Im Geiste sah Hawkwood Thor und Odin mit hochgezogenen Lefzen. Bei dem Gedanken lief es ihm kalt über den Rücken. Er sah Lasseur an, dessen Hemd nass vom Schweiß war.
»Wir müssen weiter«, sagte Hawkwood.
Lasseur nickte matt. Er sah hoch, blinzelte durch das Blätterdach und deutete in eine Richtung. »Dort entlang.«
»Was ist in der Richtung?«
»Der Fluss.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Dann sollten wir schneller laufen«, sagte Hawkwood.
Der Wildwechsel hörte nach etwa zweihundert Yards auf. Der Wald wurde lichter, und Hawkwood sah Weideland durch die Bäume, grüne, ebene Wiesen, auf denen Schafe weideten. Er sah Hecken und einen Zaunübertritt und in der Ferne ein Haus.
Und immer noch hörte er die Hunde. Er hörte auch laute Rufe. Sie waren schon wesentlich näher als beim ersten Mal. Ihre Verfolger waren ihnen noch immer auf der Spur. Es kam Hawkwood vor, als seien es mehr als zwei Hunde, aber er hatte keinen Wunsch, stehen zu bleiben, um nachzuzählen.
Lasseur schloss die Augen, als wollte er damit den Lärm ausschließen oder sich vor den Konsequenzen schützen, falls sie gefasst werden sollten.
Sie liefen auf eine Lichtung zu, die hinter den Bäumen lag. Beim Näherkommen erkannte Hawkwood, dass es keine Lichtung war, sondern eine Straße. Stolpernd blieben sie stehen und verkrochen sich in einem kleinen Erlengebüsch.
Hawkwood überlegte, ob es wohl dieselbe Straße war, auf der sie in jener Nacht zum Haunt gekommen waren. Im Mondlicht hatten alle Straßen gleich ausgesehen. Er reckte den Hals. Der Weg zeigte tiefe Radspuren, also musste es eine stark befahrene Strecke sein. Er sah auch Spuren von Rindern, die hier entlanggetrieben worden waren.
Vorsichtig schob er sich vor. Fünfzig Yards vor ihnen verschwand die Straße hinter einer Biegung, aber sie schien in beiden Richtungen leer zu sein. Hinter ihnen ertönte Hundegebell.
»Sie holen uns ein!« Lasseur zog Hawkwood am Ärmel. »Komm schon!«
Er wollte gerade auf die Straße hinaustreten, als Hawkwood ihn wieder nach unten zog. Lasseur wollte gerade protestieren, doch dann fühlten seine Hände, wie der Boden vibrierte. Er duckte sich. Drei Sekunden später tauchten in der Biegung rechts von ihnen zwei Reiter auf, die sich schnell näherten. Tief über die Hälse ihrer Pferde gebeugt, galoppierten sie an ihnen vorbei.
Als das Hufgetrappel verhallte, hob Lasseur den Kopf. »Wie hast du das gewusst?«, flüsterte er.
»Erfahrung«, sagte Hawkwood.
»Morgans Leute?«, fragte Lasseur.
»Wir müssen davon ausgehen.«
Sie überquerten die Straße und versteckten sich schnell im Wald auf der anderen Seite. Hinter ihnen konnten sie die Rufe der Hundeführer hören. Es klang, als klopften sie das Unterholz nach Wild ab, sie schienen zu wissen, dass sie ihrer Jagdbeute immer näher kamen.
Wieder lichtete sich der Wald. Hawkwood und Lasseur gingen vorsichtig wie auf Eierschalen. Am Waldrand blieben sie stehen. Keinen Steinwurf entfernt sah Hawkwood den Fluss hinter einer kleinen Wiese. Er war mindestens dreißig Yards breit, beide Ufer waren von Bäumen gesäumt. Er sah nach links. In etwa zweihundert Yards Entfernung war eine alte Steinbrücke. Er sah das Geländer und darunter den Brückenbogen mit dem Schlussstein darin. Er sah auch Schilf und hörte Wasser über ein Wehr rauschen.
Langgezogenes Hundegeheul, immer näher und immer lauter, erinnerte ihn daran, warum sie zum Wasser gerannt waren. Wenn sie es bis zum Fluss schafften, wäre es für die Hunde schwer, wenn nicht unmöglich, ihrer Spur zu folgen.
Sie traten aus dem Schutz der Bäume.
Hinter ihnen knackte ein Zweig.
Hawkwood und Lasseur erstarrten. Zu seiner Rechten sah Hawkwood einen Schatten, im gleichen Moment nahm seine Nase einen bekannten Geruch wahr.
»Hab ich euch endlich«, sagte Del. Er trat hervor und grinste, wobei sein Mund in dem mageren Gesicht wie ein grotesker Schlitz wirkte. Er trug kein Mönchsgewand und auch keine geisterhafte Kapuze, er hatte lediglich eine Pistole in der Hand.
