»Nicht mehr als du«, antwortete Cavin. »Wahrscheinlich weckniger. Sie leben in den Bergen und sie verachten die Menschen.«
»Sie töten jeden, der ihr unterirdisches Reich betritt«, sagte Gwenderon ruhig. »Es ist ein offenes Geheimnis, mein Prinz. Keiner, der ihr Dunkles Reich erkunden wollte, ist jemals zurückgekehrt. Selbst Lassars Schattenkreaturen fürchten sie. Und jetzt kommt einer von ihnen hierher und bietet uns an, uns über die geheimen Pfade des Zwergenvolkes nach Hochwalden zu führen.«
»Du fürchtest eine Falle?«
Gwenderon war so verblüfft, dass er im ersten Moment gar nicht antwortete. Nur noch mit Mühe unterdrückte er ein Lachen. Cavin war ein Kind.
»Nein«, sagte er schließlich. »Sie sind nicht unsere Freunde, aber das bedeutet nicht, dass sie unsere Feinde wären, mein Prinz. Mannon ist hier, um Euch zu beschützen.«
»Mich?« Cavin schien ehrlich verblüfft.
»Den zukünftigen König von Hochwalden«, bestätigte Gwenderon. »Nicht Cavin, Oros Sohn. Nur den Beschützer des Schwarzeichenwaldes. Um Euch zu retten, würde er keinen Finger rühren.«
»Hochwalden und das Zwergenvolk –«, begann Cavin. Aber er sprach nicht weiter, denn so wie Gwenderon spürte er plötzcklich, dass sie nicht mehr allein waren. Mit einem Ruck sah er auf. Ein rascher Schatten von Ärger huschte über seine Züge, als er die hünenhafte Gestalt gewahrte, die einen halben Schritt jenseits des Lichtes stehen geblieben war.
»Wie lange belauschst du uns schon?«
»Nicht lange, Prinz«, erwiderte Animah. Sie kam näher, sah einen Augenblick lang auf Cavin und Gwenderon herab und stützte sich auf ihren mannslangen Bogen. Gwenderon sah, dass sie einen einzelnen Pfeil aus dem Köcher gezogen und so in die Hand genommen hatte, dass sie ihn in einer einzigen Bewegung auf die Sehne legen und gleichzeitig den Bogen spannen konnte.
»Was willst du?«, fragte Cavin, noch immer im gleichen, gereizten Ton.
»Ich hörte Stimmen«, antwortete Animah. »Die Nacht ist kalt und lang. Ich wollte euch nicht belauschen. Aber du hast Recht, Gwenderon«, fügte sie hinzu, als merke sie nicht einckmal, dass sie ihre eigenen Worte damit Lügen strafte. »Etwas geschieht, was auch Karelian und Mannon in Sorge versetzt. Nichts ist mehr, wie es war. Es ist ein großer Vertrauensbeweis von Mannon, uns über die Dunklen Pfade zu führen.«
»Und warum tut er es?«, fragte Cavin, nun mehr verunsichert als wirklich zornig.
»Aus dem Grund, den Euch Euer Waffenmeister nannte, Cavin«, antwortete die Waldläuferin. »Es geht nicht um Euch. Es geht um Hochwalden, um diesen Wald …« Sie zögerte einen winzigen Moment. »Vielleicht um das Schicksal der Welt.«
»Jetzt übertreibst du«, sagte Cavin unsicher. »Möglicherweickse plant Lassar wirklich einen Angriff auf Hochwalden, vielleicht auch einen Hinterhalt gegen uns. Aber die Welt wird nicht aufhören sich zu drehen, wenn uns etwas geschieht, oder meinem Vater.«
Animah lachte, sehr, sehr leise und ohne die geringste Spur von echtem Humor. »Seid Ihr Euch dessen ganz sicher, mein Prinz?«, fragte sie.
Cavin antwortete nicht mehr. Aber das Schweigen, in das sie verfielen, wirkte plötzlich bedrückend. Lautlos kroch die Dunkelheit näher an das Feuer.
21
Der Schatten beobachtete weiter. Er war dem halben Dutzend Feuer und den darum schlafenden Gestalten so nahe gekommen, dass er sie hätte berühren können, hätte er einen Arm ausgestreckt und hätte er Hände gehabt, etwas damit anfassen zu können. Aber niemand bemerkte ihn. Selbst wenn jemand aufgewacht wäre, er hätte nichts gesehen. Allenfalls dass ihm aufgefallen wäre, wie kalt es plötzlich wurde, wie sich in das monotone Winseln des Windes ein neuer, beinahe ängstlicher Unterton schlich, wie sich die Wirklichkeit ein ganz kleines Stüchen mehr in die Richtung verschob, in der der Wahnsinn lauerte; und die bösen Träume. Dann verschwand der Schatten wieder, so spurlos, wie ihn die Welt der Alpträume ausgespien hatte.
