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»Ihr wisst nichts, Cavin«, sagte er. »Ihr habt diesen Ort betreckten und ihn allein dadurch entweiht, und Ihr bildet Euch ein, seine Geheimnisse zu kennen, aber Ihr wisst nichts über ihn.« Er drängte sein Pferd ein wenig dichter an das von Cavin heran und beugte sich im Sattel vor. »Wollt Ihr wissen, warum Ihr diesen Krieg verloren habt, mein König?«, fragte er höhnisch. »Nur weil Ihr hier wart. Dieser Ort wirkt durch die, die ihn beherrschen, aber Ihr habt niemals verstanden wie. Der Schwarzeichenwald war stark, solange seine Herrscher stark waren. Aber dann seid Ihr hierher gekommen, Ihr und Eure lächerlichen Rebellenfreunde, und er wurde so wie Ihr: schwach und voller Angst.«

»Und wie wird er nun werden?«, fragte Cavin. »Böse?«

»Hart«, sagte Lassar. »Stark, Cavin. Ihr habt Recht – all Eure Krieger sind tot und all meine Männer, bis auf die, die Ihr hier seht. Aber der Tod jedes Einzelnen erhöht die Macht dieses Ortes. Es ist ihr Tod, der ihn stark macht, der Tod des Waldes, der seine Mauern fester denn je werden lässt. Keine Macht der Welt kann ihn jetzt noch erstürmen. Und ich werde sein König sein.«

»Worauf wartet Ihr dann noch?«, fragte Cavin leise. »Erckschlagt uns, damit Eure Festung noch ein wenig stärker wird.«

»Ich sagte Euch bereits – ich trachte Euch nicht nach dem Leben«, sagte Lassar.

»Worauf wartet Ihr dann?«

Statt einer Antwort deutete Lassar zum Burgtor.

Es konnte kein Zufall sein. Welche Macht immer das Schicksal lenkte, sie hatte bis zu diesem Moment gewartet, vielleicht auch, damit Cavin die Wahrheit erfuhr, aus Lassars Mund und ohne dass der König der Schatten es überhaupt begriff.

Aber als Cavin die Gestalt sah, die durch das Tor getaumelt kam, begriff er. Vielleicht war er der erste Waldkönig überhaupt, der die Wahrheit erkannte. Vielleicht der erste Mensch. Sicher der letzte.

Gwenderon erschien wie ein schwarzer Schattenriss vor der feuererfüllten Bresche in der Mauer. Er wankte. Sein Haar und sein Gesicht und seine Hände waren verbrannt, seine Augen milchige weiße Kugeln, die nichts mehr sahen, seine Kleider verkohlt. Er lebte nicht mehr, war nur noch ein Stück Fleisch, das sich weiterschleppte, beseelt von einer Kraft, die Cavin nicht einmal zu erahnen imstande war.

Langsam, torkelnd kam er heran, wankte auf Cavin und Lassar zu und blickte sie beide aus seinen blinden Augen an. Sein Mund bewegte sich, versuchte Worte zu formen. Er roch nach verbranntem Fleisch und Tod. Seine rechte Hand, die den knorrigen Stab umklammerte, war nur mehr ein Skelett. Es war nicht mehr zu erkennen, was Holz und was verbranntes Fleisch war.

»Endlich seid Ihr da, Gwenderon«, sagte Lassar leise. Seine Stimme war ganz anders als bisher. Es war nichts mehr von dem boshaft-hämischen Ton darin, den Cavin so an ihm gehasst hatte. Er wirkte nur ernst. Entschlossen. Vielleicht, überlegte er, hatte er die ganze Zeit nur Theater gespielt.

Gwenderon versuchte zu antworten, aber er konnte es nicht. Er war blind, trotzdem wandte er den Kopf in Lassars Richtung. Blut lief über sein zerstörtes Gesicht.

»Quält ihn nicht noch, ich bitte Euch«, sagte Cavin leise. Lassar sah mit einem Ruck auf. Seine Augen flammten.

»Quälen?«, fragte er. »Wie kommt Ihr darauf, mein König? Im Gegenteil – ich bin ihm zu Dank verpflichtet«, fuhr Lassar fort. »Dafür, dass er Faroans Stab für mich geholt hat. Ich selbst hätte das Grab niemals betreten können. Und nun gebt ihn mir.«

Gwenderon begann zu zittern. Sein Mund öffnete sich, aber alles, was über seine Lippen kam, war ein unartikuliertes, schreckliches Stöhnen.

»Gib ihm den Stab, Gwenderon«, sagte Cavin leise. »Es hat keinen Sinn mehr.« Er wartete, bis Gwenderon gehorcht und Lassar den mannslangen Eichenstab ausgehändigt hatte, und lenkte sein Pferd ganz nah an das von Lassar heran. Gwenderon sank wimmernd zu Boden, fiel auf die Seite und starb endgültig. Cavin bemerkte es kaum noch. »Was jetzt geschieht«, sagte er leise, »geht nur noch uns beide an. Nicht wahr, Lassar?«

Lassar nickte, ergriff den Stab an einem Ende und hielt Cavin das andere hin.

