»Ich kenne dich besser als die anderen. Du bist eine idealistische Frau im wahrsten Sinne des Wortes, aber eine gewisse Wendigkeit ist nötig, um den Anforderungen des Lebens gerecht werden zu können. Bei dem bedauerlichen Fall handelt es sich nicht um eine Frage der Nation oder eine Frage des Prinzips. Die Sache ist einfach die: Ein Unbekannter wurde versehentlich getötet. Es gibt eine Verantwortung, die nicht zu leugnen ist. Eine nicht seltene Dummheit, bedauerlicherweise. Aber sind wir dir gar nichts wert? Willst du tatsächlich für nichts und wieder nichts unser Glück und unser Ansehen opfern, um nicht zu sagen dein Glück und dein Ansehen?«
»Ich werde zu nichts mehr taugen«, stammelte sie. »Das ist bloße Einbildung. Tausende werden jeden Tag grundlos getötet, und die Welt bleibt, wie sie ist. Du wirst immer eine Möglichkeit haben, Anerkennung zu finden. Deine Nachsicht uns gegenüber wird deiner erfolgreichen journalistischen Arbeit und deiner politischen Tätigkeit nicht hinderlich sein. Vielleicht wird sie dich ermuntern, deine Bemühungen noch zu steigern.«
»Wie manchmal auch das Schuldgefühl zur treibenden Kraft wird!«
»Es ist auf alle Fälle nicht deine Schuld. Uns aber dürfte sie Anlaß genug sein, alles neu zu durchdenken. Was aber Ragab betrifft, so hat er sich tatsächlich durch dich verändert, zumindest was seine Einstellung zu Frauen und zur Liebe angeht. Denk darüber mit großmütigem Herzen nach!«
»Ich bin zum Tode verdammt.«
»Wir gehen alle dem Tode entgegen«, entgegnete Khalid Azzuz.
»Einem schrecklichen Tod, meine ich.«
»Es gibt nichts Schrecklicheres als den Tod.«
»Es gibt aber einen Tod, der dich mitten im Leben ergreift.«
»Nein, nein. Man kann uns doch nicht einem Spiel mit Worten opfern!«
In wütender Erregung schrie Ragab unvermittelt: »Kümmert es dich nicht, in der Presse zu lesen, daß du spät in der Nacht in Begleitung von Personen warst, die sich herumtrieben und einen Mann töteten?« Seine Schärfe brachte sie auf: »Nein, es kümmert mich nicht!« Er wurde noch wütender und tobte:
»Du spielst die Rolle der Mutigen und bist unseres einstimmigen Widerspruchs sicher.«
»Das ist gelogen!«
»Dann komm mit mir zum Polizeirevier!« Mustafa Raschid schrie empört:
»Was wir mühsam aufgebaut haben, zerstörst du durch deine Dummheit in einem einzigen Augenblick.« Saniya stand auf, ging zu ihm, streichelte begütigend seine Hand und küßte ihm die Schläfe, bis er sich beruhigt hatte. Dann stellte sie sich vor Sammara und fragte sie sanft: »Willst du wirklich dich und uns opfern?«
Immer noch beharrte sie: »Ja!«
»So sei es. Tu mit uns, was du willst!«
Bevor Sammara noch antworten konnte, trat Amm Abduh ein, und sie verstummten. Er gab Anis ein kleines Päckchen und sagte:
»Ich habe es mit Mühe und Not ergattert.«
»Wirf das Zeug sofort weg!« befahl Ahmad Nasr. »Nein!«
»Ich habe genug gewarnt.«
»Nichts ist leichter, als es ins Wasser zu werfen, wenn es nötig ist.«
»Was ist geschehen?« fragte Amm Abduh. Anis gab dem Alten das Päckchen zurück, damit er für ihn eine Tasse Kaffee mache. Amm Abduh ging. Sein Erscheinen hatte die Atmosphäre etwas verändert. Schweigen herrschte, bis Mustafa Raschid voller Selbstmitleid sagte: »Der böse Blick hat uns getroffen.«
»Drehen wir uns eine Zigarette«, schlug Khalid Azzuz vor. »Dann sehen wir weiter.«
Ali as-Sayyids Gesicht erhellte sich plötzlich hoffnungsvoll. »Ich wette, daß Ragab Kinder haben wird.« Darauf lachte Anis, er lachte trotz seiner gespannten Nerven und sagte:
»Ihr habt aus einer Mücke einen Elefanten gemacht.« Als keiner reagierte, fuhr er fort:
»Sammara ist ein Mädchen mit Prinzipien, aber auch eine Frau mit einem Herzen.«
Sie blickten ihn warnend und mißbilligend an, aber er redete unbeirrt weiter: »Wir sind Schuldner der Liebe…«
Mehr als eine Stimme bat ihn, still zu sein, aber er fügte hinzu: »Die Liebe hat uns vor dem Richtspruch der Prinzipien gerettet.«
Sammara drehte und wendete sich unwillig und nervös, dann brach sie in heftige Tränen aus, als ginge ein Sturm über sie hinweg. Ali as-Sayyid näherte sich ihr gerührt und versuchte, sie zu beruhigen. Ragab aber stürzte sich auf Anis und schrie: »Du!… du!« und schlug ihn hart ins Gesicht.
