»Unsinn, sein wahres Interesse gilt dem Traum, dem Traum als solchem, unabhängig vom Inhalt; Kritiken schreibt er nur, um einem Freund zu schmeicheln, einen Feind anzugreifen oder Geld herauszuschlagen.«
»Aber wie will er den Traum verwirklichen?«
»Darum schert er sich nicht. Gewährt ihm die Wasserpfeife ihre Gaben, so kratzt er sich an seiner riesigen Nase und sagt: Gedenkt des weiten Weges, den der Mensch von der Höhle bis zum Weltraum zurückgelegt hat! Ihr Hurensöhne werdet euch auch noch wie Götter zwischen den Sternen vergnügen!« Das Verhör wandte sich Ahmad Nasr zu; seine Stimme erhob sich zögernd:
»Ich will nur Ruhe und Geborgenheit.« Die Stimme Mustafas aufdringlich:
»Mit diesem Mann hat es seine besondere Bewandtnis. Er ist zum Beispiel Muslim, er betet und fastet und ist dazu ein Muster von Ehemann, er verhält sich zu den Frauen unserer Bootsgesellschaft wie die Ägypter zu den Gestrauchelten. Seine Hauptsorge ist vielleicht, seine Tochter zu verheiraten.«
Die Stimme Khalid Azzuz':
»Er ist der einzige unter uns, der nach dem Tod weiterleben wird…«
Die tosende Einsamkeit wurde Anis unerträglich; er rief deshalb Amm Abduh, um das Wasser der Pfeife erneuern zu lassen. Er stellte sich den Riesen, als er hereinkam, als die einzig gegenwärtige Existenz in einer geräuschlosen Leere vor. Eine Stimme sagte, sein Hauptproblem sei, sich zu erinnern, eine andere aber, sein Problem sei vielmehr, zu vergessen. Anis fragte sich, warum die Tataren an der Grenze haltgemacht hätten. »Ich habe kein Problem!« schrillte die Stimme Lailas. Khalid Azzuz entgegnete: »Richtiger, ich bin ihr Hauptproblem.« Die Stimme Saniyas ertönte:
»Mein Wunsch ist, daß mein Mann mich verstößt und daß Ali as-Sayyid seine beiden Ehefrauen verstößt.« Sammara versuchte, aus Sana ein Wort herauszulocken, aber sie blieb stumm. Daraufhin sagte die Stimme Ragabs: »Betrachten Sie mich als ihr wesentliches Interesse!«
»Nein!« stieß Sana hervor.
Darauf das unklare, gedämpfte Geräusch eines geflüsterten Kusses. Die Stimme Khalids meldete sich: »Mein Interesse gilt dem Anarchismus.«
Gelächter brach aus. Dann herrschte Schweigen, eine Pause folgte, und die Leere nahm überhand. Amm Abduh trat ein und teilte mit:
»Eine Frau hat sich aus dem achten Stock des Mietshauses as-Suba heruntergestürzt.« Benommen erkannte Anis ihn und fragte: »Woher weißt du das?«
»Ich lief dem Geschrei nach und sah eine schauerliche Szene.« Die Stimme Ali as-Sayyids:
»Zum Glück sind wir der Außenwelt fern und können nichts hören.«
»Hat sie Selbstmord begangen, oder wurde sie ermordet?«
»Gott weiß es«, gab der Alte zur Antwort, dann eilte er zurück. Ali as-Sayyid schlug vor, selbst hinauszugehen, um sich nach dem Vorfall zu erkundigen, aber sein Vorschlag wurde einstimmig abgelehnt. Der Schock der Nachricht brachte die Atome in ihre ursprünglichen Zusammenhänge und Einheiten zurück, und die Gästerunde nahm wieder sichtbare Gestalt an. Anis freute sich, seiner ermüdenden Einsamkeit entronnen zu sein. Das Zusammenleben mit Geistesgestörten ist auf alle Fälle besser als die Einsamkeit, dachte er. Nun war die Reihe an Mustafa Raschid, aber Ali as-Sayyid wollte sich rächen und ergriff das Wort:
»Er ist ein Rechtsanwalt, der die liquidierten großen Besitztümer verloren hat, und so lebt er heute auf Kosten der Sünder unter den Söhnen des Volkes. Seine Hauptsorge nach der Bezahlung des Anfangshonorars gilt dem Absoluten. Aber das ist ein schwieriges Unterfangen, noch schwieriger als das Eintreiben des vereinbarten restlichen Honorars.«
»Sie sind also gläubig?« fragte Sammara. »Gott bewahre!«
»Was ist dann das Absolute?«
»Manchmal«, antwortete Ali as-Sayyid, »schaut er zum Himmel empor, manchmal hält er Einkehr bei sich selbst, und ein drittes Mal versichert er, es sei ganz nahe, aber die Sprache versage. Khalid hat ihm deshalb den Rat gegeben, seinen Fall einem Spezialisten für Drüsenleiden vorzulegen.«
»Auf jeden Fall gehört er der Partei der Ernsthaften an.«
»Nein, sein Absolutes ist absurd.«
»Können wir ihn als einen Philosophen betrachten?«
»In einem modernen Sinne von Philosophie, wenn Sie wollen, von Philosophie, die Diebstahl, Zuchthaus und sexuelle Abnormität à la Genet umfaßt.«
Er erinnerte sich seines letzten Treffens mit Nero. Nein, er war keine Bestie, wie man ihm nachsagt. Als ich Kaiser wurde, sagte er, ermordete ich meine Mutter, als ich Gott wurde, steckte ich Rom in Brand, und zuvor, als ich noch ein gewöhnlicher Mensch war, liebte ich die Künste. Er fügte hinzu, aufgrund dessen, was ich vollbracht habe, genieße ich jetzt das ewige Paradies. Anis lachte laut, dann gewahrte er unversehens, wie sich die Blicke auf ihn richteten. Sammara fragte:
»Nun sind Sie an der Reihe, Vormund, was ist Ihr Hauptproblem?«
Ohne Zögern antwortete er: »Sie zur Frau zu nehmen!« Sie lachten los.
