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Erleichtert atmete der Kommandant der „Tellur“ auf. Mochte die Leistungsfähigkeit der Medizin auch noch so groß sein, so schufen doch nicht voraussehbare Besonderheiten des betreffenden Organismus (sie bei den Milliarden von Individuen von vornherein in die Überlegungen einzubeziehen, war ein Ding der Unmöglichkeit!) nicht selten unerwartete Situationen. Dieser konnte man leicht Herr werden, wenn sie sich in den umfangreichen Krankenhäusern auf der Erde ereigneten, sie konnten aber große Schwierigkeiten mit sich bringen, wenn sie an Bord eines Raumschiffes eintraten.

Es war aber glücklicherweise nichts Besonderes vorgefallen. Mut Ang kehrte in die Bibliothek, in der sich jetzt niemand mehr aufhielt, und an das Violinklavier zurück. Es reizte ihn aber nicht mehr zu musizieren. Vielmehr hing er, die Hände unbeweglich auf die Tasten gelegt, seinen Gedanken nach.

Immer wieder zogen den Kommandanten des Weltraumschiffes die bei aller Fortgeschrittenheit der Menschheit nach wie vor ungelösten und doch so brennenden Fragen in ihren Bann: Was ist Glück? Was bedeutet die Zukunft für uns, und was mag sie uns noch bringen?

Es war dies seine vierte Reise in den Kosmos. Aber noch niemals bisher hatte es sich um einen so riesigen Sprung über Raum und Zeit hinweg gehandelt wie diesmal. Siebenhundert Jahre! Welch ungeheurer Zeitraum angesichts des raschen Entwicklungstempos der modernen Zeit, der unerhörten Zunahme von großartigen Leistungen und epochemachenden Erfindungen, des hohen Standes der Wissenschaft, den man auf der Erde bereits erreicht hatte! Wie verhältnismäßig unbedeutend erschien demgegenüber eine solche Zeitspanne, wenn man sie in die Frühzeit der Zivilisation verlegte. Damals war das Entwicklungsziel der Menschheit, ohne durch Forscherdrang oder durch die Notwendigkeit zu höheren Zielen getrieben zu werden, allein darauf gerichtet gewesen, dem Menschen weitere Ausbreitung zu ermöglichen und die großen, noch menschenleeren Gebiete auf seinem Planeten zu erschließen und zu besiedeln. In jener Epoche waren dem Begriff der Zeit noch keine Grenzen gesetzt, und alle Veränderungen in der menschlichen Gesellschaft gingen ganz langsam vor sich.

Viele Jahrhunderte waren vergangen, ohne sichtbare Spuren hinterlassen zu haben. Was bedeutete da schon ein Menschenleben, was waren hundert, was tausend Jahre? Beinahe mit einem Gefühl des Grauens verfolgte Mut Ang seine Gedankengänge weiter: Wie hätte es den Menschen der alten Welt zumute sein müssen, wenn sie damals hätten vorhersehen können, wie langsam sich der Prozeß der Umwandlung der menschlichen Gesellschaft vollziehen werde, und wenn ihnen zum Bewußtsein hätte kommen können, daß noch so viele Jahrhunderte hindurch die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, Ungerechtigkeit und Unordnung ihren Planeten beherrschen würden? Wollte man zum Beispiel den Sprung über die siebenhundert Jahre hinweg nach rückwärts machen, so sähe man sich im tausendjährigen China mitten in den mörderischen Kämpfen der verschiedenen Dynastien und Fürstenhäuser, und in Europa befände man sich in der Zeit der religiösen Nacht des Mittelalters, der Scheiterhaufen einer blindlings wütenden Inquisition und der Maßlosigkeit eines grausamen Obskurantismus.

Welche Veränderungen seit jener Zeit trotz der verhältnismäßig langsamen damaligen Entwicklung! Wie sollte man es da wagen können, von der Gegenwart mit ihrem so ungestümen Entwicklungstempo aus einen verwegenen Blick in die Zukunft werfen zu wollen! Mußte einem bei dem Sprung über sieben mit umwälzenden Veränderungen, Verbesserungen des Lebens und Erweiterung der Erkenntnisse vollgepackte Jahrhunderte hinweg nach vorwärts nicht der Kopf schwindlig werden vor brennendem Verlangen, einen Einblick in die zu erwartenden ungeheuren Umwandlungen zu gewinnen? Wenn aber der Ursprung dessen, was wir „Glück“ zu nennen pflegen, in der ständigen Bewegung, der Veränderung der Dinge und dem Fortschritt lag, wer konnte sich dann mit mehr Recht glücklich preisen als er selbst und seine Genossen? Und doch, so einfach war die Sache wiederum auch nicht! Zwiespältig war die menschliche Natur wie die den Menschen umgebende und durch ihn gestaltete Welt, Wohl war ihm der Drang zu ewiger Weiterentwicklung und zur Veränderung des Althergebrachten angeboren, und doch hing er an diesem mit allen Fasern seines Herzens, und er trauerte immer wieder der Vergangenheit oder, besser gesagt, dem Schönen und Angenehmen der Vergangenheit nach. Denn meist prägt sich nur das Schöne in der Erinnerung ein, und das hatte früher auch zu den Vorstellungen von der „guten alten Zeit“ geführt.

