»Es hätte mir ja nicht so viel ausgemacht«, sagte Beaudouin lachend, »aber der Kerl war potthässlich.« Er wandte sich an Leberte, einen elegant aussehenden Mann mit gepflegtem Backenbart und einem so dramatischen Schnurrbart, dass Beaudouins Bemühungen dagegen schwach aussahen.
»Pierre, warum erzählst du uns nicht, wie du es geschafft hast?«
Die anderen grinsten.
Lebertes Flucht von der Buckingham war aus mehreren Gründen spektakulär gewesen. Sie war ihm gelungen, weil er die Kontrollgänge der Milizionäre auf der Gangway draußen genau beobachtet hatte. Er hatte die Zeit gestoppt, die ein Wachsoldat brauchte, um die gesamte Länge des Eisenstegs zurückzugehen, wobei er nicht sehen konnte, was hinter ihm geschah. Als Nächstes hatte er »aus Versehen« ein Kohlblatt über Bord fallen lassen, um zu sehen, wie lange es brauchte, um im Wasser zu landen. Dann wartete er auf den höchsten Stand der Flut, und als die Wache den Rückweg auf dem Steg angetreten hatte, machte er den Hechtsprung in die Freiheit. Es war am Spätnachmittag, und Lebertes Sprung über Bord war für alle völlig überraschend gekommen, auch für seine Kameraden. Bis die Milizionäre sich von ihrem Schrecken erholt und beschlossen hatten, was zu tun sei, war Leberte unter dem Schiffsrumpf schon zum Bug geschwommen, wo er mit Hilfe eines Schnorchels unter Wasser blieb. Den Schnorchel hatte er aus dem Röhrenknochen eines Hammels gemacht, den er sich von einem der Köche hatte geben lassen unter dem Vorwand, er wolle sich eine Flöte schnitzen. Er blieb verborgen, bis die Suche nach seiner Leiche flussabwärts in einiger Entfernung vom Schiff fortgesetzt wurde. Als es dunkel wurde, schwamm er an Land und versteckte sich.
»Nun erzähl ihnen auch noch, was das Beste daran war«, grinste Beaudouin.
Es war weder das kalte Wasser gewesen, noch die Tatsache, dass er durch ein enges Röhrchen atmen musste, was Lebertes Entschlusskraft bis zum Äußersten gefordert hatte, sondern die schreckliche Gewissheit, dass sich sein Versteck genau unter der Schiffslatrine befand.
Lasseur hob beschwörend die Hände hoch und sagte schnelclass="underline" »Danke, danke, mein Freund. Bitte ersparen Sie uns die Einzelheiten.«
Leberte war Leutnant des 93. Régiment d’Infanterie de Ligne und der einzige weitere Seemann unter den Anwesenden. Im Gegensatz zu den Briten hatten die Franzosen keine Navysoldaten. Diese Funktion wurde von regulären Infanterieeinheiten übernommen, die unter der Schirmherrschaft des Ministère de la Navy operierten. Leberte hatte eine Einheit auf einer Fregatte befehligt, als er bei einem Gefecht vor Ushant gefangen genommen wurde.
Ehe er im Haunt angekommen war, war er zwei Wochen lang auf der Flucht gewesen, hatte sich in Hecken und Dickicht versteckt und sich von dem ernährt, was er auf Feldern und in Obstgärten fand, bis er schließlich in eine Scheune gekrochen war, wo man ihn entdeckt hatte. Leberte, völlig erschöpft, hatte sich der Gnade des Bauern anheimgegeben. Aus Angst, dass bei einer Durchsuchung seines Grundstücks die zwei Dutzend Fässer mit Branntwein und die drei Ballen Tabak in seinem Keller ans Licht kommen würden, war der Bauer nicht zur Polizei, sondern zu Ezekiel Morgan gelaufen, der getreu seinem Ruf als Geschäftsmann Leberte ausrichten ließ, dass seine sichere Rückkehr nach Frankreich einzig und allein vom Fahrgeld abhing.
Zum Glück war die Familie seiner Frau wohlhabend. Die Transaktion wurde über Fectors Bank in Dover abgewickelt, und Hawkwood zweifelte nicht daran, dass Morgans tüchtiger Steuerberater auch dabei die Hand im Spiel gehabt hatte.
Es war ein Glücksfall für Leberte, dachte Hawkwood, dass er imstande gewesen war, die Überfahrt nach Frankreich zu bezahlen. Er fragte sich, welches Schicksal den Leutnant erwartet hätte, wenn er es nicht gekonnt hätte.
