Bis zum Auto liefen wir schweigend, außer dass Michalytsch zweimal lästerlich fluchte: einmal, als er sich durch einen Spalt zwischen zwei Sperrholzplatten zwängen musste, das zweite Mal beim Tauchen durch ein Absperrgitter.
»Könnten Sie bitte das Fluchen sein lassen?«, bat ich.
»Ich hab mir den Ärmel zerrissen! Wie kommst du hier mit deinem Fahrrad durch, sag mal?«
»Ich lasse es im Sommer draußen stehen, ganz einfach. Wer kriecht schon bis hier rein.«
»Das ist wahr«, sagte er.
Das Auto stand außerhalb des Stadiongeländes. Man durfte also hoffen, dass Michalytschs Besuch unbemerkt geblieben war. Obwohclass="underline" Was machte das aus? Die Leute in der Umgebung würden noch in hundert Jahren nichts gemerkt haben. Michalytsch und seine Firma hingegen waren nun im Bilde. Die bekam ich nicht so leicht wieder los. Werd mir wohl wieder eine neue Bleibe suchen müssen, dachte ich. Das hatten wir schon …
Wir waren schon ein Stück gefahren, da hielt Michalytsch mir plötzlich eine langstielige rote Rose hin. Ich hätte nicht sagen können, wo und wie er sie hervorgezogen hatte, so überraschend geschah es. Die Blüte hatte sich erst vor kurzem geöffnet, man sah noch die Tautropfen glänzen.
»Danke«, sagte ich und nahm die Blume entgegen. »Sehr aufmerksam. Aber lassen Sie sich gesagt sein, dass zwischen uns beiden bestimmt nichts …«
»Die ist nicht von mir«, fiel er mir ins Wort. »Der Chef bat sie zu überreichen. Damit du unterwegs drüber nachdenken kannst, was sie bedeutet, hat er gesagt.«
»Gut«, sagte ich, »wird gemacht. In was für einem Gerät haben Sie mich eigentlich gesehen?«
Er griff sich in die Jacketttasche und zog einen kleinen Apparat hervor, eine Art Zigarettenetui mit Display, wie bei einer Digitalkamera. Das Etui hatte mehrere Knöpfe, sah ansonsten eher nichtssagend aus.
»Ein Peilgerät.«
»Und was peilt es?«
»Signale. Gib mal deine Handtasche.«
Ich reichte sie ihm. An der nächsten Ampel ergriff er ihren Riemen, drehte ihn um und zeigte mir einen kleinen Kreis aus dunkler Folie, kleiner als ein Kopekenstück. Sehr dünn, mit Klebeschicht. Ich hätte ihn nie bemerkt oder für irgendein Firmenlabel gehalten.
»Wann haben Sie mir das angeklebt?«
»Wie wir ins Zimmer gingen, um Champagner zu trinken«, sagte er und grinste.
»Und wozu? Bin ich denn dermaßen interessant für euch?«
»Ach, doch«, sagte er. »Aber das ist nicht mehr mein Job. Der Chef übernimmt. Er wird dir auf die Schliche kommen, verlass dich drauf. Da haben wir schon ganz andere durchschaut. Ich hab ihm übrigens gesagt, was du so treibst.«
Was hier vor sich ging, war entschieden nicht mehr nach meinem Geschmack. Doch es war bereits zu spät, mich abzuseilen: Wir näherten uns dem Haus, das ich schon kannte. Das Auto überquerte den Hof und fuhr in das Metalltor der Garage ein, das sich umgehend wieder schloss und uns von der Außenwelt abschnitt.
»Steig aus, wir sind da.«
Als Michalytsch nach draußen gekrochen war, legte ich die Rose auf seinen Sitz: Der dicke, dornige Stiel hob sich in der Farbe kaum ab, es bestanden gute Aussichten, dass Michalytsch seinen kräftigen Hintern mit Schwung darauf niedergehen ließ.
»Schuhe ausziehen«, sagte er, als ich ausgestiegen war.
»Was denn, gehts zur Hinrichtung?«
»Das werden wir sehen«, brummte er. »Dort vorne am Fahrstuhl sind Hausschuhe.«
Ich schaute mich um. Das kreisrunde Loch in der Decke, die Eisenstange, die Wendeltreppe – es war der Ort, den ich schon kannte. Doch jetzt brannte Licht in der Garage, und ich sah die Fahrstuhltür, die ich beim letzten Mal nicht bemerkt hatte. Davor standen mehrere unterschiedliche Paar Hausschuhe. Ich wählte ein Paar blaue Latschen mit runden Pompons, weil sie einen so rührend hilflosen Eindruck machten: Wer ihre Trägerin kränkte, musste ein Unmensch sein.
Die Fahrstuhltür öffnete sich, Michalytsch ließ mir mit einer Geste den Vortritt. Am Schaltbrett zwei große dreieckige Knöpfe, zusammen bildeten sie einen Rhombus. Michalytsch drückte das obere Dreieck, und der Fahrstuhl riss uns mit mächtigem Ruck vom Erdboden los.
