»Nein.«
»Dann befassen wir uns mit dem Problem, wenn es soweit ist.«
Sie legten den Tisch auf die Seite und schoben ihn vor die Tür der Vorratskammer. Als Stellung zur Verteidigung war es miserabel und Hawkwood wusste, wenn Pepper und seine Leute erst im Haus waren, würde ein Küchentisch an ihrer Lage auch nichts mehr ändern.
»Wir könnten uns immer noch ergeben«, sagte Lasseur, als habe er seine Gedanken gelesen.
»Nein«, sagte Jess Flynn. »Dazu ist es zu spät.«
Hawkwood wusste, dass sie an Tyler dachte.
»Ich nehme die Manton, Jess«, sagte Hawkwood. »Nehmen Sie die Pistole. Und in der Büchse haben wir auch noch einen Schuss. Von dem möchte ich guten Gebrauch machen, ehe sie uns zu nahe sind.«
Er hatte den Satz kaum beendet, als draußen ein Schuss fiel und das hintere Küchenfenster zersplitterte.
Alle gingen in Deckung. Keiner war getroffen.
»Sie wollen uns wahrscheinlich zum Schießen herausfordern«, sagte Hawkwood. »Lass die lieber ihre Munition verschwenden.« Er sah den Hund an. »Sperren Sie Rab in die Vorratskammer, Jess, damit er nicht im Weg ist.«
Hawkwood wartete, bis das Tier in Sicherheit war, dann nahm er die Büchse. »Jeder auf seinen Platz. Und sowie ihr merkt, dass ihr eure Position nicht mehr halten könnt, verzieht ihr euch in die Vorratskammer.«
Aus dem Augenwinkel sah Hawkwood, wie sich vor dem Fenster etwas bewegte.
»Sie kommen«, sagte er.
Pepper spähte um die Ecke der Scheune. Er sah Tylers Leiche vor dem Haus auf dem Boden liegen. Er sah sich nach Tylers Pferd um und entdeckte es auf der Wiese. Nachdem es in Panik geflohen war, graste es jetzt ganz friedlich und merkte nichts mehr von dem Gemetzel.
Tylers Tod war als völlige Überraschung gekommen - und nicht nur für Tyler selbst. Aus der Reaktion des Runners hatte Pepper geschlossen, dass selbst Hawkwood überrascht war. Pepper hielt es auch nicht für einen Zufallstreffer. Die Frau hatte sehr genau gezielt. Der Ton ihrer Stimme und die Ruhe, mit der sie den Abzug betätigte, waren klare Beweise. Pepper fragte sich, was Jess Flynn bewogen hatte, ihren eigenen Schwager so kaltblütig zu erschießen.
Er hatte sich gewundert über Tylers Bitte, als sie vom Waldrand heruntergeritten waren: Überlasst mir die Frau. Es schien, als habe Tyler mit der Witwe Flynn eine Art Fehde gehabt. Jess Flynns kompromissloses Eingreifen hatte bewiesen, dass die Feindschaft auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber egal, welches Motiv sie hatte, mit dem Erschießen Tylers hatte sie sich zur Komplizin der beiden Männer gemacht, die Pepper und seine Leute beseitigen sollten. Und da Pepper wusste, in welchem Verhältnis Thomas Gadd zu dem toten Jack Flynn gestanden hatte, konnte man davon ausgehen, dass Gadd ebenfalls auf deren Seite stand. Womit er wieder bei Tyler war. Pepper hatte den Kerl nie gemocht. Er hatte ihn immer für ein Risiko gehalten. Deshalb trauerte er ihm auch nicht nach; es war nur ein Unglück, so schnell einen Mann zu verlieren.
Ein Schuss fiel. Pepper hörte, wie ein Fenster zerbrach.
»Haltet euch zurück mit dem Schießen!«, rief er. Sie waren viel zu weit entfernt, um mit einer Pistole etwas ausrichten zu können.
Plötzlich spürte er ein heftiges Jucken im linken Unterarm. Er wollte kratzen, doch dann erinnerte er sich, dass es gar nichts zu kratzen gab. Es war jetzt zehn Jahre her, seit er den Arm durch ein Entermesser verloren hatte, doch das Jucken war immer noch da. Manchmal war es so realistisch, dass er unwillkürlich nachsah, ob der Arm tatsächlich nicht mehr da war.
Er unterdrückte den Drang, den Arm heftig an der Scheunenwand zu reiben und überlegte, wie sie ihr Ziel erreichen könnten. Die Vorderseite des Hauses war gefährlich, wie Tyler zu seinem Leidwesen herausfinden musste. Am sichersten war es, man näherte sich von hinten und benutzte die Außengebäude als Deckung. Vom nächsten Schuppen konnte man leicht den kurzen Weg durch den Gemüsegarten zur Hintertür huschen. Die Seite konnte man vom Obstgarten erreichen. Von dort konnten die Angreifer im Schutz des Gebäudes Stellung beziehen, wo sie im Mauerwinkel gegen Schüsse aus den Fenstern sicher waren.