Leberte zuckte philosophisch die Schultern, als Hawkwood ihm diese Frage stellte. »Dann hätte ich den Weg wohl irgendwie selbst finden müssen, nicht wahr?«, sagte er.
Die anderen sieben waren verschieden lange hier. Rousseau und Denard waren schon am längsten da, fast fünf Wochen, was mit Ludds Angaben übereinstimmte, wie Hawkwood ausrechnete. Alle hatten bei Bauern in der Gegend Unterschlupf gefunden, jedoch waren Hawkwood und Lasseur die Einzigen, die bei Jess Flynn gewesen waren.
Während Hawkwood den Erzählungen der Männer zuhörte, wurde ihm langsam klar, wie groß der Aktionsradius von Morgan war. Mit Ausnahme von Leberte, der auf eigene Initiative gehandelt hatte, war der Weg in die Freiheit für alle anderen von einem Gefangenenkomitee und Morgans Informanten organisiert worden.
Rousseau und Denard, die den Vorteil hatten, bereits an Land zu sein, waren nach einem direkten Gespräch mit dem Wirt ihres Gasthauses geflohen - ein weiterer Beweis dafür, wie weit Morgans Einfluss reichte.
»Warum hat man Sie nicht an die Küste gebracht?«, fragte Hawkwood. Dabei sah er Lasseur an.
»Zu gefährlich.« Die Antwort kam von Denard. »Die Briten haben ihre Küstenwache verstärkt. Wir warten auf den richtigen Moment.« Er zuckte die Schultern. »Zumindest war das die Erklärung, die man uns bis vor zwei Tagen gab.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Hawkwood.
Denard sah die anderen Männer an, dann wandte er sich wieder an Hawkwood. »Uns wurde gesagt, unsere Schiffspassage nach Frankreich sei endlich geregelt und dass es sich jetzt nur noch um ein paar Tage handelt, dass man uns aber erst noch wegen irgendeiner Sache um Hilfe bitten wollte. Als wir unseren Freund Morgan fragten, welche Art von Hilfe, lachte er nur und sagte, dass er etwas im Ärmel habe, wovon uns die Augen übergehen würden.«
»Aber er sagte nicht, was es ist?«
Denard schüttelte den Kopf. »Aber trotzdem, es könnte alles viel schlimmer sein. Hier haben wir wenigstens eine Unterkunft und unser Essen, und es geht uns doch ganz gut. Besser als auf diesen verfluchten Schiffen, das könnt ihr doch nicht abstreiten.«
»Aber wir sind noch nicht zu Hause«, sagte Souville. »Wir haben die Warterei satt. Wir haben alle unsere Überfahrt bezahlt und wollen jetzt einfach nur nach Hause.«
Alle nickten zustimmend.
»Wie ist es mit Ihnen und Captain Lasseur?«, fragte Rousseau.
»Wir vermuten, dass man uns den gleichen Vorschlag machen wird«, sagte Hawkwood.
»Und Sie wissen auch nicht, worum es sich handelt?«
In dem Moment ging die Tür auf und Morgan und Pepper traten ein. Leberte sagte leise: »Sieht aus, als ob wir’s gleich erfahren werden.«
Die Männer sahen erwartungsvoll, wie Ezekiel Morgan zum Kopf des Tisches ging und sich im Raum umsah, Pepper an seiner Seite.
Morgan sprach Französisch. »Guten Morgen, meine Herren.« Er sah Hawkwood an. »Ich nehme an, Sie haben keine Einwände, Captain Hooper? Ich weiß, Sie sprechen Französisch, während einige Ihrer Mitreisenden kein Englisch können. Es macht die Sache einfacher für uns alle.«
Morgans Französisch war sehr gut; Hawkwood nahm an, er hatte es durch seine jahrelangen Geschäftsbeziehungen auf der anderen Seite des Kanals gelernt. Pepper, dessen Blick ebenfalls im Raum umherschweifte, wirkte äußerst ruhig. Hawkwood nahm an, dass sein Französisch ebenfalls perfekt war.
»Danke, Captain.« Morgan überflog die Gesichter der Männer am Tisch. »Also, meine Herren, zur Sache. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, von Ihren Lieben getrennt zu sein, und obwohl Sie alle viel Geduld hatten, haben Sie sich bestimmt gefragt, was es mit dieser Verzögerung auf sich hat. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Ich denke, es ist Zeit, dass ich Ihnen eine Erklärung liefere, nicht wahr?«
Morgan wandte sich an Pepper und streckte die Hand aus. Pepper griff in seine Jacke und zog einen kleinen Beutel heraus. Er gab ihn Morgan.