Wieder kam das Geheul aus dem Wald hinter ihnen und Hawkwood wurde fast übel bei dem Gedanken, dass Morgans Leute sie eingeholt hatten.
Del grinste wieder. »Hab euch kommen sehn. Ihr habt ja auch ziemlich Krach gemacht. Aber jetzt geht der Spaß erst so richtig los«, sagte er. Seine Stimme schien sich zu verändern, sie wurde dunkler, drohender. Plötzlich schien Del gar nicht mehr so einfältig.
»Nein«, sagte Lasseur. »Das glaube ich nicht. Heute nicht.«
Etwas in Lasseurs Stimme ließ Del ahnen, dass er sich in Gefahr befand. Er reagierte sofort und panikartig.
Hawkwood stand rechts von Lasseur und nahm Del einen Teil der Sicht, als Lasseur die Pistole aus dem Gürtel zog. Mit einer Geschwindigkeit, die so gar nicht zu seinem tölpelhaften Äußeren passte, hob Del seine Waffe und schoss. Hawkwood spürte den Stoß an seinem Kopf. Während er in einem schmerzhaften Nebel zu Boden ging, hörte er, wie Lasseur das Feuer erwiderte. Das Letzte, was er wahrnahm, war eine große rote Blume, die auf Dels Brust aufblühte.
Dann war alles zu Ende.
19
Manchmal hatte er das Gefühl, als falle er; dann war es wieder wie ein Schweben, bei dem er wie in einem schwachen Gezeitenwechsel hin und her trieb, ohne Ziel und ohne Bestimmung, nie ganz bis zu den hohen Wellen hin und nie ganz bis ans Land. Einen Augenblick war ihm kalt, im nächsten fühlte er sich derart in Schweiß gebadet, dass er glaubte, darin ertrinken zu müssen. Und bei jedem dieser Anfälle hatte er einen merkwürdigen Geschmack wahrgenommen - bitter, aber nicht unangenehm -, der auf seiner Zunge und in seinem Rachen war.
Es gab auch Schatten und Stimmen. Aber wie alle Schatten waren auch diese konturlos, und die Worte, die er zu hören glaubte, waren wie das Rauschen von trockenem Laub im Wind. Manchmal waren sie in der Nähe und fast hörbar, dann wieder war es nur ein Flüstern, als seien die Sprecher weit weg und wollten nicht gehört werden. Er nahm an, dass sie über ihn sprachen, und hatte sich angestrengt, es zu hören, aber je mehr er sich anstrengte, desto schwerer war es, etwas zu verstehen.
Er hatte auch eine nebelhafte Erinnerung, dass man ihm einen Löffel an die Lippen gehalten hatte, von dem er etwas schlucken sollte, aber er hatte keinerlei Erinnerung daran, was es gewesen sein könnte. Einmal hörte er einen Hund bellen und wollte schreien, aber dann war es plötzlich still geworden. Die Enge in seiner Brust ließ nach, das Gefühl ging vorüber und er fürchtete sich nicht mehr.
Als er die Augen öffnete, dachte er einen entsetzlichen Moment lang, er sei wieder im Krankenrevier auf dem Hulk. Wenn das Stechen an der Seite seines Kopfes auch nicht besonders schmerzhaft war, so weckte es doch schreckliche Erinnerungen daran, bis er ein kühles feuchtes Tuch spürte und sanfte Finger, die etwas auf seinen Kopf rieben und die Schmerzen linderten. Eine Frauenstimme sagte leise: »Er ist aufgewacht.«
Die Stimme war ihm irgendwie bekannt.
Maddie?, Dachte Hawkwood.
Er drehte den Kopf. Er lag in einem schmalen Bett. Daneben stand ein Nachttisch, auf dem ein Leuchter mit einer Kerze stand, die aber nicht brannte, daneben eine Schüssel und mehrere blaue Glasbehälter. Was darin war, wusste er nicht.
Ein Frauengesicht beugte sich über ihn. Es war nicht Maddie Teague.
»Hallo, Captain«, sagte Jess Flynn.
»Wird auch Zeit«, sagte Lasseur, der hinter ihr auftauchte. »Wie fühlst du dich?«
Hawkwood sah die beiden an und wusste nicht, ob er träumte oder wachte. Er berührte mit den Fingern seinen Kopf und zuckte zusammen. »Ich hab’s satt, auf den Kopf gehauen zu werden.« Er zog die Hand zurück. Sie waren klebrig, als habe er in Bienenwachs gegriffen. Er rieb die Finger aneinander.
»Keine Sorge, Captain, es ist nur eine Salbe. Ich mache sie selbst aus besonderen Ölen und Kräutern«, sagte Jess Flynn. »Sie ist gut gegen Schmerzen und hat Heilkräfte. Sie hatten einen Streifschuss und waren bewusstlos. Aber Sie hatten großes Glück; es hat geblutet, und Sie hatten etwas Fieber, aber wirklich schlimm war es nicht.«