»Ah ja«, sagte ich. »Ist dir wenigstens klar, worum es da geht?«
»Aber ja.«
»Nämlich?«
»Darum, dass die Liebe stärker als alles ist.«
Ich musste lachen. Witziger Typ! Vermutlich hat er mehrere große Gangster umgelegt, einen Bankier um die Ecke bringen lassen, nun hält er sich in typisch menschlicher Selbstüberschätzung für ein Ungeheuer. Und meint, die Liebe könnte ihn leiten.
Er nahm mich beim Arm und führte mich zu einem futuristischen Sofa, das zwischen zwei mit winzigen Lauben, Brückchen und sogar Wasserfällen ausgestatteten Bonsaibauminseln stand.
»Worüber lachst du?«, fragte er.
»Das kann ich dir erklären«, sagte ich, während ich mich im Schneidersitz auf dem Sofa niederließ.
»Da bin ich aber gespannt.«
Er setzte sich ans andere Sofaende und schlug die Beine übereinander, sodass der Rand der Revolvertasche unter dem Rocksaum hervorschaute.
»Es ist eines jener Märchen, die den Schmerz und das Erschrecken der Frau bei ihrer ersten sexuellen Erfahrung wiedergeben«, begann ich. »Solche Geschichten gibt es viele. Die du erzählt hast, scheint ein klassisches Beispiel zu sein. Eine Metapher dafür, wie die Frau das animalische Wesen des Mannes entdeckt und zugleich ihre eigene Macht über dieses Tier in ihm. Und die kleine rote Blume, die der Vater pflückt, ist ein so unverhohlenes Deflorationssymbol, noch dazu angereichert mit dem Thema Inzest, ich kann mir kaum vorstellen, dass es einer Haushälterin über die Lippen gekommen sein soll. Wahrscheinlich hat es sich ein Wiener Assistent zu Anfang des vorigen Jahrhunderts ausgedacht, um seine Diplomarbeit damit auszuschmücken. Das Märchen, die Haushälterin Pelageja, der Schriftsteller Aksakow – alles seine Erfindung. Zu der Zeit nannte man diese Pelagejas übrigens noch Beschließerinnen. Also mit Schlüsselgewalt. Und nicht nur ein Schlüssel, viele an einem Ring. Muss ich noch deutlicher werden?«
Während ich sprach, hatte sich Alexanders Miene immer mehr verdüstert.
»Wo hast du das denn aufgeschnappt?«, fragte er.
»Das sind Binsenweisheiten. Jeder kennt sie.«
»Und du glaubst das?«
»Was denn?«
»Dass dieses Märchen nicht vom Triumph der Liebe handelt, sondern davon, wie die Defäkation sich ihrer Macht über den Inzest bewusst wird?«
»Defloration«, korrigierte ich ihn.
»Egal. Dieser Meinung bist du?«
Ich überlegte.
»Ich … bin überhaupt keiner Meinung. Das ist der moderne Märchendiskurs.«
»Und deswegen denkst du, wenn du eine rote Rose geschenkt bekommst, an Defäkation und Inzest?«
»Wie kommst du darauf?«, erwiderte ich ein bisschen aus der Fassung geratend. »Wenn ich eine rote Rose geschenkt bekomme, dann … dann freue ich mich einfach.«
»Na Gott sei Dank«, sagte er. »Und was diesen modernen Diskurs anbelangt, da wird es höchste Zeit, dass man den mit einem Pfahl aus Espenholz in den verkoksten und zugepeppten Arsch zurücktreibt, der ihn ausgeschissen hat.«
Eine derart rustikale Verallgemeinerung überraschte mich.
»Wieso?«
»Wieso? Damit er die kleine rote Blume nicht besudelt.«
»Gut«, sagte ich, »das mit dem Koks kann ich noch verstehen. Anspielung auf Doktor Freud und sein kleines Laster, nehme ich an? Aber zugepeppt?«
»Das kann ich dir erklären«, äffte er mich, gleichfalls in den Schneidersitz gehend, nach.