Mut Ang stand hinter seinem Instrument auf und dehnte den sehnigen Körper.

Ja, in den Geschichtsbüchern, da war alles so klar beschrieben, und alles war so interessant zu lesen. Was war es denn eigentlich, was einer mutigen Jugend an Bord eines Raumschiffes, das gerade zum Sprung in eine ferne Zukunft ansetzte, Schrecken und Grauen einzuflößen vermochte? War es etwa das Gefühl der Einsamkeit, war es die Abwesenheit von Nahestehenden, Freunden, Familienangehörigen? Wie oft schon hatte man darüber geschrieben und das Gefühl der Einsamkeit als ein Schreckgespenst ausgemalt, das dem Menschen gegenübertritt, sobald er sich der Unendlichkeit des Kosmos ausgeliefert sieht. Der Mensch im weiten All — dieses Problem hatte schon von jeher Anlaß zum Nachdenken gegeben, ebenso die Trennung von Verwandten und Bekannten. Wie konnte aber ein solcher Umstand eine derartige Wirkung auslösen, waren doch diese Verwandten nur eine geringe Anzahl von Personen, mit denen man oftmals bloß durch formale und lockere Bande verknüpft war. Und standen sich jetzt nicht alle Menschen gleich nahe, nachdem keine staatlichen Grenzen die einzelnen Völker voneinander schieden und keine konventionellen Sitten die wechselseitigen Beziehungen der auf der Erde lebenden Menschen bestimmten? Wir Leute von der „Tellur“ haben zwar alle, die uns auf der Erde teuer waren und uns nahestanden, verloren. Aber wir werden, wenn wir dereinst auf die Erde zurückkehren, Menschen vorfinden, die uns nicht weniger nahestehen werden als unsere jetzigen Verwandten, und diese Menschen werden in ihrem Denken klarer und fortgeschrittener, in ihren Empfindungen und Gefühlen zarter und edler sein als unsere Zeitgenossen, von denen wir uns jetzt für immer getrennt haben. — Ja, mit diesen Worten wird er, Mut Ang, der Kommandant des Weltraumschiffes, zu den jungen Mitgliedern seiner Besatzung sprechen müssen.

In der Kommandozentrale ging Tei Eron seiner Lieblingsbeschäftigung nach: Er stellte Zahlen und Werte zusammen, diesmal für die in einigen Stunden vorgesehene Kursänderung. Er hatte nur die unbedingt nötigen Lampen angeschaltet. Sie erhellten den großen, runden Raum nur schwach und ließen ihn beinahe gemütlich erscheinen. Der Erste Offizier summte ein einfaches Liedchen vor sich hin, während er mit der ständigen Überprüfung der Berechnungen beschäftigt war. Das Raumschiff erreichte nunmehr seine weiteste Entfernung von der Erde. Heute abend sollte die Umkehr erfolgen. Dabei mußte der Kohlenstoffstern, dem die ganze Reise gegolten hatte, umkreist werden. Sich ihm noch weiter zu nähern, wäre zu gefährlich gewesen.

Das unbestimmte Gefühl, es müsse jemand hinter ihn getreten sein, veranlaßte Tei Eron, sich umzudrehen. Hinter ihm stand sein Kommandant.

Mut Ang beugte sich über die Schulter des Ersten Offiziers und las an den Geräten die Endergebnisse der Berechnungen ab. Fragend blickte Tei Eron den Kommandanten an. Dieser nickte nur. Eine kaum bemerkbare Fingerbewegung des Ersten Offiziers — und durch das ganze Schiff ertönten Achtungssignale und die metallisch durchdringende Ankündigung: „Alles herhören!“

Mut Ang zog das Mikrophon zu sich heran. Er wußte, daß in diesem Augenblick in sämtlichen Räumen des Schiffes jeder verstummte und unwillkürlich das Gesicht dem nächsten der versteckt angebrachten Lautsprecher zuwandte.