»Aber…«, wandte Ragab rasch ein, fing sich jedoch schnell und schwieg. Das Gelächter wurde noch heftiger. Trotz ihrer Verlegenheit beharrte Sammara darauf, ihn zu verhören. Ahmad Nasr antwortete für ihn: »Den Amtsleiter zu töten.« Sie lachte.
»Endlich eine ernsthafte Person.«
»Aber er denkt daran nur in den wenigen Augenblicken, in denen er nüchtern ist.«
»Trotzdem!«
Amm Abduh kehrte zurück und blieb neben dem Wandschirm stehen:
»Die Frau hat Selbstmord begangen wegen eines Streits mit ihrem Geliebten.«
Ein lang anhaltendes Schweigen folgte, bis Khalid Azzuz sagte: »Das Beste, was sie tun konnte. Amm Abduh, erneuere das Wasser!«
»Noch gibt es Liebe in der Welt«, murmelte Sammara. »Sie nahm sich das Leben«, sagte Khalid. »Höchstwahrscheinlich war sie ernsthaft. Wir aber haben nichts Derartiges im Sinn.«
Ahmad Nasr meinte, jeder Lebende sei ernsthaft und lebe sein Leben auf ernsthafte Weise. Das Absurde beschränke sich normalerweise auf die Phantasie. Sie könnten in einem Roman wie in Camus' »Fremdem« einen Mörder ohne Motiv finden, aber im wirklichen Leben sei Beckett selbst der erste, der unverzüglich einen Prozeß gegen seinen Verleger anstrenge, falls dieser irgendeinen Satz aus den Verträgen über seine absurden Bücher verletze. Sammara lehnte aber die Ansicht in dieser Form ab. Sie meinte, was im Kopf sei, müsse auf die eine oder andere Weise das Verhalten oder zumindest das Gefühl beeinflussen. Sie führte die Passivität, die Amoralität und den moralischen Selbstmord als Beispiele an. Um Mensch zu bleiben, müsse der Mensch aufbegehren, wenn auch nur einmal im Jahr. Ragab schlug ihr vor, bis zum Tagesanbruch zu bleiben, um die Morgendämmerung zu beobachten, aber sie entschuldigte sich und bestand darauf, um Mitternacht zu gehen. Dankend lehnte sie das Angebot ab, sie nach Hause zu fahren. Als sie gegangen war, herrschte Stille, wie bei einer Entspannung nach einer ermüdenden Anstrengung. Mattigkeit schien sie zu überkommen. Anis schickte sich an, ihnen von seinem Erlebnis mit den Atomen zu erzählen, aber aus Faulheit gab er diesen Gedanken bald wieder auf. Ahmad Nasr stellte die Frage: »Was verbirgt sich hinter dieser fremden, reizvollen Frau?« Ali as-Sayyids große Augen waren nun rötlich, und seine mächtige Nase schien eingefallen und teigig. Er erwiderte: »Sie möchte sich mit allem vertraut machen und sich mit jedem befreunden, der einer Freundschaft würdig ist.«
»Könnte es ihr eines Tages in den Sinn kommen, uns zu ernsthaftem Tun aufzufordern?« fragte Mustafa Raschid. »In einem solchen Falle müßten wir sie unsererseits in eines der drei Zimmer einladen…«
»Das wäre Ragabs Aufgabe!«
Sana erblaßte, aber der Rausch hatte jeder Bemerkung ihren Sinn genommen. Khalid sagte:
»Wir müssen uns schon über einen Nachfolger für Sana einigen.«
Sana warf einen scharfen Blick auf Ragab. Besänftigend sagte er: »Dem Berauschten ist alles erlaubt.«