Weil Dad ein Held war. Und das war das, was Helden eben taten.
Endlich erschien ein bekanntes Gesicht hinter einem streitenden Pärchen. Dad überholte sie, und während er zügig auf sie zukam, erschien ein breites Grinsen zwischen seinen Bartstoppeln.
Sammy hatte nicht so gut aufgepasst, aber als Dad durch die Tür kam, sprang er auf und rannte los.
„Daaad!“
„Was für’n Baby“, sagte Dean und tat so, als wäre es keine große Sache, dass Dad wieder da war.
„Geht es euch gut, Jungs?“
„Uns geht es toll, Dad.“ Sammy sprang förmlich auf und ab. „Ich habe Dean beim Dame Spielen geschlagen und dann hat er beim Verstecken gewonnen. Das ist aber okay, ich habe ihn beim Yahtzee geschlagen!“
Dean wollte gerade klarstellen, dass Sammy lediglich eine Partie Yahtzee gewonnen hatte, aber Onkel Bobby legte die Hand auf seine Schulter und schüttelte den Kopf.
Widerwillig hielt Dean den Mund. Sam war so glücklich, Dad zu sehen und Bobby wollte nicht, dass Dean ihm den Spaß verdarb.
Also sagte er nur: „Schön dich zu sehen, Dad.“
„Ich freue mich auch, euch beide zu sehen. Oh, und ich habe euch etwas mitgebracht!“ Er griff in die Jackentasche und zog zwei winzige Rechtecke aus Plastik hervor, gab eines Sam und streckte die andere Hand aus, um Dean das Gegenstück zu geben.
Es war ein Miniatur-Nummernschild aus Kalifornien, auf dem an Stelle der Nummer DEAN stand.
Sam bekam große Augen – auf seinem stand SAM.
„Wow! Das ist so toll!“
„Die bekommt man nur in San Francisco“, sagte Dad lächelnd. „Ich musste euch doch etwas Besonderes mitbringen.“
Weil Sammy so glücklich über sein Geschenk war, sagte Dean nichts.
Er wusste aber, dass man solche Artikel an vielen Orten in Kalifornien bekommen konnte und dass sie besonders gern in Souvenirläden an Flughäfen verkauft wurden. Er war nur einmal geflogen und er hasste es wirklich, wirklich, wirklich sehr. Aber er erinnerte sich an diese Läden.
Das bedeutete, dass Dad sie wahrscheinlich schnell auf dem Weg zum Flieger besorgt hatte. Nach dem, was er von Onkel Bobbys Telefongespräch gestern Abend mitbekommen hatte, hatte er seine Söhne nicht einmal am Flughafen erwartet.
Dann zerstrubbelte Dad Sammys Haar und ging auf Dean zu. Er legte ihm die Hände auf die Schultern und sah ihn mit seinem ernstesten Gesichtsausdruck an. Den setzte er immer auf, wenn er etwas echt Wichtiges sagen wollte.
„Du hast gut auf Sammy aufgepasst, oder?“
Dean schluckte und fühlte sich plötzlich entsetzlich schuldig. Er erinnerte sich an das, was Dad in der Nacht, als Mom gestorben war, zu ihm gesagt hatte. Sie waren in sein Gedächtnis eingebrannt, aber gerade jetzt hallten sie laut.
„Bring deinen Bruder hier raus, so schnell du kannst! Los Dean, lauf!“
Also nahm er Haltung an und sah seinem Vater direkt in die Augen.
„Ja, Sir!“
Dad lächelte. „Das ist mein Junge!“
„Kommt mit“, sagte Onkel Bobby. „Lasst uns hier abhauen.“
Sie gingen zum Parkplatz. Dean wurde ein bisschen wütend, als Sam gar nicht mehr aufhören wollte, davon zu erzählen, wie er ihn das eine Mal im Yahtzee geschlagen hatte. Aber dann dachte er wieder an Dads Worte und ließ ihn gewähren.
Dad kämpfte zwar gegen die Bösen und rettete Menschen, aber er liebte seine Söhne.
Weil Dad ein Held war, und das war es, was Helden eben so taten.
2009
Neunzehn
Mya Wu lief im blassen Licht des Halbmonds durch den Golden Gate Park um ihr Leben.
Sie hatte noch nie in ihrem Leben solche Angst gehabt. Die Angst hatte sich in ihre Brust gekrallt und wollte sie nicht loslassen. Selbst in ihren schlimmsten Träumen hätte sie sich nicht ausmalen können, dass so etwas existierte.
