Der Dämon stockte.
„Wie auch immer, was getan ist, ist getan, und ihr Großenkel hat dich ganz schön unter dem Pantoffel.“
Nakadai schüttelte angeekelt den Kopf.
„Ich wusste es doch, ich habe gespürt, dass er seine Hand im Spiel hat“, sagte er. „Wieder einmal hat er mich zurückgeholt, damit ich in seinem Namen Übel anrichte.“
„Nein, nicht dieses Mal. Dank dieses Bastards John Winchester warst du für immer auf der Strafbank.“
Nakadai zuckte fast zusammen, weil der Dämon diesen Namen so hasserfüllt aussprach. Er fragte sich, was dieser Mann – dieser John Winchester – gemacht hatte, dass der Dämon ihn derartig hasste.
„Aber als der Neumond kam“, fuhr das Wesen fort, „da hat dein Trottel von Nachfahre sich nicht einmal die Mühe gemacht, dich zu rufen. Die Wahrheit ist, dass das hier das ist, wofür du eigentlich bestimmt warst – die Apokalypse. Du bist unsere Geheimwaffe.
Trotzdem muss Albert dich früher oder später rufen. Dank seiner bekloppten Großmutter hat er dich in den Klauen. Ich kann also bestenfalls die Dinge in seinem Namen erledigen. Aber wenn wir dich hierbehalten wollen, müssen wir ihn am Leben erhalten. Wenn er ins Gras beißt – puff – bist du mit einem Blitz verschwunden.“
Er deutete auf die Leiche zu Nakadais Füßen. „Diese Trulla hat was gesehen, das sie nicht sehen sollte. Kannst du dir vorstellen, dass dieser Idiot sie leben lassen wollte? Volltrottel. Und außerdem hat er größere Probleme.“
Der Dämon starrte Nakadai für einen Moment gedankenverloren an.
„Die Zeit läuft. Die Engel treten uns in den Hintern und wir brauchen dich. Also lass dir eins sagen, Großer – du wirst in kürzester Zeit für die Heimmannschaft antreten.“
Der Blonde warf den Kopf zurück und schwarzer Rauch strömte aus seinem Mund. Als der Rauch im Nachthimmel verschwunden war, fiel der Mann ins Gras.
Tot.
Dann begann Nakadai zu verschwinden, um in der Zwischenwelt zu verweilen, bis ihn wieder jemand rief.
Nur wer?
Zwanzig
Mit zehn Jahren hatte Sam Winchester angefangen, sich wie ein Besessener für Landkarten zu interessieren.
Es begann damit, dass er seinen Vater fortwährend fragte, wohin sie als Nächstes fahren würden. Es war eine vernünftige Frage, weil die Antwort immer eine andere war und weil Sam es damals noch aufregend fand, das Ziel zu kennen.
Trotzdem hatten weder John noch der vierzehnjährige Dean viel Verständnis für Sams Neugier. Damit er den Mund hielt, kaufte sein Dad ihm einen Atlas.
Das erwies sich als vorteilhaft für alle Beteiligten. John und Dean wurden nicht mehr mit Fragen belästigt und Sam hatte endlich ein Hobby.
Wochenlang verbrachte er jede Minute seiner Freizeit damit, die Karten zu studieren. Er sah sich an, wie die Highways und Nebenstraßen sich verknüpften und kreuzten, er verfolgte den Verlauf der Landstraßen und die Art, wie manche Städte versuchten, ihre Straßen in organisierten Mustern anzulegen. Er lernte dabei etwas über die Auswirkungen der Topografie und die Platzierung von Grenzen und Barrieren.
Was sein zehnjähriges Gehirn aber am meisten faszinierte, war das U.S. Interstate Highway System – oder – wie er nach einem Besuch in einer öffentlichen Bücherei in Indiana atemlos berichtete – „das nationale Dwight-D.-Eisenhower-System der Bundes- und Verteidigungsautobahnen“. Er referierte vor seinem nachsichtigen Vater und dem weniger nachsichtigen Dean über den vierunddreißigsten Präsidenten und wie er das Gesetz, den Federal Highway Act von 1956, auf den Weg gebracht hatte. Damit wurde ein Straßensystem geschaffen, das den Handel unterstützte. Gleichzeitig konnten die Straßen als Hauptverkehrsadern dienen, sollte es zu einem Atomkrieg kommen.
Sam gefiel besonders gut, wie die Interstates nummeriert waren. Die zweistelligen, ungeraden Nummern führten von Nord nach Süd, die geraden von Ost nach West. Je höher die Zahl, desto weiter nördlich oder östlich lag die Straße.
