Deshalb entschied sie sich, der Sache keine weitere Beachtung zu schenken.
Ein nahe gelegenes Geschäft wollte die Weihnachtsferien, die bald begannen, mit einem Mittagessen feiern und lud dazu all seine vierzig Angestellten zu Shin’s Delight ein. Zusätzlich zum Tagesgeschäft hielt das die gesamte Belegschaft auf Trab. Es bedeutete, dass ihr üblicher Vorrat schneller zur Neige ging als sonst. Bald hatten sie nur noch wenige Tischdecken und Servietten, also schickte Zhong Mya in den ersten Stock zum Lagerschrank, in dem einige Sachen für solche Notfälle aufbewahrt wurden.
Der Weg führte sie an Albert Chaos Büro vorbei und sie setzte ihre Füße nur vorsichtig auf, weil sie nicht bemerkt werden wollte. Während sie vorbeischlich, hörte sie einen Knall wie von einer Fehlzündung.
Aber das Geräusch kam aus dem verschlossenen Büro. Sie fragte sich gerade, ob es durch ein offenes Fenster hereingedrungen war. Dann roch sie Rauch.
Gefolgt von Gelächter.
Und dann hörte sie einen weiteren Schuss.
Mya erstarrte und umklammerte einen Stapel Servietten vor ihrer Brust. Jemand schrie.
Der Schrei endete so abrupt, wie er begonnen hatte, und wurde von einem Wimmern abgelöst. Sie war besorgt, dass vielleicht jemand verletzt war und ignorierte ihren Instinkt, der ihr sagte, so schnell zu rennen, wie sie konnte. Sie klopfte an die Tür.
„Hallo? Ist alles in Ordnung? Ich dachte, ich hätte etwas gehört?“
Die einzige Antwort war ein weiterer Knall. Das Wimmern verstummte.
Mya stand wie angewurzelt da. Die jetzt folgende Stille war noch furchterregender als die Geräusche.
Dielen knarrten und die Tür öffnete sich langsam.
Albert Chao hatte einen dicken, weißen Haarschopf, der in der Mitte gerade hochstand und ihm den halben Rücken hinunterhing. Er sah aus wie die asiatische Version eines verrückten Wissenschaftlers. Er sah sie mit seinen grausamen Augen an, die Unheil verkündend über seiner spitzen Nase saßen. Das war nicht besonders bedrohlich, denn so sah er immer aus, wenn sie ihn zu Gesicht bekam.
Nein, was ihr jetzt Angst einjagte, war ein roter Fleck auf seiner Brust. Mya hatte genug merkwürdige Unfälle gesehen, um genau zu wissen, wie ein Blutfleck aussah – und das war einer.
„Was willst du?“, fragte er in besorgniserregend ruhigem Ton.
Myas Herz schlug so schnell, dass sie es fühlen konnte.
„Ich … äh. Ich bin hier hochgekommen, um mehr … mehr Servietten zu holen und … äh … äh … ich habe gehört …“
„Du hast gar nichts gehört!“, sagte Mr. Chao streng. „Du hast auch nichts gesehen. Hast du das verstanden?“
Sie nickte so heftig, dass sie fürchtete, ihr Kopf würde abbrechen.
„Okay! Natürlich! Ich meine …“, stammelte sie. „Brauchen Sie … brauchen Sie Hilfe?“
„Geh jetzt.“
Das Nächste, woran Mya sich erinnerte, war, wie sie mit den Servietten im Arm nach unten lief und sie Zhong hinschleuderte. Sie konnte sich nicht mal erinnern, dass sie die Treppe hinuntergerannt war.
Trotzdem war sie hier.
Zhong starrte sie besorgt an.
„Geht es dir gut?“, fragte er. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!“
„Ich, äh …“ Aber sie konnte nicht die richtigen Worte finden. Zhong wartete darauf, dass sie etwas sagte, bis er schließlich die Geduld verlor.
„Nun, reiß dich zusammen. Wir müssen immerhin das Mittagessen hinter uns bringen.“
Sensibilität war nicht gerade seine Stärke.
Obwohl Zhong so tat, als sei alles wie immer, hing Spannung in der Luft. Mya war nicht die Einzige, die die Schüsse gehört hatte, aber niemand wollte darüber sprechen. Schlimmer noch, Leute, die sie kannte, waren von der Bildfläche verschwunden. Nicht die Kellner, aber Leute aus den Büros im ersten Stock. Sie nahm an, sie hatten wegen des Stresses gekündigt.
Aber Mya hatte diese Möglichkeit nicht – sie brauchte diesen Job.