18
Ahmad Nasr ergriff seinen Arm und hielt ihn zurück, während er hervorstieß:
»Bist du verrückt! Was für ein Wahnsinn!« Sammara hörte auf zu weinen und blickte erstarrt vor Überraschung. Alles blieb stumm, das Schweigen lastete auf allen. Ungerührt hatte Anis den Schlag empfangen; er blickte nur lange wortlos auf Ragab. Mustafa wollte ihn trösten, aber er schob seine Hand zur Seite: »Bitte!«
»Ein bedauerliches Verhalten, gewiß! Die Wut hat einen gutmütigen Freund verblendet.« Er brüllte zurück: »Nein.«
Amm Abduh trat ein, als sei er gerufen worden, und sagte: »Der Kaffee ist auf dem Feuer.«
Er winkte ihn mit der Hand weg, und der Alte ging. Anis stand auf, schritt auf und ab und redete unaufhörlich mit sich selbst. Plötzlich stürzte er sich auf Ragab und umklammerte mit beiden Händen seinen Hals. Ragab schlug seine Arme schnell beiseite und befreite sich. Anis stieß mit dem Kopf gegen die Nase des anderen. Schlagend und tretend gingen sie aufeinander los. Die anderen warfen sich zwischen sie, um sie auseinanderzubringen. Anis aber taumelte schon und stürzte zu Boden. Amm Abduh erschien in der Tür, blickte verstört um sich und murmelte: »Nein, nein…«
Ahmad Nasr befahl ihm hinauszugehen, aber er murmelte weiter: »Nein, nein.« Unter dem Zwang der Blicke zog er sich schließlich doch kopfschüttelnd zurück. Mustafa Raschid und Ali as-Sayyid halfen Anis auf einen Sessel, die anderen scharten sich um Ragab, der das Blut, das ihm aus der Nase rann, abwischte. Anis legte apathisch seine Arme auf die
Sessellehne, beugte den Kopf nach hinten und schloß die Augen halb. Laila und Sana halfen ihm, holten Wasser und Watte und tupften ihm das Blut von Unterlippe und Augenbrauen und kühlten ihm Gesicht und Hals mit Wasser. Sammara verzog schmerzlich das Gesicht und murmelte Worte, die keiner hörte. Ahmad Nasr schlug die Hände zusammen: »Wer hätte so etwas gedacht!« Und Ali as-Sayyid: »Was für ein Unglück!«
»Der Satan reitet uns. Wir sind nicht mehr wir selbst.« Saniyas Augen füllten sich mit Tränen:
»Wer hätte das geglaubt, daß dies in unserem Hausboot passieren könnte!«
Sammara weinte erneut, aber lautlos. Anis öffnete die Augen, blickte jedoch keinen an. Ali as-Sayyid beugte sich über ihn: »Wie geht es dir?« erkundigte er sich. Er aber antwortete nicht. Ali as-Sayyid fragte weiter:
»Mit deiner Erlaubnis werde ich einen Arzt rufen.«
»Nicht nötig«, wehrte Anis ab.
»Glaub mir, wir sind zutiefst traurig, auch Ragab selbst, und er möchte sich mit dir versöhnen.« Mit erstaunlicher Gelassenheit sagte er:
»Alles kann verziehen werden, außer…«, er schluckte, »außer dem Mord.«
Es schien, als habe keiner etwas verstanden. Anis reckte sich im Sessel auf:
»Fühlst du dich besser?« wollte Ali as-Sayyid wissen. »Alles kann verziehen werden, außer Mord.«
»Was meinst du?«
»Ich meine, es muß Gerechtigkeit walten.«
»Ragab ist bereit…« Er aber fiel ihm ins Wort: »Ich meine den Mord an dem Unbekannten.«
Befremdet sahen sie sich an, Ali as-Sayyid zuckte mit der Schulter:
»Wichtiger ist, daß du wieder zu dir selbst kommst.«
»Ich bin es, danke! Ich bin es vollkommen, ich spreche über das, was danach getan werden muß.«
»Aber ich verstehe nicht, was du meinst, mein Lieber.«
»Meine Worte sind gar nicht unverständlich. Ich meine den unbekannten Toten und sage, daß ihm Gerechtigkeit zuteil werden muß.«