Er blieb stehen, drehte sich einmal im Kreis und ließ den Blick seiner schwarzen Augen misstrauisch die Halle entlangcktasten.
Er war allein. Nirgends rührte sich etwas und nicht einmal der kleinste Laut war zu hören. Für einen kleinen Moment glaubte Lassar zu ahnen, was es war, das andere verspürten, wenn sie in seiner Nähe waren, diese Furcht, das kaum in Worte zu fassende Gefühl der Beklemmung, das die Nähe seiner finsteren Kräfte in den Seelen der anderen weckte. Der Atem der Magie.
Vielleicht war es das, dachte er. Hochwalden war ein Ort großer Zauberkraft, auch wenn sein eigener Besitzer dies nicht einmal gewusst hatte; vielleicht nicht einmal Faroan selbst, der doch der Hüter dieser Kraft war. Lassar wusste nur einen einzigen Ort auf der Welt, an dem diese Magie noch stärker zu spüren war, und den hatte selbst er noch nicht zu betreten gewagt. Ja, dachte er, vielleicht war es nur der Hauch der Jahrtaucksende, den er spürte, der Atem der Zeit, der diese Mauern erfüllte, das Pulsieren unbekannter, selbst für ihn geheimnisvoller Kräfte.
War es Angst?, dachte Lassar. War das, was er jetzt fühlte, Angst? Eine Warnung, die ihm irgendetwas in ihm zuschrie, nicht zu weit zu gehen, sich nicht an Mächten zu versuchen, denen nicht einmal er gewachsen war?
Er versuchte den Gedanken zu verscheuchen. Aber ganz gelang es ihm nicht.
20
Gwenderon hatte geschlafen, aber es war ein sehr leichter Schlummer gewesen; etwas in ihm war hellwach geblieben, trotz Mannons Versprechen, Wache zu halten, und so schrak er hoch, noch ehe Cavin die Hand ausstrecken und ihn an der Schulter berühren konnte.
Das Gesicht des jungen Prinzen war bleich. Der Widerschein des Feuers ließ zuckende rote Schatten über seine Züge huckschen und unter den Augen lagen dunkle Ringe. Wenn er geschlafen hatte, dachte Gwenderon, dann war es kein erquickender Schlaf gewesen. Er widerstand im letzten Moment der Vercksuchung, sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Ohne dass Cavin bisher auch nur einen Laut von sich gegeben hatte, spürte er den Ernst, der den jungen Prinzen erfüllte. Dies war nicht der Moment für Floskeln.
Er setzte sich auf, streifte die Decke ab und schauderte, als er die Kälte spürte, die sich in seinen Gliedern festgekrallt hatte. Rasch hob er die Hand, legte den Zeigefinger über die Lippen und stand vollends auf. Cavin nickte und trat einen Schritt zurück, deutete auf ein anderes, näher beim Waldrand gelegenes Feuer, neben dem niemand schlief. Auch er hatte Mannons Worte nicht vergessen – der Tag, der vor ihnen lag, würde sehr anstrengend werden. Es nutzte niemandem, wenn sie die anderen weckten.
Schweigend ging Gwenderon zum Feuer hinüber, ließ sich davor in die Hocke sinken und hielt die Hände über die fast heruntergebrannten Flammen. Obgleich er die Hitze spürte, wärmte die Glut nicht richtig. Es war, als wäre die Kälte, die sich in seinem Körper eingenistet hatte, von einer gänzlich neuen, körperlosen Art.
Aber vielleicht wurde er auch nur alt.
»Mein Prinz?«, sagte er ohne zu Cavin aufzublicken.
»Lass den Unsinn, Gwenderon«, antwortete Cavin halblaut. Gwenderon suchte vergeblich nach einer Spur von Ärger oder Hochmut in seiner Stimme. »Wir sind allein. Ich muss mit dir sprechen.«
Gwenderon sah zu ihm auf. »Worüber?«
»Über … über alles«, murmelte Cavin ausweichend. Wie Gwenderon ließ er sich in die Hocke sinken und rieb fröstelnd die Hände über den Flammen.
»Es tut mir Leid, wenn ich dir den Nachtschlaf stehle«, begann er, »aber –«
»Das macht nichts«, unterbrach ihn Gwenderon. »Ich hätte sowieso keine Ruhe gefunden.« Er unterdrückte ein Gähnen, ließ sich zurücksinken und zog fröstelnd die Schultern zusammen. »Es ist kalt.«
Cavin blickte ihn an, und obwohl Gwenderon sein Gesicht hinter dem Vorhang von Schatten und rotem Glutlicht kaum erkennen konnte, sah er doch den Vorwurf in seinen Augen. »Warum machst du es mir so schwer, Gwenderon?«
»Schwer? Was?«
»Mich zu entschuldigen, du sturer alter Mann«, fuhr Cavin auf, beruhigte sich aber sofort wieder. »Es tut mir Leid.«
»Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen«, antwortete Gwenderon, obgleich er genau wusste, dass er Cavins Schmerz damit nur noch schürte. Aber, zum Teufel – Cavin hatte Recht. Er war ein sturer alter Mann und er hatte es nicht nötig, sich von einem Kind demütigen zu lassen. Er war sogar alt genug das Recht zu haben, nachtragend zu sein.