Dean weigerte sich, ihm zu glauben. Er behauptete, das sei lächerlich und dass Sam sich das ausgedacht habe, aber der Vater kam seinem jüngeren Sohn zu Hilfe.
„Viele dieser Highways sind gebaut worden, als ich noch klein war“, sagte John Winchester zu Sams großem Entzücken. „Wenn da ein Hügel war, haben sie trotzdem gerade hindurchgebaut und Brücken über die Flüsse gezogen. An anderen Stellen folgten sie den bereits existierenden Straßen.“ Er grinste seine Söhne an. „Natürlich musste man so was in Kansas nicht machen – steht nicht viel im Weg, schon gar keine Hügel.“
Dean kauerte sich nur mit finsterer Miene in seinen Sitz und nannte sie beide Klugscheißer.
Wie viele Kindheitsobsessionen, hatte auch diese schnell ein Ende. Aber Sam hatte seit dem eine besondere Fähigkeit zum Kartenlesen und es dauerte nicht lange, bis er die gesamte Navigation für die Familienjagden der Winchesters übernahm.
Seit es Google Maps und Mapquest gab, brauchten sie den Atlas nicht mehr. Trotzdem vertraute Sam nicht voll und ganz auf die Technik. Zu oft hatte sie die Brüder falsch herum in eine Einbahnstraße geleitet oder über Brücken, die nicht mehr existierten – sollten sie es je getan haben. Also holte Sam vor jeder Reise eine Landkarte, um sich abzusichern.
Ausnahmslos gelang es ihm dabei, eine effizientere Route als die vom Computer vorgeschlagene zu finden.
Dean und Sam kannten die besten Strecken vom Singer Schrottplatz in South Dakota zu fast jedem großen Highway. Die Interstate 80, auf der sie gerade fuhren, erstreckte sich von New York nach San Francisco und war wahrscheinlich der Highway, auf dem der Impala die meiste Zeit verbracht hatte. Er führte in gerader Linie nach Westen von Omaha über Nebraska zur Bay Bridge.
Sobald sie in Bobbys Bücherei alles über Doragon Kokoro nachgelesen hatten, fuhren sie los. Es war Mittag und Sam fuhr den ersten Teil der Strecke, während Dean – der die ganze Nacht gepokert hatte – auf dem Beifahrersitz schlief. Als der Abend dämmerte, übernahm Dean das Steuer.
Das hatte zwei Dinge zur Folge.
Erstens, die Musik aus dem Kassettenrekorder wurde lauter gestellt, angefangen mit …And Justice for All von Metallica.
Zweitens konnte Sam das Tagebuch noch einmal lesen. Bobbys Bücher und Papiere hatten nicht viel zutage gefördert, das Internet auch nicht. Es war allerdings ein Anfang und jetzt wollte er noch einmal sehen, was John geschrieben hatte.
Die Aufzeichnungen ihres Vaters ergaben im Lichte von Bobbys Material einige interessante Ungereimtheiten.
„Hm“, murmelte er.
Dean drehte die Musik leiser, als gerade The Shortest Straw anfing.
„Was?“
Sam blinzelte. Er hatte das nicht laut sagen wollen.
„Ich habe gerade Dads Notizen noch einmal gelesen“, erklärte er. „Er hatte interessante Ansichten über Albert Chao, den Typen, der den Geist die letzten beiden Male heraufbeschworen hat. Dad sah in ihm den typischen Beschwörer-Typus. Du weißt schon, so ein wieseliger kleiner Typ, der in der Welt nichts erreicht hat – oder zumindest nicht das, was er erreichen wollte. Also macht er auf okkult, um seine Unzulänglichkeiten wettzumachen.“
„Der sollte es mal mit ’ner kleinen blauen Pille probieren“, sagte Dean sarkastisch. „Egal, das muss nichts heißen. Von dem bisschen, was ich gelesen habe, glaubte Dad, dass Chao die gleiche Chance hatte, am Leben zu bleiben, wie ein Schneeball in der Hölle, nachdem der Geist gebannt war.“
Sam schüttelte den Kopf.
„Ich weiß nicht, Dean. Alles, was ich gelesen habe, deutet darauf hin, dass Chao derjenige sein muss, der den Geist beschwört. Er ist derjenige, dessen Vorfahr der Ronin ist, und nach den Texten zu urteilen, bleibt der Geist an den gebunden, der ihn heraufbeschworen hat. Er macht ihn unverwundbar.“