Hawkwood lehnte sich zurück, als Jess Flynn an den Tisch kam und ihm einen Teller Suppe hinstellte. Sie legte einen Löffel daneben.
»Essen Sie«, befahl sie.
Ein wunderbarer Duft stieg vom Teller auf. Hawkwood brach sich ein Stück Brot ab.
»Und du hast in Spanien gekämpft?«, fragte Lasseur.
»Ja.«
»Bei Ciudad Rodrigo?«
Hawkwood nahm einen Löffel Suppe. Huhn, Kartoffeln, Karotten und Kräuter; es war eine wahre Sensation aus Wohlgeschmack und Aroma.
»Nein, das war nach meiner Zeit.«
Er aß etwas Brot und nahm einen weiteren Löffel Suppe, den er fast noch mehr genoss. Mit jedem neuen Löffel spürte er, wie die Mattheit ihn verließ.
»Und jetzt bist du Polizist. Was hat Morgan dich genannt? Einen Runner - ich weiß nicht, was das ist.«
Als dieser Begriff fiel, wurden Jess Flynns Augen groß. Vielleicht hatte Gadd dieses kleine Detail ihr gegenüber nicht erwähnt.
Hawkwood brach ein weiteres Stück Brot ab und tunkte es in die Suppe. »Es bedeutet, dass ich eine besondere Art von Polizist bin.«
»Du jagst Schmuggler?«
»Nicht nur Schmuggler.«
»Aha«, Lasseur nickte. »Du meinst, dass du Leute wie mich jagst: geflüchtete Gefangene. Deshalb warst du auf dem Schiff.«
»Nicht nur. Ich sollte das Verschwinden von zwei Offizieren der Navy aufklären.«
Lasseur zog die Brauen zusammen. »Die Männer, von denen Morgan sprach? An die Namen kann ich mich nicht mehr erinnern.«
»Sark und Masterson.«
»Morgan hat sie umbringen lassen?«
»Sarks Leiche hat man nie gefunden, also konnten wir nicht sicher sein. Aber nach allem, was Morgan uns im Stall erzählt hat, glaube ich ihm jedes Wort.«
»Du willst ihn vor Gericht bringen.«
»Und wenn es das Letzte ist, was ich tue«, sagte Hawkwood. Er nahm ein weiteres Stück Brot und tunkte den Rest Suppe damit auf. Es schmeckte noch ebenso gut wie am Anfang. Er legte den Löffel hin, sah auf den Teller und schien überrascht, dass er leer war. Er fühlte sich wunderbar gestärkt. Vielleicht würde er es doch bis zur Telegrafenstation schaffen.
Plötzlich stand der Hund auf. Aus seiner Kehle kam ein tiefes Knurren.
»In die Vorratskammer«, sagte Jess Flynn schnell und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Die Falltür ist offen.«
Der Hund fing an, mit dem Schwanz zu wedeln.
»Warten Sie«, sagte Jess Flynn erleichtert. »Es ist nur Tom.«
Im nächsten Moment hinkte Gadd zur Tür herein, der Hund folgte ihm schnuppernd. Als der alte Seemann Hawkwood und Lasseur sah, blieb er stehen. Seine Narbe, die sich über Wange und Augenhöhle zog, sah aus wie eine Schneckenspur auf einem Pflasterstein. Er trug ein Baumwollsäckchen über der Schulter und hatte eine Vogelflinte in der Hand.
»Tom«, sagte Hawkwood.
Gadd nickte ernst und zurückhaltend, als er ihn sah. Es schien, als betrachtete er Hawkwoods unrasiertes Gesicht ungewöhnlich lange, doch sein Blick war weder feindlich noch missbilligend. Fast schien es, als könne er sich nicht entscheiden, was er denken sollte. Schließlich nickte er und stellte fest: »Sie sind wieder auf den Beinen, Captain. Das ist gut. Weiß nicht, ob der Bart Ihnen steht.«
»Captain Lasseur sagte mir, dass ich Ihnen zu danken habe, weil Sie geholfen haben, mich nach oben zu bringen.« Verlegen strich Hawkwood mit der Hand über sein Kinn. Er dachte an das Rasiermesser, das die Frau Lasseur gegeben hatte. Das war jetzt in der Zelle im Haunt. Lasseurs Bartwuchs hätte ebenfalls etwas Aufmerksamkeit nötig gehabt, aber da er sowieso einen Spitzbart trug, störte es weniger.
Gadd zuckte die Schultern. »Na ja, Sie kamen Jessie zu Hilfe, als sie in Schwierigkeiten war. Schätze, ich war Ihnen was schuldig. Und’n Grab auszuheben ist viel schwerer. Übrigens trachtet Morgan Ihnen noch immer nach dem Leben.«
»Erzählen Sie uns lieber etwas, was wir noch nicht wissen«, sagte Hawkwood.
