Ich kann mir denken, dass Du mit Dir selber genug zu tun hast, Trotzdem wollte ich Dich um Deinen Rat und Deine Anteilnahme bitten. Sollte ich nicht vielleicht nach England gehen? Dass ich mit den Engländern gut zurechtkäme, dessen bin ich mir sicher. Etliche von ihnen habe ich im National kennen gelernt, sie scheinen mir ein anständiges Volk zu sein. Ich werde öfters in Pfund ausgezahlt, diesbezüglich würde ich also keinen Kulturschock erleiden. Bitte schreib mir recht, bald, ob sich in London nicht vielleicht ein nettes Plätzchen für A Huli finden ließe?
Ich liebe Dich und denk an Dich,
Deine A
Kaum hatte ich den Brief abgesandt, klingelte das Handy. Die Nummer war nicht festzustellen, und mein Herz machte einen Sprung. Ich ahnte, wer es war, noch bevor ich die Stimme hörte.
»Grüß dich«, sagte Alexander. »Du sprachst von drei Tagen, aber das ist mir zu lange. Kann ich dich morgen sehen? Und wenn es fünf Minuten sind.«
»Gut«, sagte ich, bevor ich nachdenken konnte.
»Dann schicke ich Michalytsch. Er ruft dich an. Küsschen.«
Die Fahrstuhltür ging auf, Michalytsch und ich betraten das Penthouse. Alexander saß in seiner Generalsuniform im Sessel und sah fern. Er wandte sich um, sprach aber nicht zu mir.
»Na sag mal, Michalytsch, da haben sich eure Leute wohl wieder kräftig selber angepisst?«, fragte er fröhlich und nickte in Richtung des langen LCD-Panels, auf dem zwei Sender nebeneinander liefen: Über die eine Bildhälfte sprangen weiße und tote Fußballer, auf der anderen schwätzte Aslan Udojew, ertrug jetzt ein Pflaster an der Stirn, mit dem dunkellila Bart sah er aus wie der böse Karabas im Märchen.
»Jawohl, Genosse Generalleutnant«, erwiderte Michalytsch verlegen. »Selber angepisst, die ganze Abteilung.«
»Mäßige deine Worte vor der jungen Dame.«
»Zu Befehl.«
»Was ist passiert?«
»Vollkommen unbegreiflich. Unvorhergesehene Störungen. Anscheinend hat sich das Signal vom Rundfunkzeitdienst drübergelegt.«
»Also alles wie immer«, sagte Alexander. »Sobald irgendwie Scheiße passiert, wird die Technikabteilung vorgeschoben.«
»Zu Befehl, Genosse Generalleutnant.«
»Tuts euch nicht Leid um den Akteur?«
»Ach …« Michalytsch winkte ab. »Solche Shakespeareforscher haben wir zur Genüge im Dienst. Nur an Shakespeares fehlts im Revier.«
»Hatte ich mich nicht klar genug ausgedrückt, Michalytsch? Du sollst das Fluchen sein lassen.«
Alexander warf einen Seitenblick auf mich.
»Zu Befehl. Soll ich einen Ermittlungsantrag stellen?« »Keinen Ermittlungsantrag. Das ist nicht mein Bier, sollen die es auslöffeln, die es eingebrockt haben. Solchen Papierkram mag ich nicht. Auf dem Papier geht immer alles gut aus, anders als im Leben … wie du siehst«, er nickte zum Bildschirm hin.
»Zu Befehl, Genosse Generalleutnant.«
»Du kannst gehen.«
Alexander wartete, bis die Tür sich hinter Michalytsch geschlossen hatte, dann erhob er sich und kam zu mir. Ich konnte mir denken, dass er vor seinem Untergebenen keine Gefühle hatte zeigen wollen, tat aber dennoch ein bisschen pikiert und rückte ab, als seine Hand meine Schulter berührte.
»Hättest mir ruhig erst mal guten Tag sagen können, bevor du dich mit dieser Knalltüte über Fußball unterhältst. Und überhaupt, stell endlich den Fernseher ab!«
Auf dem Bildschirm war kein Udojew mehr zu sehen, sondern ein kecker junger Mann auf seinem Trike. »Heute kann sich meine Crew eine anzünden! Marlboro natürlich!«, rief er, dann erlosch das Bild.