Cavin griff danach. Und im gleichen Moment, in dem seine Finger das steingewordene Holz berührten, erlosch die Welt.

28

Der Baum war so alt wie die Welt. Sein Same war aus dem ersten Leben gesprossen, das die Oberfläche dieses Planeten erreicht hatte. Seine Krone berührte den Himmel, und seine Wurzeln reichten bis auf den tiefen Grund der Meere und zum Herzen der Welt. Der Wald war der Baum und der Baum war der Wald. Es gab nur ihn, Teile von ihm, Töchter, Söhne, Brückder, Schwestern – er war das Leben, das einzige und allein beckständige Leben, vielleicht die einzige Macht, die diese Welt je gesehen hatte. Er war kein Gott, denn Götter sind sterblich, während er immer war und immer sein würde.

»Seit wann weißt du es?«, fragte Lassar leise. Er flüsterte; trotzdem schien seine Stimme tausendfach verzerrt von den Rändern des grauen Nichts widerzuhallen, das sie umgab; Echos aus einer Welt, die an diesem Ort keinen Bestand mehr hatte.

Sie waren nicht wirklich hier, begriff Cavin. So wenig, wie er damals mit dem Trugbild seines Vaters wirklich hier gewesen war. Es gab dieses Hier nicht, weil der Baum überall war.

»Ich weiß nichts«, antwortete er nach einer Weile. Stunden? Jahre? Was bedeutete Zeit an einem Ort, der Ewigkeit war?

»Ich weiß überhaupt nichts. Ich ahne nur.« Er sah auf, blickte Lassar an und konnte nichts anderes empfinden als Mitleid.

Er ahnte, ja.

Aber Lassar glaubte zu wissen und ahnte nicht einmal.

»Warum hast du es getan?«, fragte er.

»Warum?« Lassar seufzte. »Ich dachte, du wüsstest es. Macht. Das Einzige, was zählt. Alles, was mich jemals interessiert hat, ist Macht.« Er runzelte die Stirn. »Willst du mich deshalb hassen?«

»Nein«, antwortete Cavin und es war die Wahrheit. Dies war kein Ort, an dem man lügen konnte. »Nicht deshalb. Es ist deickne Natur. Ich kann dich nicht für das hassen, was du bist, Lassar. Aber warum mussten so viele Unschuldige sterben? Es war von Anfang an eine Sache zwischen uns. Zwischen dir und mir.«

»Du hättest mir den Weg hierher niemals freiwillig gezeigt«, behauptete Lassar. »Du bist der Waldkönig. Es ist seit Urzeiten die Aufgabe deiner Familie, ihn, den Baum der Bäume, zu schützen. Du hättest ihn mir niemals freiwillig gezeigt.«

»Und du glaubst wirklich, es stünde in meiner Macht, ihn zu schützen? Du glaubst, es gäbe eine Gefahr für ihn?« Cavin schüttelte den Kopf und deutete auf den Baum. Eine Wurzel, groß wie ein Berg und vor einer Million Jahren zu Stein geworden, hatte den Boden vor ihnen bersten lassen. Aus dem Riss stieg grauer Nebel. Für einen Moment glaubte er ein Gesicht darin zu erkennen.

»Du bist so dumm, Lassar«, sagte er. »Du willst ihn? Nimm ihn, wenn du es kannst!«

Lassar starrte ihn an. Misstrauen flackerte in seinem Blick, aber nur für einen Moment. »Du kennst die Prophezeiungen«, sagte er und hob Faroans Stab. »Wer diesen Stab besitzt und Macht über den Waldkönig hat, hat auch Macht über ihn

»Und was versprichst du dir davon?«, fragte Cavin leise.

»Was ich mir davon verspreche?« Lassar ächzte. »Macht, du Narr. Unsterblichkeit und Macht über die Welt und die Menschen. Ich werde ewig leben. Ich werde alles Wissen und alle Erfahrungen jedes Menschen haben, der jemals auf dieser Welt gelebt hat. Du und die anderen, ihr habt eure Chance gehabt und verspielt. Ich werde sie nutzen. Ich werde ein Gott sein!«

»Wenn es das ist, was du willst«, sagte Cavin ruhig, »dann geh.«

Noch einmal zögerte Lassar. Dann wandte er sich um und ging mit schnellen Schritten auf den Baum zu. Cavin sah ihm nach, bis seine Gestalt im treibenden Nebel der Lichtung kleickner und kleiner geworden und schließlich ganz verschwunden war. Dann drehte er sich herum, ging ein paar Schritte, setzte sich auf eine Wurzel und wartete.