Sie waren vielleicht eine Stunde geritten, vielleicht auch etckwas mehr, denn das Verstreichen der Zeit – die zu der ihnen fremd gewordenen menschlichen Welt gehörte – war in diesen Wäldern schwer zu schätzen, als der Reiter an der Spitze der kleinen Kolonne plötzlich sein Pferd zügelte und gleichzeitig die Hand hob. Eine schwerfällige Woge nervöser Bewegung lief durch den Tross, begleitet von klirrendem Metall und dem Knirschen von Leder, vom unruhigen Schnauben und Stampfen der Tiere und unwilligem Gemurmel, ehe auch der letzte Reiter die Bewegung registriert hatte und zum Stehen gekommen war. Auch Gwenderon verhielt sein Tier ganz instinktiv für einen Moment, verwirrt durch den plötzlichen Halt. Dann, erfüllt von ebenso plötzlich aufflammender Besorgnis, sprengte er los, an den Reitern vorbei, sodass seine rechte Körperhälfte und die Flanke des Pferdes unsanft durch das Unterholz rechts des schmalen Weges brachen. Ein Ast traf ihn im Gesicht und riss ihm fast den Helm vom Kopf. Gwenderon schluckte einen Fluch herunter, galoppierte noch schneller – wobei er beinahe einen der Edelleute aus der Gefolgschaft des Prinzen über den Haufen ritt – und brachte sein Tier erst unmittelbar neben dem vordersten Reiter zum Halten.
»Was ist los?«, fragte er unwirsch.
Der Mann deutete stumm nach vorne, und der scharfe Verckweis, der Gwenderon zunächst auf der Zunge gelegen hatte, wurde zu einem erschrockenen, nicht mehr ganz unterdrückten Ausruf.
Vor ihnen, nicht mehr als zehn Pferdelängen entfernt, erhob sich eine übermannshohe, zottig braune Gestalt. Im Halbdunkel des Waldes hätte man sie fast für einen riesigen, ungewöhnlich breitschultrigen Menschen halten können. Aber eben nur fast. Schon der zweite Blick zerstörte die Illusion.
Der Kopf war zu klein und das Gesicht spitz und wie das einer Ratte nach vorne gezogen, bedeckt mit kurzem, drahtigem Fell, dessen Farbe irgendwo zwischen Braun und Grau schwankte. Die Augen waren nicht mehr als kleine glühende Knöpfe unter der flachen Stirn, und die Ohren waren, ähnlich wie bei einer Katze, dreieckig und nach allen Seiten beweglich. Die Hände, die – abgesehen von ihrer Größe und Kraft – denen von Menschen verblüffend ähnelten, endeten in fürchterlichen, hornigen Krallen. Der Körper war mit fingerlangem, zottigem Fell bedeckt, etwas dunkler und dichter als das am Kopf. Das Wesen trug keine Kleidung.
»Ein Raett!«, flüsterte er erschrocken.
Der Mann neben ihm nickte, und Gwenderon sah aus den Augenwinkeln, wie sich seine Hand dem Schwert im Gürtel näherte.
»Nicht«, flüsterte er. »Er … er will nicht kämpfen.« Wenigckstens hoffte er, dass es so war. »Wenn sie uns überfallen wollten, dann hätten sie es längst getan.«
Aber vielleicht war das gerade das, was er denken sollte, flücksterte eine Stimme in ihm. Sein Puls jagte. Er dachte an die Spuren, die sie gefunden hatten, und plötzlich vermisste er Karelian. Jetzt hätte er den Rat des Waldläufers nötiger gehabt als je zuvor.
Ein drittes Pferd gesellte sich zu ihnen, und Gwenderon sah, dass es Norrot war. Sein Schwert stak noch immer in der ledernen Scheide an seinem Sattelgurt, aber in den Fäusten des hücknenhaften Kriegers lag jetzt ein Langbogen, auf dessen halb gespannter Sehne ein Pfeil zitterte.
»Bleib zurück«, sagte Gwenderon halblaut. »Ich rede mit ihm.«
Norrot stieß einen verblüfften Laut aus, aber Gwenderon ließ ihm keine Zeit, irgendeinen der tausend Einwände vorzubringen, die er garantiert auf der Zunge hatte, sondern zwang sein Tier, langsam auf den Raett zuzugehen. Das Pferd scheute; der Rattengestank der Kreatur versetzte es in Angst. Aber Gwenderon zwang es weiterzugehen. Erst einen Schritt vor dem Raett hielt er an und blickte misstrauisch nach rechts und links. Der Wald umgab sie wie zuvor als eine schwarze Mauer aus Schweigen und Dunkelheit, hinter der sich nichts zu rühren schien; so massiv, als hörte die Welt dahinter einfach auf. Aber Gwenderon wusste sehr wohl, dass sich hinter dieser Mauer eine ganze Armee verstecken konnte. Wenn es eine Falle war, lief er sehenden Auges hinein. Wo war Karelian?