Als die Tür Sekunden später wieder aufging, schlug mir von allen Seiten grelles Licht in die Augen. Inmitten des Gleißens und Regenbogenflimmerns stand Alexander. Er trug Uniform, ein Gazeschleier verbarg sein Gesicht.
»Grüß dich, Ada«, sagte er. »Herzlich willkommen. Nein, entschuldige, Michalytsch – du bist nicht eingeladen. Heute würdest du stören …«
Das Penthouse war mir schon beim ersten Besuch aufgefallen, nur dass ich es nicht für ein solches gehalten hatte – von unten sah es aus wie der dunkle Druckknopf auf einem Riesenbetonbleistift. Es hätte ein Aufbau für die Fahrstuhlmotoren sein können, irgendein technischer Nebenraum, eine Boilerkammer vielleicht. Doch wie sich herausstellte, waren diese türkisfarbenen Wände von innen her durchsichtig.
Ich hatte dies noch nicht recht begriffen, da dunkelten die Wände vor meinen Augen ein, bis sie wie grünes Flaschenglas wirkten. Eben noch hatte ich in die Sonne geblinzelt, nun, binnen Sekunden, erstand vor meinen Augen eine komplette Wohnungseinrichtung, die vorher wegen des blendenden, auf eine Vielzahl von Spiegelflächen treffenden Sonnenlichts nicht zu sehen gewesen war.
Später erfuhr ich, dass es sich um eine teure technische Spielerei handelte: Die Transparenz der Wände wurde durch spezielle computergesteuerte Flüssigkristallfolien reguliert. Doch beim Eintreten glaubte ich an ein Wunder.
Wunder aber stimmen mich seit je ironisch, um nicht zu sagen: arrogant.
»Grüß dich, Alex«, sagte ich. »Was ist das denn für ein Budenzauber? Reicht dein Geld nicht für normale Gardinen?«
Er war verdutzt. Fing sich aber in kürzester Zeit und lachte.
»Alex!«, sagte er. »Das find ich gut… Na klar: Wenn du jetzt Ada bist, muss ich wohl Alex sein.«
Sein hellgrauer Uniformrock mit den zwei Knopfleisten und den Schulterklappen eines Generalleutnants, dazu die dunkelblauen Hosen mit den breiten roten Biesen – es wirkte ein bisschen operettenhaft. Im Nähertreten hob er den Gazeflor vom Gesicht, blinzelte und sog tief Luft ein. Mich interessierte, wozu er das immer machte, traute mich aber nicht zu fragen. Als er die Augen wieder öffnete, fiel sein Blick auf meine Ohrringe.
»Hübscher Einfall!«, sagte er.
»Nicht wahr? Dass die Steine verschieden sind, ist der Clou. Gefällt es dir?«
»Gefällt mir gut… Hat Michalytsch dir die Blume gegeben?«
»Hat er«, sagte ich. »Und ich soll überlegen, was die Botschaft sein könnte. Ist mir aber nichts dazu eingefallen. Vielleicht kannst du es mir selber sagen?«
Er kratzte sich am Kopf. Die Frage schien ihn verlegen zu machen.
»Kennst du das Märchen von der feuerroten Blume?«
»Welches meinst du?«, fragte ich.
»Ich denke, da gibt es nur eins.«
Er deutete mit dem Kopf in Richtung seines Schreibtischs, auf dem ein Computerflachbildschirm und eine kleine silberne Statue standen. Neben der Statue lag ein Buch mit mehreren Lesezeichen. Russische Märchen stand in verschlissenen roten Buchstaben auf dem Einband.
»Das Märchen hat der Schriftsteller Sergej Aksakow aufgeschrieben«, sagte er. »Seine Haushälterin Pelageja hat es ihm erzählt.«
»Worum geht es?«
»Um die Schöne und das Biest.«
»Und was spielt das Blümlein für eine Rolle?«
»Damit fängt alles an. Du kennst das Märchen tatsächlich nicht?«
»Nein.«
»Es ist lang, aber auf den Punkt gebracht geht es so, dass ein schönes Mädchen den Vater bittet, er soll ihr eine rote Blume bringen. Der Vater findet eine in einem Zaubergarten, ein gutes Ende weg, und pflückt sie. Aber der Garten wird von einem schrecklichen Ungeheuer bewacht. Es schnappt sich den Vater des schönen Mädchens. Damit er freigelassen wird, muss das Mädchen selbst in Gefangenschaft zu dem Ungeheuer gehen. Das Ungeheuer ist äußerlich hässlich, doch herzensgut. Das Mädchen verliebt sich in das Ungeheuer, erst wegen seiner Güte und später überhaupt. Und als sie sich zum ersten Mal küssen, wird der magische Zauber aufgehoben, und aus dem Ungeheuer wird ein schöner Prinz.«