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Nehmen wir noch zwei weitere, miteinander verflochtene Aspekte der hiesigen Kultur unter die Lupe: eine streng tabuisierte Lexik, die die Alltagskommunikation der Menschen bestimmt, und Gesetze, die die Lebensordnung des Normalbürgers kriminalisieren (was den Gesichtern der Leute ein unauslöschliches Stigma von Sünde aufdrückt), so hätten wir das Erscheinungsbild der Gesellschaft, die zu besuchen du dich anschickst, in Kurzfassung komplett. Freilich ließe sich die Liste beliebig verlängern: Man könnte die Tresortüren vor den Wohnungen hinzunehmen oder die metaphysisch getrimmten Kino-Blockbuster, wo das Böse sich vom Guten füttern lässt, weil im Gegenzug auch das Gute sich vom Bösen … und so fort. Genug davon!

Lieber möchte ich Dir noch ein paar professionell fundierte Beobachtungen mitteilen, was die Perspektiven einer karrierebewussten jungen Frau in Russland betrifft. In den Gefängnissen wird mit Vorliebe ein Spiel gespielt, das bei der Intelligenzija unter dem Namen Robinson, bei den Intellektuellen als Ultima Thule bekannt ist. Es geht folgendermaßen: Ein Mann setzt sich so in den Waschzuber, dass nur die Eichel seines Penis aus dem Wasser schaut. Dann nimmt er aus einer Streichholzschachtel eine Fliege, der man zuvor die Flügel ausgerissen hat, und setzt sie auf dem kleinen Eiland aus. Dem armen Insekt zuzuschauen, wie es verzweifelt auf der Vorhaut hin- und herirrt, darin erschöpft sich der Spielgedanke dieser polarnahen Vergnügung. Eine Meditation über die Ausweglosigkeit der Existenz, über Einsamkeit und Tod. Die Katharsis besteht darin, dass der Penis durch die beständig krabbelnde Fliege stimuliert wird. Es existiert eine Abart dieses Spiels, die bei der Intelligenzija unter dem Namen Atlantis, bei den Intellektuellen als »Geistiges Kitesch« bekannt ist. Die Details sind so finster, dass ich sie Dir hier erspare, sonst bist Du um den Schlaf gebracht.

Glaub mir, Schwesterlein, solltest Du hier anreisen. Du würdest dich sehr bald fühlen wie eine Fliege ohne Flügel, umherirrend auf den Inseln des Archipels, über den seit Solschenizyn alles Wesentliche gesagt ist. Lohnt es wirklich, Dein Meer und Deine Sonne gegen dieses harte Los einzutauschen? Geld ist hier reichlicher vorhanden, das ist wahr. Doch glaub mir, die Leute hier geben ihr ganzes Geld aus, um wenigstens andeutungsweise, wenigstens im Heroin- oder Alkoholrausch in die Nähe jenes Stromes von Glück und Freude zu gelangen, worin Dein Leben verläuft.

Und noch ein Letztes – da Du das Überwertier nun einmal erwähnt hast. Es ist meine feste Überzeugung, dass alle von ihm handelnden Legenden rein metaphorisch zu verstehen sind. Ein Überwerwesen ist das, was jede von uns durch sittliche Vervollkommnung und bestmögliche Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu werden imstande ist. Du bist jetzt schon eins – in Potenz. Das Überwerwesen außerhalb von uns selbst zu suchen heißt, in die Irre zu gehen. I Huli oder ihren Mann (den ich mir gerne einmal ansehen würde, solange das noch geht) davon abzubringen, versuche ich gar nicht erst, dafür ist mir die Zeit zu schade. Aber Du, Schwesterlein, mit Deinem klaren Verstand und Deinem gerechten Herzen, solltest es einsehen.

Ich liebe Dich und denk an Dich,

Deine A

Es gibt da so eine chinesische Komödie aus dem siebzehnten Jahrhundert: Zwei Füchse in einer Stadt. Moskau ist eine sehr große Stadt. Hier könnte es folglich sehr große Probleme geben. Aber solche Befürchtungen bewegten mich am allerwenigsten – Ehrenwort! Mir war es einzig um das Glück meiner Schwester zu tun. Wenn ich in meinem Brief etwas dick aufgetragen hatte, so nur aus Sorge um sie – sollte sie ihr Bäuchlein doch getrost noch eine Weile länger in die Sonne halten! Geld macht nicht glücklich. Und zum Überwertier hatte ich ihr das Wesentliche geschrieben, davon war ich überzeugt. Das nächste Mal würde ich ihr nahe legen, sich an die Methode Die Braut gibt einen Ohrring zurück zu halten.