»Da bin ich aber gespannt.«
»Die Diskurserfinder, diese ganzen französischen Papageien, sind alle auf Amphetamin. Abends fressen sie Barbiturate, um einzuschlafen, und früh fangen sie den Tag mit Amphetaminen an, um sich die Barbiturate aus dem Hirn zu sprengen. Und später fressen sie noch mal welche, um so viel Diskurse wie möglich rauszuhauen, ehe sie wieder anfangen, Barbiturate zu fressen, damit sie einschlafen können. Da hast du den ganzen Diskurs. Ist dir das etwa neu?«
»Woher stammen die Informationen?«
»Wir hatten in der FSB-Akademie eine Weiterbildung über die psychedelische Kultur der Neuzeit. Gegengehirnwäsche … Ach so: Schwul sind sie auch alle. Falls du dich fragst, wieso in den Arsch.«
Das Gespräch nahm keinen guten Verlauf, es wurde Zeit, das Thema zu wechseln. Dies tue ich am liebsten rasch und entschieden.
»Du, Alexander«, sagte ich. »Erklär mir doch bitte mal, was ich hier eigentlich soll. Willst du mich ficken oder umerziehen?«
Er zuckte zusammen, als hätte ich eine Ungeheuerlichkeit von mir gegeben, sprang vom Sofa und fing an, vor dem Fenster auf und ab zu gehen – falls man das nun wieder transparente Rechteck in der Wand so nennen wollte.
»Legst du es darauf an, mich zu schockieren?«, fragte er. »Das musst du nicht. Ich weiß, dass sich unter deinem gekünstelten Zynismus eine reine, verletzliche Seele verbirgt.«
»Gekünstelter Zynismus? Bei mir?«
»Zynismus ist nicht das richtige Wort«, sagte er und blieb stehen. »Leichtsinn. Unverständnis für die wesentlichen Dinge des Lebens, mit denen du spielst wie ein kleines Kind mit einer Granate. Lass uns offen miteinander reden. Zur Sache.«
»Von mir aus.«
»Du sprichst vom animalischen Wesen des Mannes, dem Schrecken der ersten Paarung … Das sind düstere, furchtbare Dinge. Mir selbst wird manchmal angst und bange, wenn ich in diese Abgründe schaue …«
Mir selbst. Nein, er war wirklich lustig!
»Du dagegen urteilst darüber, als wären es Peanuts. Hast du denn gar keine Angst vor dem Tier im Manne? Vor dem Mann im Tier?«
»Keine Spur«, sagte ich. »Michalytsch hat dir doch gesagt, wer ich bin. Oder nicht?«
Er nickte.
»Na also. Wenn ich solche Probleme hätte, könnte ich nicht arbeiten.«
»Und die Nähe des fremden Körpers, so groß und ungeschlacht und eigenen Gesetzen folgend – das alles schreckt dich gar nicht?«
»Ich bete es an«, sagte ich und lächelte.
Er sah herüber, schüttelte argwöhnisch den Kopf.
»Ich meine, die physische Nähe? Im profansten Sinn des Wortes?«
»Für geistige Nähe erhebe ich einhundertfünfzig Prozent Aufschlag. Wie lange wollen wir noch auf dem Thema rumkauen? Palaverst du immer so ausführlich vor dem Ficken?«
Er verzog das Gesicht.
»Ich möchte nicht, dass du mit mir redest wie mit einem Gangster. Macht das die Uniform, oder wie?«
»Könnte sein. Probier es und zieh sie aus. Die Hosen gleich mit.«
»Hör mal, wieso kannst du nicht…«
»Gefalle ich dir denn kein bisschen?«
Ich neigte den Kopf und sah ihn schmollend von unten her an: Augen etwas zusammengekniffen, Lippen leicht geschürzt. An diesem Blick habe ich mehr als tausend Jahre gefeilt, ihn beschreiben zu wollen ist müßig. Hausmarke, eine lupenreine Provokation: Unschuld und Schamlosigkeit in einem Flakon, eine panzerbrechende Melange, die den Kunden glatt durchschlägt und im Zurückprallen noch mal erwischt. Die einzige mir bekannte Möglichkeit, sich vor einem solchen Blick zu schützen, ist, woanders hinzusehen. Alexander sah mir in die Augen.
»Und ob du mir gefällst!«, sagte er, und sein Kopf zuckte nervös.
Ich merkte, dass der kritische Moment gekommen war. Wenn ein Kunde so mit dem Kopf zuckt, ist das ein Zeichen dafür, dass die Kontrollzentren in seinem Hirn zu versagen beginnen, sodass er sich jeden Moment auf dich stürzen kann.
»Ich müsste mal kurz verschwinden«, sagte ich und erhob mich. »Wo ist bei dir das Bad?«
Er zeigte auf eine runde Wand aus durchscheinendem blauem Glas. Eine Tür gab es nicht – nur einen schneckenartig nach innen sich windenden Gang.