Cavin blieb plötzlich stehen. Seine Hand fiel klatschend auf das Schwert an seiner Seite, während sein Kopf hochruckte und sein Blick misstrauisch durch das Unterholz tastete. »Was ist?«, fragte Mannon ungehalten. »Warum haltet Ihr? Wir müssen weiter.« In seiner Stimme war ein drängender, fast furchtcksamer Unterton, der Gwenderon nicht gefiel.
Cavin antwortete nicht gleich, sondern drehte sich einmal um seine Achse, während sein Blick weiterhin misstrauisch die Schatten zwischen den Bäumen absuchte. Gwenderon fiel auf, dass er ganz bewusst nicht auf die schwarzen Ruinen blickte. Dann nahm er mit sichtlicher Überwindung die Hand von der Waffe und zuckte mit den Achseln. »Ich … weiß nicht«, gestand er zögernd.
»Irgendetwas ist …« Er brach ab, suchte einen Moment nach Worten und hob schließlich abermals die Schultern. »Vielleicht habe ich mich getäuscht«, murmelte er. »Ich hatte das Gefühl, jemand beobachtet uns.«
Gwenderon sah den Prinzen verwirrt an. Cavin war mit seicknen Gefühlen ganz und gar nicht allein. Auch er hatte schon seit geraumer Zeit das Empfinden gehabt, von unsichtbaren Augen angestarrt zu werden, es aber auf seine eigene Nervosicktät und Furcht geschoben, auf den Atem dieser fremden, ganz und gar feindseligen Welt, die im Herzen des Schwarzeichenckwaldes existierte, ohne dass er bisher auch nur eine Ahnung davon gehabt hatte. Andererseits …
»Lassar?«, fragte er, an Mannon gewandt.
»Du meinst, er hat uns verfolgen lassen?« Mannon zuckte mit den Achseln, so heftig, dass ihm um ein Haar die Axt von der Schulter geglitten wäre.
»Zuzutrauen wäre es ihm. Vielleicht, dass er einige seiner Kreaturen auf unsere Spur gesetzt hat.« Er lachte nervös. »Habt keine Sorge, Gwenderon. Dorthin, wohin wir gehen, können nicht einmal sie uns folgen.« Aber seinen Worten fehlte die rechte Überzeugung.
»Wir sollten trotzdem vorsichtig sein«, sagte Gwenderon. »Vielleicht wäre es besser, wenn einer von uns als Wache hier zurückbliebe.«
Mannon schüttelte den Kopf. »Nein. Ein Mann allein wäre in diesen Wäldern verloren. Und wenn es wirklich Lassar ist, würdest du deinen Mann opfern, Gwenderon. Er könnte uns nicht schützen. Und nun kommt.«
Es gelang Gwenderon nicht vollends, ein sichtbares Schauckdern zu unterdrücken, als sie weitergingen, aber Mannon tat so, als hätte er es nicht bemerkt. Gwenderons Verhalten hatte nichts mit Feigheit zu tun. Kein denkendes Wesen, das der Angst fähig war, hätte nicht versucht eine Ausrede zu finden, nicht weiter zu gehen.
Sie überschritten die unsichtbare Grenze, hinter der Kälte und Furcht wie gläserne Raubtiere lauerten, und näherten sich der eigentlichen Ruine. Gwenderon erkannte jetzt, dass das Gebäude ehemals sehr viel größer gewesen sein musste, vielleicht war es eine kleine Festung gewesen, die hier gestanden hatte, lange bevor der erste Mensch seinen Fuß in diese Wälder setzte; vielleicht ehe es überhaupt Menschen gab. Der würfelförmige Bau, auf den Mannon zielstrebig zusteuerte, war der Rest eines ehedem gewaltigen Turmes, erbaut aus schwarzem Granit und Basalt, zernagt von Jahrtausenden, aber selbst jetzt noch gigantisch. Und er glaubte das Alter, das dieser schwarze Stein verströmte, geradezu anfassen zu können.
Der Eingang war zum Großteil mit Flugsand verschüttet, sockdass sie weitere, kostbare Minuten damit verschwenden mussten, sich mit den Händen einen Durchgang zu schaufeln, durch den sie ins Innere des Gebäudes gelangen und dabei noch die Pferde mitnehmen konnten. Die Echos ihrer Schritte wurden hohl.
Der Tag blieb hinter ihnen zurück, aber es wurde nicht dunkel. Die Wände selbst strahlten ein unangenehmes, irgendwie krank wirkendes Licht aus, einen grauen Schimmer, der an Schimmel und Verfall erinnerte und auch danach roch, und die Kälte sprang sie an wie ein unsichtbares Raubtier mit gläsernen Krallen. Gwenderon sah Mannons Gestalt wie einen kleinen verschwommenen Schatten vor sich, dessen Bewegungen in der unheimlichen Beleuchtung grotesk hüpften, und er fragte sich, ob auch er zu einem Gespenst wurde für die anderen. Schaudernd drehte er sich im Gehen um und blickte zu Cavin zurück. Der Prinz ging nur wenige Schritte hinter ihm, wie alle anderen ein wenig gebückt und sein Pferd am Zügel mit sich führend. Seine Augen waren weit vor Angst. Und es war … ja, dachte Gwenderon verwirrt, der Ausdruck in seinen Augen war Erkennen!