Apropos … Ich hatte plötzlich eine entzückende Idee. Stürzte zum Safe, wo ich den Schmuck und anderen teuren Kram aufbewahrte. Was ich suchte, fand sich gleich: Ein Paar silberne Ohrringe lag obenauf.

Ich klappte die winzige Flachzange aus meinem alten Leatherman (ein frühes Modell, solche stellen sie heute gar nicht mehr her) und löste vorsichtig die Häkchen von den Ringen. Wenig später hatte ich etwas Phantastisches auf meiner flachen Hand liegen: Ohrringe in Form von Fingerringen an silbernen Häkchen, die in der Farbe mit dem Platin beinahe ganz übereinstimmen. Der eine Ring mit einem größeren, der andere mit einem kleineren Brillanten. Das hatte vor mir bestimmt noch keiner versucht. Wenn ich damit ankomme, wird die Idee sofort geklaut, dachte ich. Aber was kann man dagegen tun …

Ich hängte die Ringe an und besah mich im Taschenspiegel. Es sah super aus. Man erkannte auf den ersten Blick, dass das, was ich da am Ohr hatte, eigentlich an die Finger gehörte. Und dass es teure Ringe waren, sah man auch: Die Brillanten funkelten berückend in dem staubigen Lichtstrahl, der meine Wohnung erhellte. Am schicksten aber war, dass die kostbare Angelegenheit in einer Staffage daherkam, die jede Kostbarkeit demonstrativ geringschätzte; hier trafen sich die Ideale des Finanzkapitals mit den Werten der Achtundsechziger in einem ästhetisch integren Objekt: Schaut her, verhieß es, sie hat es nicht nur mit Abramowitsch, sondern auch mit Che Guevara! Verbunden gar mit der vagen Andeutung, dass Abramowitsch nur eine vorübergehende Wahl ist, so lange bis Che wieder in Mode kommt (Che tut hier nichts zur Sache, für ihn macht keine mehr die Beine breit – das Mädchen vermutet einfach, dass Abramowitsch auf so einen Blinker besser anbeißt.) Kurzum: genau das, was der Doktor verschrieben hat, wie der Russe zu sagen pflegt.

Dieser Doktor kann mir übrigens gestohlen bleiben. Von solchen habe ich in zweitausend Jahren genug gesehen. Verschreiben irgendwas, und die liebe Menschenseele glaubt ein ums andere Mal an den gleichen Schwindel, segelt fröhlich gegen die Klippen dieser Welt, schlägt sich an ihnen den Kopf ein. Und segelt wieder los – wie beim ersten Mal. Du aber siedelst an der Küste dieses Meeres, hörst die Wellen rauschen und denkst: Bloß gut, dass jede Welle nur von sich weiß und nichts von dem, was war.

Natürlich bekomme ich solche Ringe und Broschen nicht zur Vervollkommnung meiner Seele geschenkt, die zu erfassen die Menschen von heute sowieso nicht in der Lage wären. Sie wissen ausschließlich meine körperlichen Vorzüge zu schätzen – Schönheit, die so peinsam, zwiespältig und verheerend sein kann. Was sie für eine Macht besitzt, weiß ich sehr gut, habe es über Hunderte von Jahren studiert. Doch diesmal, nach der Begegnung mit Alexander, war mir viel von meiner gewohnten Selbstsicherheit genommen. Ich kann mich nicht entsinnen, dass die Zeit sich schon einmal so quälend hingezogen hätte – zwei Tage, die ich seinem Anruf entgegenfieberte, kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Schneckengleich krochen die Minuten aus der Zukunft in die Vergangenheit, ich saß vor dem Spiegel, betrachtete mein Konterfei und meditierte über die Schönheit.

Ein Mann denkt sich oft: Da geht dieses Mädchen durch die Stadt im Frühlingserwachen, schenkt allen ihr Lächeln und weiß gar nicht, wie schön sie ist. Ein Gedanke, der sich unweigerlich in das Bestreben kehrt, diese Schönheit, die noch nichts von sich ahnt, weit unter Marktwert zu erwerben.

Nichts könnte naiver sein. Der Mann kriegt es mit, und das Mädchen soll keine Ahnung davon haben? Das ist, wie wenn ein Bauer aus Nikolajewo seine Kuh verkauft hat und nach Moskau fährt, um sich dafür einen alten Shiguli zu kaufen. Kommt am Porsche-Salon vorbei, sieht durch die Scheibe den jugendlichen Verkäufer und denkt: Mensch, ist der aber noch jung … Vielleicht glaubt der ja noch, dass dieser orangene Boxster dort weniger als ein Shiguli kostet, weil er bloß zwei Türen hat? Ich kann ja mal reingehen und mit ihm reden, solange er grad allein bedient …