»Fünf Männer sind tot«, murmelte Cavin plötzlich. »Und es ist meine Schuld. Warum sprichst du es nicht wenigstens aus?«
Gwenderon schwieg eine Weile. »Weil es nicht stimmt«, sagckte er schließlich. »Euch trifft keine Schuld, mein Prinz. Wenn überhaupt«, fügte er nach einer neuerlichen Pause hinzu, »dann bin ich es, der die Schuld an ihrem Tode trägt.«
»Ich hätte den Raett nicht davonjagen dürfen«, sagte Cavin, als hätte er seine Worte gar nicht gehört. »Er wollte uns warnen. Und ich Narr habe mein Schwert genommen und bin auf ihn losgegangen. Genauso gut hätte ich die fünf Männer mit eigener Hand erschlagen können.«
Gwenderon schwieg. Cavin redete Unsinn – niemand, auch er selbst nicht, hatte geahnt, was geschehen würde. Und er wusste, dass der Prinz diese Worte nur sprach, weil er aus Gwenderons Mund hören wollte, dass es nicht wahr war. Er hatte einen Fehler gemacht, einen entsetzlichen Fehler, der fünf tapfere Männer das Leben gekostet hatte, aber es war nicht seine Schuld. Niemand konnte mit dem Unmöglichen rechnen.
Aber Gwenderon sagte die Worte nicht, auf die der Prinz wartete. Er wusste selbst nicht, warum er es nicht tat – es wäre so einfach gewesen. Ein Lächeln, ein paar Worte, vielleicht nur ein Kopfschütteln, um den entsetzlichen Schmerz zu lindern, der in Cavins Seele brannte. Aber er tat es nicht.
»Was geschieht hier, Gwenderon?«, fuhr Cavin nach einer Weile fort. »Was geschieht mit diesem Wald?« Etwas in seiner Stimme war anders. Gwenderon konnte nicht sagen was, aber irgendetwas schien darin erloschen zu sein. Er hob die Schultern.
»Ich weiß es nicht, mein Prinz«, sagte er leise. »Aber ich spüre es auch.« Er musste an Guarrs Worte denken, und an die des Zwerges: Der Wald hat Angst. Böse Zeit. Er fror.
»Ich glaube, du verschweigst mir etwas, Gwenderon«, sagte Cavin plötzlich. »Du hast mir nie gesagt, warum mein Vater wirklich darauf bestand, dass wir diesen Weg nehmen.«
»Das habe ich«, widersprach Gwenderon, aber Cavin ließ seinen Einwurf nicht gelten, sondern machte eine wütende Handbewegung, als wolle er die Worte beiseite fegen.
»Das hast du nicht!«, behauptete er. »Nicht wirklich. Verdammt, Gwenderon – was geschieht auf Hochwalden? Wovor hat mein Vater Angst? Vor Lassar?«
Diesmal war Gwenderon wirklich überrascht. »Ihr habt davon gehört?«
Cavin lachte humorlos. »Wer hätte das nicht? Verdammt, Gwenderon, glaubst du, ich hätte all diese Jahre nur damit verckbracht, höfische Etikette zu lernen und Zahlen auf Papier zu kritzeln? Lassar erobert seit einem Jahrzehnt ein Land nach dem anderen. Warum sollte er den Schwarzeichenwald verckschonen? Sag mir jetzt die Wahrheit, Gwenderon – ist es Lassar, vor dem mein Vater Angst hat?«
»Nein«, antwortete Gwenderon nach einer Weile. »Euer Vackter nicht, Cavin. Aber ich.« Er rückte ein wenig näher an das Feuer heran, streckte wieder die Hände aus und rieb sie über der Glut. »Ich … weiß nicht, was hier geschieht«, fuhr er fort. »Alles ist anders geworden, mit einem Male.« Er blickte auf, sah in die Richtung, in der die Raetts wie große braune Bündel aus Fell neben ihrem Feuer lagen, und bemerkte mit einem Kopfschütteln: »Ich weiß nicht einmal, ob sie wirklich auf unserer Seite stehen oder nicht.«
»Seit wann stehen Raetts auf irgendjemandes Seite?«, fragte Cavin.
Gwenderon seufzte. »Ihr haltet sie für Tiere.«
»Sind sie das denn nicht?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Gwenderon. »Bis gestern dachte ich es, aber …« Wieder schüttelte er den Kopf, blickte einen Moment in die Flammen und wurde sehr leise: »Alles ändert sich, mein Prinz. Und es ist keine Veränderung zum Guten. Fragt Karelian. Er gibt es nicht zu, aber er ist so verstört wie Ihr und ich. Und dieser Zwerg, den er mitgebracht hat … was wisst Ihr über das Kleine Volk?«