Nicht bis zu dem Tag, an dem sie die ersten Schüsse hörte.
Mya war in San Francisco als Kind eines chinesisch-amerikanischen Vaters und einer deutsch-amerikanischen Mutter geboren worden. Sie war in eine öffentliche Grundschule, eine öffentliche High School und dann auf die San Francisco State University gegangen. Dort studierte sie Schauspiel, hatte durchschnittliche Noten und war weder besonders gut noch besonders schlecht.
Die Schauspielerei war schon immer Myas Leidenschaft gewesen. Auch wenn sie keine Hauptrollen bekam, hatte sie am Ende meistens irgendeine Rolle. Wenn das nicht klappte, half sie hinter der Bühne. Es gab ihr das Gefühl dazuzugehören.
Nachdem sie den Abschluss gemacht hatte, blieb sie bei ihren Eltern wohnen. Die ließen sie machen, was sie wollte, solange sie nicht mit dem Gesetz in Konflikt kam.
Diese Warnung erübrigte sich eigentlich, denn Mya hatte nicht einmal in der Schule nachsitzen müssen. Auch ihre Freunde gehörten nicht zu den Menschen, die Ärger mit anderen bekamen, schon gar nicht mit der Polizei. Die einzigen Polizisten, die sie je aus der Nähe gesehen hatte, waren auf der Straße an ihr vorbeigegangen.
Zumindest bis sie den Job bei Shin’s Delight bekam.
Obwohl Mya sehr gern schauspielerte und wirklich Talent hatte, hatte sie niemals den Antrieb gehabt, ihre Karriere ernsthaft zu verfolgen. Sie hatte Fotos eingereicht und an Vorsprechen teilgenommen, die ihr Rollen in verschiedenen Stücken in Theatern im Tenderloin District eingebracht hatten. Nichts davon erweckte allerdings ernsthafte Aufmerksamkeit.
Also nahm sie in alter Tradition der Schauspieler einen Job als Kellnerin an. Als sie mit dieser Arbeit anfing, erinnerte sie sich an einen Witz, den einer ihrer Professoren an der SFU erzählt hatte.
Ein Mann trifft eine Frau in einer Bar.
Der Mann fragt: „Was machst du beruflich?“
Die Frau antwortet: „Ich bin Schauspielerin.“
Darauf der Mann: „Oh, ja. In welchem Restaurant?“
Myas Gesicht verriet nicht nur die chinesische Herkunft ihres Vaters, denn sie hatte auch die blauen Augen ihrer Mutter geerbt. Ihre asiatische Erscheinung machte es schwierig für sie, an gute Rollen zu kommen. Allerdings verbesserte sie ihre Chancen auf einen Job in Chinatown.
Dazu kam, dass Mya neben englisch auch fließend chinesisch und deutsch sprach. Sie war also mehr als qualifiziert, in einem Restaurant zu arbeiten, das sogar in der touristischen Hauptsaison fast nur von Einwohnern aus Chinatown besucht wurde.
Shin’s Delight an der Pacific Avenue war so ein Restaurant. Und außerdem suchten sie Personal.
Zuerst lief alles gut. Mya arbeitete gern mit Leuten und mochte ihre Arbeitskollegen. Ehrlich gesagt kam Mya mit jedem gut aus.
Es gab allerdings eine Ausnahme – den merkwürdigen, älteren Herren, der das Restaurant leitete.
Albert Chao war ein geheimnistuerischer Mann mit einer spitzen Nase, der kaum aus seinem Büro herauskam. Wenn er das tat, dann meistens um jemanden anzuschreien – mit oder ohne Grund. Oder um mit der Polizei zu sprechen, die regelmäßig vorbeikam. Gelegentlich waren die Besucher uniformierte Officers, meistens kletterte allerdings ein Detective die Stufen zum Büro hinauf.
Mya hatte nie verstanden, warum die Polizei immer wieder ins Restaurant kam. Sie hatte Zhong, den Manager, gefragt, aber er hatte ihre Frage einfach abgeschmettert.
„Das ist nichts, was uns etwas angeht“, hatte er gesagt und sich im Raum umgeblickt, bis seine Augen an einem Tisch hängen blieben. „Tisch vier braucht noch Wasser – kümmere dich darum.“ Dann klatschte er in die Hände, um sie loszuschicken.
Sie tat, wie ihr befohlen, ließ sich aber nicht beirren.
Sie fragte vorsichtig herum und passte auf, dass Zhong es nicht mitbekam. Sie hörte allerdings nur Gerüchte und ihr gefiel nicht, was da gemutmaßt wurde.