»Gebt mir ein Schwert!«, verlangte Cavin noch einmal. »Ich will wenigstens noch eines von den Biestern mitnehmen!«
»Verdammt, haltet endlich den Mund!«, schnappte Karelian. »Die hätten uns längst töten können, wenn sie gewollt hätten, begreift Ihr das nicht? Sie wollen Euch lebend!«
Cavin starrte ihn einen Augenblick lang aus schreckgeweiteckten Augen an. Seine Lippen begannen zu beben. Langsam, als koste ihn die Bewegung unendlich viel Überwindung, wandte er den Blick und starrte den Halbkreis mannshoher Rattengestalten an, der sie umgab.
Es war alles zu schnell gegangen, dachte Gwenderon. Sie hatten gar keine Zeit gehabt, wirklich zu begreifen, was geschah. Sie waren in eine Falle geritten, wie sie perfekter nicht sein konnte. Es war, als hätten die Angreifer gewusst, wo sie das Reich der Zwerge verlassen würden.
Eine unruhige Bewegung lief durch die Reihen der Rattenkrieger, dann teilte sich der Halbkreis aus Leibern und ein becksonders großes, narbenübersätes Exemplar trat hervor. Sein Fell war tiefschwarz und es hatte nur ein Auge.
Gwenderon packte sein Schwert fester, obwohl er wusste, wie sinnlos es wäre, kämpfen zu wollen. Er hatte kaum noch die Kraft, sein Schwert zu halten.
»Was willst du?«, fragte er.
Der Raett blieb stehen, starrte ihn einen Moment aus seinem einzigen, funkelnden Auge an und hob dann langsam die Hand. Seine Klaue deutete fordernd auf Cavin.
Gwenderons Gedanken überschlugen sich. Der Raett schwieg, aber die Bedeutung seiner Geste war klar.
»Einen Dolch!«, flüsterte Cavin. »Ich flehe dich an, Gwenderon, gib mir eine Waffe. Lieber bringe ich mich um als mich dieser Bestie auszuliefern!«
Der Raett wandte mit einem Ruck den Kopf und starrte Cavin an. Er schwieg noch immer, aber Gwenderon war sicher, dass er jedes einzelne Wort verstand. Noch einmal hob er die Hand und deutete auf Cavin. Und diesmal war die Geste ungleich befehlender und herrischer als zuvor.
»Ihr wollt den Prinzen«, sagte Gwenderon leise. Er spürte, wie ihn die beiden Krieger, die Cavin und ihn flankierten, nerckvös ansahen. Aber er widerstand der Versuchung, ihren Blick zu erwidern, um ihnen Mut zu machen. Stattdessen sah er ungerührt den riesigen schwarzen Raett an. Langsam hob er den Schild höher und drängte sein Pferd ein Stück zur Seite, sodass er genau zwischen dem Prinzen und der gigantischen Rattenkreatur stand.
»Holt ihn euch, wenn ihr könnt!«, sagte er.
Der Raett stieß einen Laut aus, der fast wie ein Lachen klang. Ohne irgendwelche Anzeichen von Hast oder Eile drehte er sich um, ging zu seinen Kriegern zurück und stieß einen schrillen, misstönenden Pfiff aus.
Die Front der Rattenkreaturen teilte sich und hinter ihnen erschien ein weiteres halbes Dutzend struppiger dunkelbrauner Ungeheuer. In ihren Händen lagen gewaltige, übermannsgroße Bögen.
Gwenderon spannte sich. Seltsamerweise hatte er überhaupt keine Angst. Er wusste, dass er sterben würde, ganz egal ob er den Prinzen nun auslieferte oder nicht. Die Raetts würden keickne Zeugen hinterlassen, die sie – oder ihre Auftraggeber – verraten konnten. Aber das einzige Gefühl, das in ihm war, war Enttäuschung. Er hatte versagt. Oro hatte ihn und ein Dutzend seiner besten Krieger ausgeschickt, um genau das zu verhindern, was jetzt geschehen war. Aber er hatte versagt.
»Es tut mir Leid, mein Prinz«, sagte er leise. »Wenn … wenn Ihr Euren Vater wieder seht, dann sagt ihm, dass es mir Leid tut. Ich …«
Ein helles, sirrendes Geräusch zerriss die Stille, die sich über die Lichtung gebreitet hatte. Einer der Rattenkrieger schrie auf, ließ seinen Bogen fallen und taumelte mit wild rudernden Armen zurück.
Aus seiner Brust ragte der gefiederte Schaft eines Pfeiles.
26
Der Todesschrei des Raett ging im Sirren der Bogensehnen und dem Klirren von Metall unter.