»Was willst du?«, fragte er, grob, aber sehr langsam und jeckdes Wort übermäßig betonend, damit der Raett ihn auch verstand. »Gib den Weg frei.«
Der Raett starrte ihn aus seinen knopfgroßen schwarzen Augen an, und Gwenderon sah die Wildheit, die in dem Blick loderte, ein tierisches Erbe, ungleich jünger als das des Menschen und ungleich wilder. Als der Raett sprach, klang seine Stimme geradezu lächerlich: ein hässliches Quietschen, das kaum zu verstehen war und im krassen Gegensatz zu dem mächtigen Körper stand, der die Kraft von fünf Männern haben musste.
»Hunger«, sagte er. »Wir viel Hunger. Ihr Essen.«
»Und?«, erwiderte Gwenderon. Seine Sinne waren bis zum Zerreißen gespannt, aber er hörte nichts, sah nichts. Der Wald war stumm und reglos. »Wir haben nichts«, fauchte er. »Verckschwinde.« Er wollte sein Pferd herumreißen, aber der Raett verstellte ihm den Weg – rasch, aber doch nicht so hastig, dass seine Bewegung einen von Gwenderons Kriegern zu einer Unckbesonnenheit hinreißen konnte.
»Ihr Essen«, beharrte er. »Wir Hunger. Viel tot. Ihr geben. Wir bezahlen. Gold. Wir viel Gold.«
»Wir brauchen euer Gold nicht und unser Essen reicht gerade für uns selbst«, antwortete Gwenderon. Seine Gedanken überschlugen sich. Wenn es eine Falle war, dann war sie längst zugeschnappt. Aber waren Raetts intelligent genug, Fallen zu stellen? Und wenn nicht, wenn dieser eine Raett wirklich nur der Sprecher einer Horde halb verhungerter Nomaden war, dann würden sie sich vielleicht die Nahrungsmittel, die er ihnen verweigerte, mit Gewalt holen.
»Gut«, sagte er nach kurzem Überlegen. »Ihr könnt eines der Packpferde haben. Schlachtet es meinetwegen; das Fleisch wird für ein paar Tage reichen. Mehr haben wir nicht.«
Der Raett stieß ein hohes, hässliches Quieken aus. »Du Mensch«, zischelte er. »Mensch gut.«
Gwenderon zog eine Grimasse. »Spar dir deinen Dank«, sagckte er unwirsch. »Wir entladen das Pferd, und ihr könnt es euch holen, sobald wir weitergeritten sind. Vorher nicht – ist das klar?«
Der Raett nickte. »Wir warten«, sagte er. »Später Essen. Mensch gut.«
Ohne ein weiteres Wort zwang Gwenderon sein Pferd herum, sprengte die wenigen Schritte den Weg zurück und hielt neben Norrot und dem Soldaten an.
»Was ist?«, fragte Norrot erregt. »Was wollte er?«
»Essen«, erwiderte Gwenderon. »Er gehört wohl zu einer ganzen Gruppe, die sich hier in der Gegend herumtreibt. Sie müssen halb verrückt vor Hunger sein. Soweit ich ihn verstanden habe, sind ein paar von ihnen bereits verhungert.« Wenigckstens versuchte er sich dies einzureden. Die Worte des Raett konnten ebenso gut eine andere Bedeutung haben. »Wir geben ihnen ein Pferd«, fügte er hinzu. »Entladet eines der Packtiere und verteilt die Last auf die übrigen. Und beeilt euch.«
»Was soll das heißen, Gwenderon?«
Gwenderon schloss für einen Moment die Augen, zwang sich innerlich zur Ruhe und drehte sich mit einer betont langsamen Bewegung herum, als er die helle, jugendliche Stimme hörte. Prinz Cavin hatte sich keine sonderliche Mühe gegeben, leise zu sprechen. Aber er gab sich sogar ganz besondere Mühe, den zornigen Ton in seinen Worten hörbar werden zu lassen. »Was soll das heißen, Gwenderon?«, fragte er noch einmal. »Habe ich das richtig gehört? Wir geben ihnen ein Pferd …?«
»Sie sind hungrig«, antwortete Gwenderon. »Unsere Vorräte sind begrenzt, aber wir können ein Pferd verschmerzen und …«
»Du gibst diesen Tieren ein Pferd?«, fiel ihm Cavin ungläuckbig ins Wort. »Du schenkst ihnen eines unserer Tiere, damit sie es fressen?« Seine Stimme klang gleichzeitig zornig und angeekelt.
»Wäre es Euch lieber, sie würden uns fressen, mein Prinz?«, fragte Gwenderon spöttisch.