Cavin schien etwas sagen zu wollen, aber Gwenderon wandte rasch den Blick und ging ein wenig schneller, um zu Mannon aufzuschließen, der trotz seiner kurzen Beine und seiner grocktesken Art, sich fortzubewegen, bereits einen gehörigen Vorcksprung gewonnen hatte.
Der Weg führte sanft, aber beständig in die Tiefe. Mehr als einmal rückten die Wände so dicht zusammen, dass Gwenderon vor seinem Pferd gehen und das Tier mit Gewalt hinter sich herziehen musste, und mehr als einmal musste einer der Männer seine Peitsche zu Hilfe nehmen, sein bockendes Tier überhaupt noch von der Stelle zu bringen. Gwenderon wusste hinterher nicht mehr zu sagen, wie viel Zeit vergangen war, seit sie Mannon in diesen schwarzen Schlund der Erde gefolgt waren. Er hatte versucht seine Schritte zu zählen, war aber rasch durcheinander geraten und hatte es aufgegeben. Vermutlich waren es nur wenige Minuten. Aber es kam ihm vor, als wären es Stunden. Irgendwann, nach einer Ewigkeit, traten die Wände des Tunnels auseinander und der Boden war plötzlich eben. Mannon blieb stehen, machte eine auffordernde Handbewegung und trat zur Seite, um Gwenderon und den anderen Platz zu machen.
Gwenderon wusste nicht, was er erwartet hatte – auf jeden Fall nicht das. Vor und unter ihnen breitete sich eine giganticksche, mit Trümmern übersäte Halle aus, eine zyklopische Höhle, groß genug, ganz Hochwalden hineinzusetzen, ohne dass seine Türme auch nur die Decke berührt hätten. Ein Hauch stickiger Wärme lag in der Luft, unbeschadet der Kälte, die Gwenderon noch immer zittern machte und seinen Atem zu einer Folge grauer Dampfwölkchen vor seinem Gesicht kondensieren ließ. Irgendwo, sehr weit entfernt, erscholl ein dumpfes Tosen und Rauschen wie von einem unterirdischen Wasserfall.
»Was ist das?«, fragte er. Die ungeheuerliche Weite der Höhle fing seine Worte auf, verschluckte sie und warf sie Sekunden später zurück, als unverständlich verzerrtes Echo, das seine Angst noch schürte. Mannon antwortete nicht, sondern blickte nur ungeduldig an Gwenderon vorbei auf den Gang, aus dem die Männer einer nach dem anderen hervorkamen. Es war keickner unter ihnen, dessen Gesicht nicht vor Angst erstarrt gewecksen wäre. Sie waren in eine Welt eingedrungen, in der sie nicht sein durften, in der nichts Lebendes etwas verloren hatte. Auch der Zwerg nicht. »Wie geht es weiter?«, fragte Gwenderon, als ihm klar wurde, dass Mannon auf seine erste Frage nicht antckworten würde.
Mannon blickte ihn an, schien etwas sagen zu wollen, deutete aber dann nur in einer fahrigen Geste auf zwei nicht sehr weit entfernte, übermannshohe, schwarze Basaltbrocken, die gegenckeinander gestürzt waren und so ein umgedrehtes »V« bildeten. Staub und Unrat waren im Laufe der Jahrhunderte selbst bis hier hinuntergekrochen und knirschten leise unter ihren Stiefeln, als sie sich dem steinernen Tor näherten. In Gwenderons Ohren klang das Geräusch wie ein leises, böses Lachen; vielleicht auch wie das Huschen und Knistern winziger horniger Krallen, die irgendwo hinter ihnen in der Dunkelheit gewetzt wurden.
Und immer noch hatte er das sichere Gefühl, beobachtet zu werden.
Es war nicht nur Einbildung, dachte er nervös. Die Dunkelckheit starrte ihn an. Irgendwo waren Augen, verborgen hinter dem Schleier widerlich grauen Lichtes, das nur den Eindruck von Helligkeit vermittelte, in Wahrheit den Blick aber eher narrte. Sie waren nicht allein. Aber er war auch nicht mehr sicher, dass es wirklich Lassars Augen waren, die sie beobachteten.
Der Zwerg hatte das steinerne »V« erreicht und blieb stehen. Fast behutsam begann er mit der behandschuhten Rechten den Staub fortzuwischen, bis der schwarze Basaltboden wieder bloß und glänzend dalag.