Hinter ihm prüften seine Leute ihre Waffen. Jeder von ihnen hatte zwei Pistolen. Zwei trugen Schlagstöcke. Vier hatten Entermesser, die in Scheiden an ihren Gürteln hingen. Es waren harte, gestandene Männer, die alle ihre Lehre im Geleitschutz, als Bursche oder als Fassträger absolviert hatten. Die vier Besitzer der Entermesser hatten in Pressgangs als Zwangsrekrutierer gearbeitet, ehe sie zu Morgans Organisation gestoßen waren. Es war gut, Männer wie diese hier im Kampf hinter sich zu haben, deshalb hatte Pepper sie ausgesucht. Er war bereit, den irrtümlich abgegebenen Schuss von eben zu verzeihen. Einer aus ihren Reihen war erschossen worden, da war es verständlich, wenn man die Nerven verlor.
Pepper dachte über die gegnerische Seite nach. Sie mochten in der Minderheit sein, doch Hawkwood und Lasseur hatten gezeigt, aus welchem Holz sie geschnitzt waren. Die Frau auch, doch man wusste nicht, wie sie bei einem Ansturm auf das Haus reagieren würde. Was Gadd anbetraf, so hatte der in seinem Leben zwar viel gekämpft, aber jetzt war er alt und ein Krüppel. Was konnte der noch ausrichten? Pepper wusste, dass sie Waffen hatten - wenigstens zwei Gewehre und eine Pistole -, aber hatten sie Reserven? Pepper bezweifelte es.
Die sicherste Option wäre gewesen, die Sache einfach auszusitzen, aber Pepper und seine Mannschaft hatten heute noch eine weitere Verabredung, und bei der wäre es nicht gut, zu spät zu kommen. Ganz bestimmt nicht in dieser Nacht. Am besten versuchte man also, die Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Pepper zog die Pistole aus dem Gürtel über seiner Brust.
»Billy, bleib du bei den Pferden. Versuche, sie zu beruhigen. Deacon, Roach und Clay - ihr kommt mit mir. Ihr anderen geht ums Haus nach vorn. Wir wollen vor allem den Runner und den Froschfresser. Was die angeht, gebt ihnen keinen Zoll nach, was ihr von denen aber genau so wenig erwarten dürft. Falls die Witwe oder der alte Mann dazwischengeraten sollten, ist es eben ihr Pech.«
Pepper wartete, bis die vier Männer, die er zur Vorderseite des Hauses geschickt hatte, sich zur anderen Seite der Scheune schlichen und dann einzeln im Schutz des Obstgartens zur Hausecke rannten. Niemand schoss auf sie.
»Mir nach«, sagte Pepper. Den Finger am Abzug trat er aus dem Schutz der Scheunenwand. Gefolgt von Deacon, Roach und Clay rannte er zum nächsten Schuppen. Es gelang ohne Zwischenfall. Pepper machte Bestandsaufnahme. Er sah, dass die anderen den Obstgarten erreicht hatten und sich durch die Bäume vorwärtspirschten. Zwei von ihnen hatten ihre Entermesser gezogen. Pepper sah die Hintertür und das kaputte Küchenfenster. Undeutlich nahm er wahr, dass sich in der Küche etwas bewegte, aber die Sonne stand niedrig. Ihre Strahlen spiegelten sich in dem Glas, und im Haus war es so dunkel, dass er nichts erkennen konnte.
Der zweite Schuppen, der dem Haus am nächsten stand, war nur noch wenige Schritte entfernt. Pflichteifrig huschte Deacon dahinter hervor. Pepper sah eine dunkle Gestalt hinter dem kaputten Fenster und wollte ihm gerade eine Warnung zurufen, doch da fiel der Schuss bereits und Deacons Körper wurde gegen die Wand zurück geschleudert. Einen Moment stand er reglos, als hinge er an einem Haken, dann fiel er in sich zusammen wie eine Marionette, der man die Schnüre durchgeschnitten hatte. Als Deacon mit blutender Brust am Boden lag, hörte man vor dem Haus eine ganze Salve aus kleinkalibrigen Waffen.
Hawkwood ließ die Manton sinken. Das Gewehr lag nicht so gut in der Hand wie eine Bakerflinte. Zum Glück war es ein leichtes Ziel gewesen. Er hatte gehofft, Pepper ungehindert vor den Lauf zu bekommen, aber es war einer seiner Leute gewesen, der sich zuerst gezeigt hatte, und in der Not frisst der Teufel Fliegen.