»Entschuldige«, sagte Alexander und warf die Fernbedienung zurück auf den Coachtisch. »Guten Tag.«
»Und außerdem, wie redest du denn? Wie ein besoffener Klempner.«
»Na genau. Frei von der Fettleber weg!«
Ich lächelte. Ein paar Sekunden schauten wir uns schweigend in die Augen.
»Wie gehts dir?«, fragte er dann.
»Danke, schon besser.«
»Und was trägst du in dem Korb mit dir herum?«
»Das hab ich dir mitgebracht«, sagte ich verschämt.
»Lass sehen …«
Er nahm mir den Korb aus den Händen, riss die Verpackung auf.
»Nanu? Kuchen?«, staunte er und sah mich stirnrunzelnd an. »Wozu das denn?«
Ich senkte den Blick.
Langsam schien ihm ein Licht aufzugehen.
»Moment … Und ich dachte schon die ganze Zeit, wieso hat sie dieses rote Käppchen auf… A-ha-ha!«
Mit frohem Gelächter schloss er mich in die Arme und platzierte mich neben sich auf das Sofa. Diese Bewegung hatte etwas sehr Natürliches, ich brachte es nicht über mich, ihn wegzustoßen, obwohl ich mich eigentlich noch ein bisschen zieren wollte. Das heißt: Ob ich das wollte, war mir auch schon nicht mehr ganz klar.
»Das ist wie in dem Witz vom Wolf und dem Rotkäppchen«, sagte er, »wo das Rotkäppchen fragt: Aber Wolf, warum hast du denn so große Augen? Und der Wolf sagt: Damit ich dich besser sehen kann. – Aber, Wolf, sag, warum hast du so große Ohren? – Damit ich dich besser hören kann! – Und warum hast du einen so großen Schwanz? – Das ist kein Schwanz, sprach der Wolf und errötete …«
»Puh.«
»Ist wohl nicht lustig?«
Ich zuckte die Achseln.
»Es ist unglaubwürdig. Dass ein Wolf errötet … Die Schnauze ist doch dicht mit Fell zugewachsen. Selbst wenn er errötete, wie sollte man das erkennen?«
Alexander dachte nach.
»Stimmt natürlich«, sagte er dann. »Ist ja auch bloß ein Witz.«
»Gut, dass du das Rotkäppchen wenigstens aus Witzen kennst«, sagte ich. »Ich dachte schon, dir entgeht die Anspielung ganz und gar…«
»Du hältst mich wohl für einen ziemlichen Dilettanten?«
»Wieso? Ein Dilettant wäre einer, der, was er nicht kann, trotzdem tut, weil er es gern könnte. Einen, der etwas nicht weiß, weil er es nicht wissen will, bezeichnet man als Ignoranten. Wofür würdest du dich entscheiden?«
Er errötete – ganz wie in seinem Witz.
»Was meine Bildung angeht, da täuschst du dich. Ich lese täglich.«
Und er deutete zum Couchtisch, wo ein Paperback lag, anscheinend ein Krimi. Werwölfe in Uniform, so der Titel.
»Spannend?«, fragte ich.
»Naja. Geht so.«
»Wozu liest du es dann?«
»Ich wollte herauskriegen, was es mit dem Titel auf sich hat. Wir gehen allen Provokationen nach.«
»Wer ist wir?«
»Gehört nicht zur Sache«, sagte er. »Ich meine, zur literarischen.«
»Krimis gehören auch nicht zur literarischen Sache.«
»Du magst keine Krimis?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Und warum nicht?«
»Sie langweilen mich. Wenn du von der ersten Seite an weißt, wer es war und wozu.«
»Ach ja? Wenn ich dir die erste Seite dieser Werwölfe in Uniform vorlese, kannst du mir sagen, wer es war?«
»Das kann ich auch so. Es war der Autor, und nur wegen des Geldes.«
»Hm. Na gut … Und was ist für dich Literatur?«
»Zum Beispiel Marcel Proust. Oder James Joyce.«
»Joyce?«, fragte er und rückte näher. »Der diesen Ulysses geschrieben hat? Das hab ich zu lesen versucht. Langweilig. Ehrlich gesagt, frage ich mich, wozu solche Bücher gut sind.«
»Wie meinst du das?«
»Na, den Ulysses liest doch keiner. Gut, drei haben ihn gelesen und leben davon bis ans Ende ihrer Tage. Schreiben Artikel, fahren zu Konferenzen. Sonst kann sich keiner dazu aufraffen.«