Die Situation wurde in den darauffolgenden zwei Tagen immer schlimmer, weil mehr Polizisten als sonst vorbeikamen. Und sie fingen an, mit dem Personal zu reden. Schließlich erfuhr sie, dass man am Ghirardelli Square Leichen gefunden hatte. Die Toten konnten gerade so als Angestellte von Shin’s Delight identifiziert worden. Gerade so, weil sie fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt waren.
Als sie vernommen wurde, war Mya versucht, den Polizisten etwas von dem Vorfall mit Mr. Chao zu erzählen. Aber wenn sie das täte, müsste sie auch von den Gerüchten erzählen. Gerüchte, die sie nicht geglaubt hatte – bis zu dem Tag, an dem sie die Servietten geholt hatte.
Dass das Shin’s Delight der Mafia als Tarnung diente.
Mya wusste nicht, wie Mafiamitglieder aussahen. Klar, sie hatte ein paar merkwürdig aussehende Gestalten die Treppe hoch- und runtergehen sehen. Einige kamen durch die Vordertür, andere durch den Hintereingang. Aber die waren auch nicht merkwürdiger als die, die beim Theater in der Technik-Crew arbeiteten, um schwere Sachen zu tragen. Sie hatte nie angenommen, dass die Gangster waren, warum sollte sie das also von den Leuten im Restaurant denken?
Als der Detective von der Bezirkswache – ein etwas untersetzter Mann in einem schlecht sitzenden, dunkelgrauen Anzug – fragte, ob sie etwas Ungewöhnliches beobachtet hätte, sagte sie nur, dass sie überhaupt nichts wüsste.
Das war in gewissem Sinne sogar die Wahrheit, sagte sie sich. Nichts, was sie gesehen hatte, ergab einen Sinn. Wie konnte sie also behaupten, dass sie etwas ‚wüsste‘.
Nachdem sie mit dem Detective gesprochen hatte, wurde alles nur noch schlimmer.
Jeden Tag schien es so, als käme Mr. Chao die Treppe herunter, um sie zu beobachten. Sie hatte zufällig gehört, dass er Zhong fragte, ob sie gut arbeite und ob sie unnötig mit den anderen Angestellten spreche.
Zhong, Gott segne ihn, sang ein Loblied auf sie – zumindest für seine Verhältnisse.
„Hab sie noch nicht beim Klauen erwischt“, hatte er gesagt.
An einem Dezemberabend wollte sie nach der Arbeit in den Golden Gate Park gehen.
Ein aufstrebender Bühnenautor wollte den ersten Akt seines neuen Stückes mit verteilten Rollen lesen lassen, um zu sehen, ob der Dialog natürlich klang. Er hatte ein paar Schauspieler dazugebeten. Wie die meisten jungen Autoren konnte er es sich nicht leisten, einen Raum zu mieten. Sein Apartment war für alle zu klein, also hatte er einige Freiwillige zur Marx Meadow eingeladen.
Die Marx Meadow lag in einer Ecke des Parks, in der viele Picknicktische standen – war also ideal für diesen Zweck. Straßenlaternen leuchteten in den Park hinein und versprachen zusammen mit der bevölkerten Straße relative Sicherheit, auch in der frühen Dunkelheit des Winters. Mya las die Rolle von Gina, der besten Freundin der Heldin. Das war genau die Rolle, die sie immer bekam. Sie fand einen Großteil des Dialogs ziemlich holprig. Der Autor machte sich eine Menge Notizen.
Als sie fertig waren, wollten die anderen noch etwas trinken gehen und luden sie zum Mitkommen ein. Aber Mya musste am nächsten Morgen früh zur Arbeit.
Außerdem mochte sie keinen Alkohol.
Also sagte sie gute Nacht und ging nach Norden. Weil alles gut beleuchtet war, nahm sie eine Abkürzung durch die Bäume zur Bushaltestelle an der nahe gelegenen Fulton Street.
Plötzlich versperrte ihr ein brennender Mann den Weg.
„Oh mein Gott!“, rief sie. „Nicht bewegen … warten Sie, nein! Sie müssen sich auf den Boden werfen und hin- und herrollen. Das wird es löschen. Hinwerfen und rollen!“ Sie griff nach ihrer Handtasche, zog das Handy hervor und begann 9-1-1 zu wählen.
Dann bemerkte sie, dass er nicht schrie.
Oder eigentlich gar nichts tat.
Er stand nur so da.
„Können Sie mich hören?“, fragte sie und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie blickte sich schnell um, aber es war niemand in der Nähe, der helfen konnte. Also richtete sie ihre Aufmerksamkeit zurück auf den brennenden Mann.