Die Front der Rattenkrieger zerbrach wie unter einem unsichtbaren Fausthieb. Ein Hagel von Pfeilen senkte sich wie eine tödliche Wolke auf die halb tierischen Angreifer herab und ein zweiter, dritter, vierter und fünfter Raett-Bogenschütze fiel getroffen zu Boden. Die Überlebenden suchten ihr Heil in der Flucht. Hinter ihnen sprengte ein Trupp weiß gekleideter, in Stahl und blitzendem Gold gepanzerter Reiter heran.
»Vater!«, schrie Prinz Cavin überrascht. »Gwenderon – das sind unsere Krieger! Wir sind gerettet!«
Gwenderon wollte antworten, aber er kam nicht dazu. Der Großteil der Raett-Krieger hatte zwar gleichfalls die Flucht ergriffen, aber drei oder vier von ihnen stürzten sich, ungeachtet der näher kommenden Reiterschar, auf Gwenderon und seickne Gruppe, wild entschlossen den Prinzen zu töten, wenn sie seiner schon nicht habhaft werden konnten.
Gwenderon riss mit einem erschrockenen Ausruf seinen Schild hoch, als der einäugige Anführer der Raett-Horde mit einem wütenden Pfeifen auf ihn zukam. In seinen Krallenhänden blitzte plötzlich ein Schwert, eine gewaltige, mehr als meckterlange Klinge, die ein normal gewachsener Mann kaum hätte halten können.
Gwenderon wankte im Sattel, als die Klinge mit ungeheurer Wucht auf seinen Schild herunterkrachte. Er schrie, spürte, wie der Schild zerbrach, und stürzte rücklings aus dem Sattel. Instinktiv rollte er sich ab und versuchte wieder auf die Füße zu springen, brach aber gleich darauf mit einem neuerlichen Schmerzensschrei zusammen. Sein Arm war taub, aber in der Schulter wühlte ein unbeschreiblicher Schmerz.
Cavins Schreckensschrei ließ ihn herumfahren.
Der Raett war unter der Wucht seines eigenen Hiebes zurückgetaumelt, aber er schien wie von Sinnen. Das einzige Auge flammte wie eine glühende Kohle in seinem schwarzen Rattengesicht. Mit einem wütenden Zischen riss er sein Schwert abermals in die Höhe und stürmte auf den Prinzen zu.
Karelian sprang ihn an. Der Raett keuchte, riss ihn in einer Bewegung, die Gwenderon einem Wesen seiner Größe niemals zugetraut hätte, herum und schlug Karelian den Schwertknauf vor die Stirn.
Der Waldläufer fiel mit einem lautlosen Seufzer nach hinten und blieb reglos liegen.
Gwenderon stemmte sich mit verzweifelter Kraft in die Höckhe. Oros Reiter sprengten in rasendem Galopp heran, aber so schnell sie auch waren – sie würden trotzdem zu spät kommen. Der Raett griff bereits wieder an. Er schien entschlossen zu sein, den Prinzen zu töten, wenn er ihn schon nicht lebendig bekommen konnte. Cavin versuchte sein Pferd herumzureißen, aber das Tier war halb wahnsinnig vor Furcht und trat nur hycksterisch auf der Stelle.
Gwenderon sprang.
Sein verletztes Bein schien in einer Woge von Schmerzen und unerträglicher Glut zu explodieren, als er gegen den Raett prallte. Er schrie, fiel hilflos zur Seite. Aber auch der Raett-Krieger war aus dem Gleichgewicht gekommen. Vom Schwung seines eigenen Angriffes nach vorne gerissen, tauckmelte er an Cavin vorbei und versuchte verzweifelt sein Gleichgewicht wiederzufinden.
Cavin half seiner Bewegung mit einem gezielten Fußtritt nach. Der Raett torkelte und stürzte vornüber.
Als er sich wieder aufrichten wollte, zischte ein Pfeil heran und bohrte sich in seinen Schädel.
Der Raett wankte. Seine Hände öffneten sich; das Schwert fiel polternd zu Boden.
Aber er starb nicht.
Langsam, unendlich langsam richtete er sich auf, breitete die Arme aus und tat einen einzigen, schwerfälligen Schritt auf den Prinzen zu.
Cavin sah ihm wie gebannt entgegen. Seine Augen waren vor Schrecken geweitet. Unfähig sich zu bewegen starrte er den näher kommenden Raett an.
»Prinz! Duckt Euch!«
Der Schrei riss Cavin endgültig aus seiner Erstarrung. Mit einem erschrockenen Keuchen fuhr er zusammen und krümmte sich instinktiv über dem Hals seines Pferdes. Ein dunkler, lang gestreckter Schatten zischte eine Handbreit über seinen Rücken hinweg, bohrte sich in die Brust des Raett und schleuderte ihn zurück.
Gwenderon stöhnte. Schmerzen und Übelkeit schlugen wie eine betäubende Woge über ihm zusammen und für einen Mockment verlor er das Bewusstsein.