacht worden war. Sie liebten weder die Regierung noch das Militär, und eine Beteiligung an Morgans Profit würde so manche Familie auf lange Zeit ernähren und ihnen ein Dach über dem Kopf garantieren, und er konnte sich ihrer Loyalität sicher sein. Er hatte doch sogar die verdammten Richter in der Tasche, und mit einer halben Million konnte man sich viel Schutz erkaufen. Die Obrigkeit - und dazu gehörte auch das Militär - würde ganz schön zu tun bekommen.
»Und was jetzt?«, fragte Jago.
Hawkwood sah zurück zur Stadt. Überall wurden Lichter angezündet. Er hörte Rufe und immer wieder das Rennen von schweren Stiefeln.
»Lass uns versuchen, ein Bett zu finden für das, was von der Nacht noch übrig ist. Soll doch jemand anderes sich um diese verdammte Schweinerei hier kümmern.«
»Ich könnte einen Drink gebrauchen«, sagte Jago und stand auf. »Meine Kehle ist so trocken wie die Sahara. Komm, suchen wir uns einen Pub.«
Lasseur stand etwas abseits und sah auf das Meer hinaus. Sein Gesicht war so finster wie das Wasser.
Hawkwood stand auf. »Sieht aus, als ob du bekommen hast, was du wolltest.«
Lasseur sah auf die Reihe der Toten. »So nicht.«
»Aber dein Kaiser bekommt sein Gold.«
Lasseur schüttelte den Kopf, aber er sagte nichts. Er sah sehr nachdenklich aus. Dann sagte er: »Sie könnten immer noch gefasst werden.«
»Was?«, sagte Hawkwood, der nicht richtig zugehört hatte.
»Ich sagte, man könnte sie immer noch fassen.«
Hawkwood lachte. Er konnte nicht anders. »Ich glaube nicht, Captain. Jetzt ist es Sache der Navy, und die braucht ja schon die halbe Nacht, nur um ihre verdammte Hose anzuziehen. Der Bastard ist schon lange weg. Außerdem weiß man nicht, welchen Hafen sie ansteuern.«
»Ich schon«, sagte Lasseur. »Ich weiß genau, wo die hinfahren. Wir könnten sie immer noch einholen.«
»Es ist zu spät, verdammt nochmal. Die sind über den Kanal, ehe hier jemand Segel setzen kann.«
»Nicht unbedingt«, sagte Lasseur. »Nicht, wenn der Wind so bleibt wie jetzt.«
Hawkwood sah ihn fest an. »Wen meinst du mit ›wir‹?
Langsam drehte Lasseur den Kopf und sah ihn an. »Ich meine mein Schiff, die Scorpion.«
»Dein Schiff?«, sagte Hawkwood. »Was zum Teufel hat dein Schiff damit zu tun?«
Lasseur lächelte nur.