22
Es war nicht die Wirklichkeit, dachte er entsetzt, sondern ein Alptraum, der sich irgendwie in den Tag geschlichen hatte und behauptete, wirklich zu sein. Da waren die Angst und die Schatten, die wie lautlose Wesen aus finsteren Winkeln der Realität gekrochen waren, und die Kälte, die dem grellen Glanz der Sonne Hohn sprach – und immer wieder die Angst.
Gwenderon blickte schaudernd auf die chaotische Ansammcklung formloser schwarzer Basaltbrocken herab, die sich zwickschen den Sträuchern und Bäumen erhoben wie Klippen aus einem bizarren, erstarrten Meer. Sie waren sehr früh aufgebrochen und auf dem Weg, den Mannon ihnen gewiesen hatte, zwar ein gutes Stück vorangekommen, aber doch viel langsackmer als am Abend zuvor, als die Raetts bei ihnen gewesen und ihnen mit ihren gewaltigen Körperkräften Bahn gebrochen hatten. Es war nun Tag, und vor ihnen, zwischen den schwarz aufragenden Rieseneichen und dem dornigen Gebüsch, herrschte noch immer Dunkelheit. Vielleicht würde sie niemals ganz weichen.
Es war eine sehr eigenartige Dunkelheit, sie schien wie ein finsterer Vorhang Dinge zu verbergen, an die er lieber nicht denken mochte. Und er nahm eine ebenso seltsame, irgendwie körperlose Kälte wahr, die ihm und den anderen entgegenschlug. Beides war auf Angst einflößende Weise nicht normal. Wenn dies ein Teil der Welt war, in der das Kleine Volk lebte, dann verstand er, warum sie als so fremd und feindselig galt.
Dann drehte er sich im Sattel herum und sah in Mannons Gesicht, und er erkannte die Furcht darin und den Zweifel und wusste, dass, was immer hinter dieser gestaltgewordenen Schwärze dort vor ihnen lauerte, dem Zwerg so fremd und unheimlich war wie ihm. Vielleicht noch mehr, denn er mochte die Gefahr kennen, die hinter den Schatten wartete.
»Bist du sicher, dass dies der richtige Weg ist?«, fragte er.
Mannon nickte. Die Bewegung war abgehackt. »Ja«, sagte er. »Der Einzige. Wir sollten uns beeilen.« Seine Stimme drang nur verzerrt an Gwenderons Ohr. Selbst die Geräusche waren hier anders. Aber trotzdem konnte Gwenderon den Unterton von nur noch mühsam unterdrückter Angst darin deutlich hören. Und irgendwie war er froh, mit seiner Furcht nicht allein zu sein.
Sie ritten weiter. Ihre Tiere begannen zu scheuen, als sie sich den Ruinen näherten, aber diesmal waren es nicht Hitze und Erschöpfung, die sie gegen die Befehle ihrer Reiter aufbegehren ließen. Die Tiere spürten das Fremde, Böse, das von den zyklopischen Ruinen ausging, so deutlich wie ihre Herren. Vielleicht deutlicher.
Sie näherten sich dem verfallenen Gemäuer bis auf zehn Schritte, dann gebot Mannon ihm mit einer knappen Geste, abzusitzen und das Pferd am Zügel weiterzuführen. Gwenderon gab den Befehl weiter. Sein Gesicht prickelte, als näherten sie sich einer unsichtbaren Grenze, hinter der Kälte lauerte.
Für einen Moment überkamen ihn noch einmal Zweifel, während sie absaßen und auf das würfelförmige Gebäude zugingen, in dem er den Eingang zu dem Was-auch-immer vermutete, durch das sie der Zwerg führen wollte. Die Angst wurde stärker und er spürte ohne sich zu ihnen umblicken zu müssen, dass es den anderen ebenso erging, auch Karelian und Animah. Irgendetwas sagte ihm, dass es wichtig war, dem Zwerg zu folgen, dass dieser eine Tag, den sie einsparen würden, von entscheidender Bedeutung sein mochte.
Aber war es wirklich richtig?
Möglicherweise, dachte er bedrückt, tauschten sie ein Übel gegen ein anderes und größeres ein. Möglicherweise entfesselten sie einen Waldbrand, um einen brennenden Busch zu löckschen. Plötzlich – so absurd der Gedanke war – wünschte er sich Guarr und seine Raetts zurück. Sosehr ihn diese riesigen wilden Kreaturen erschreckt hatten, so sicher hatte er sich in ihrer Nähe gefühlt.