»Er hat das Kopfgeld erhöht. Reicht Ihnen das?« Gadd griff in seinen Sack und zog zwei Kaninchen heraus. Er ging in die offene Vorratskammer und hängte das Wild an einen Haken am Deckenbalken. Er lehnte die Flinte neben der Tür an die Wand. Der Hund hinter ihm schnupperte immer noch eifrig.
»Ich bin geschmeichelt«, sagte Lasseur.
»Sollten Sie auch«, sagte Gadd. »Es ist eine schöne Summe. McTurk und Croker waren zwei seiner besten Männer. Dann war da noch der junge Del. Morgan wird es nicht hinnehmen, dass man ihm gleich drei seiner Leute genommen hat. Er lässt verbreiten, dass er für Informationen mehr als gewöhnlich bezahlt, und das heißt, dass man überall nach Ihnen Ausschau hält. Sie dürften hier eine kurze Zeit sicher sein, aber wie lange noch, kann man nicht wissen.« Gadd nickte zu Hawkwood hinüber. »Und Sie, Captain oder Constable oder was Sie sich auch nennen, Sie sind weit weg von zu Hause.«
»Komisch«, sagte Hawkwood, »als die Leute mich noch für einen Amerikaner hielten, haben sie mir das auch immer gesagt.«
»Na ja«, sagte Gadd verdrießlich. »Nur damit Sie’s wissen.«
»Der Captain war nicht allein dafür verantwortlich«, sagte Lasseur.
Der Privateer sah zu Jess Flynn hinüber, während er sprach, und Hawkwood merkte, wie sie sich ansahen. Er fragte sich, wie viel Lasseur ihr erzählt hatte. Das Geständnis schien sie nicht zu schockieren.
»Das mag sein«, sagte Gadd. »Es macht auch nichts. Morgan will Sie beide. Und er will, dass Sie umgebracht werden. Ich vermute, er hofft, dass der eine ihn zum anderen führt. Wahrscheinlich will er sogar selbst mitmachen. Man sagt, er tut’s ab und zu, um in der Übung zu bleiben. Er dachte, Sie würden versuchen, ein Schiff zu kriegen, deshalb lässt er an der ganzen Küste nachfragen. Er lässt auch die Straßen beobachten. So viel Aufregung hab ich seit’04 nicht mehr gesehen, als man dachte, Boney plant’ne Invasion. Die können offenbar nicht glauben, dass Sie die letzten beiden Tage überlebt haben, ohne dass jemand Sie gesehen hat. Man sollte meinen …« Gadd verstummte, als er Hawkwoods Gesicht sah.
Lasseur hob den Kopf.
Hawkwood starrte den alten Seemann an. »Wie lange, sagten Sie?«
»Wie lange was?«, sagte Gadd.
»Wie lange sagten Sie, dass wir hier sind?« Hawkwood stand auf.
Gadd sah Jess Flynn an, deren bemehlte Hände stillstanden, als sie Hawkwoods eisigen Ton wahrnahm.
»Na, seit vorgestern. Der Captain hat Sie mit dem Boot hergebracht. Jessie und ich dachten, es ist zu spät, Sie waren ja in einem schrecklichen Zustand, und ganz voll Schlamm. Sah aus, als ob Sie nicht mehr atmeten. War ein hartes Stück Arbeit, Sie nach oben zu tragen. Der Captain und ich mussten Ihnen die Sachen richtig vom Leib pellen, so klitschnass war alles. Und Sie haben auch ziemlich gestunken.« Gadd unterbrach sich. »Warum fragen Sie?«
Hawkwood starrte Lasseur an, als die Bedeutung von Gadds Worten ihm klar wurde. »Du hast mir gesagt, wir sind erst einen Tag hier, dabei sind es zwei Tage. Das bedeutet, dass der Überfall nicht morgen stattfindet, sondern heute Nacht!«
Und plötzlich wusste er es. Es traf ihn wie ein Hammerschlag.
»Mein Gott, du willst, dass sie es machen!« Jetzt war ihm alles klar. »Das ist es doch, nicht wahr? Du willst, dass Morgan den Goldraub durchzieht!«
Zunächst antwortete der Privateer nicht. Doch endlich breitete er in einer Geste der Niederlage die Hände aus.
»Du hast mich durchschaut, Matthew.« Er warf Hawkwood einen schuldbewussten Blick zu. »Was kann ich sagen? Ich wusste, dass du über kurz oder lang dahinterkommen würdest, obwohl ich gehofft hatte, es würde etwas länger dauern.« Er zog die Augenbrauen hoch und sah Hawkwood an.
»Du siehst schockiert aus, mein Freund. Aber was würdest du machen, wenn die Situation umgekehrt wäre und du die Chance hättest, den Feind daran zu hindern, seine Truppen weiterhin zu kleiden und zu verpflegen? Würdest du es nicht ausnutzen? Ich glaube, wir wissen beide die Antwort. Ich bin ein Patriot, Matthew, und dafür entschuldige ich mich nicht. Ich sagte, dass ich dich als meinen Freund betrachte, aber ich liebe Frankreich. Und Frankreich braucht das Gold.«