Wieder schwieg Faroan einen Moment, ehe er antwortete. »Es wäre unser aller Untergang, würden wir ihn jetzt verfolgen, mein Freund«, sagte er leise. »Niemand würde uns glauckben, denn für die Welt draußen lebt König Oro weiter, vergiss das nicht. Und sein eigener Sohn wird es bestätigen.«
Sein Körper begann stärker zu flackern und war jetzt fast durchscheinend. Gwenderon erschrak nicht einmal besonders. Er hatte es geahnt, die ganze Zeit schon. Der Mann, der vor ihnen stand und mit ihnen redete, war nicht wirklich, sondern nur ein Trugbild, ein Schatten, der aus einer anderen, unendlich weit entfernten Welt zu ihnen gesandt worden war – nicht um ihnen zu helfen, denn das konnte er nicht mehr, sondern nur noch um zu warnen.
Karelians Augen wurden rund vor Staunen und Schreck, als Faroans Körper mehr und mehr verblasste und an Substanz verlor.
Bald war er nur noch als blasser, nebliger Hauch zu erkennen und nach wenigen weiteren Augenblicken war selbst dieses Bild verschwunden. Gwenderons Blick glitt über das Dutzend rattengesichtiger, brauner Gestalten, die beiden Krieger, Animah und verharrte schließlich auf Karelian. Das war alles, was ihnen geblieben war. Alles, was von der stolzen Armee Hochwaldens übrig geblieben war.
Und doch …
»Und doch werden wir kämpfen«, führte er die Rede fort, die Faroan nicht mehr hatte beenden können. »Vielleicht haben wir eine Schlacht verloren, Karelian, und vielleicht hat Lassar eine Festung erobert. Aber der Schwarzeichenwald wird ihm niemals gehören. Das schwöre ich.«
Cavin
1
Der Regen hatte endlich aufgehört. Zum ersten Mal seit Tagen schien die Sonne wieder aus einem wolkenlosen, blauen Himmel auf die Zinnen und Türme Hochwaldens herab. Aber es war noch immer kalt und in der Luft lag ein klammer, unangenehmer Hauch, als wäre der Regen nicht wirklich gewichen, sondern nur irgendwie unsichtbar geworden. Die Äste des nahen Waldrandes waren schwer von Feuchtigkeit und zwischen den Stämmen griffen dünne, graue Nebelfinger in den Morgen hinaus.
Prinz Cavin zog den pelzgefütterten Mantel fröstelnd enger um die Schultern. Er warf einen letzten, nachdenklichen Blick zum Waldrand hinüber und wandte sich dann um, um in den Turm zurückzugehen. Der Sommer kam spät in diesem Jahr und er versprach kalt zu werden. Aber vielleicht spielten ihm auch nur seine Erinnerungen einen Streich.
Es war lange her, dass er in Hochwalden gewesen war, viel zu lange, wie es ihm jetzt schien. Damals war er ein Kind gewesen und seine Erinnerungen waren die eines Kindes. In all den Jahren, in denen er draußen in der Welt gewesen war und studiert und gelernt hatte, war Hochwalden stets ein Juwel in seiner Erinnerung geblieben – die Perle des Schwarzeichenckwaldes, gewaltig und wehrhaft zwar, aber trotzdem von strahlender Pracht und in ewigen Sonnenschein gebadet.
Nun, dachte er niedergeschlagen, während er rasch die gewundene Treppe im Inneren des Turmes herabeilte, so viel zum Thema Erinnerungen und Träume. Jetzt war er – endlich – wieder zu Hause und die Wirklichkeit hatte ihn eingeholt.
Wie um dem Gedanken das nötige Gewicht zu verleihen, schoss ein scharfer Schmerz durch seine rechte Hand. Er erinnerte ihn daran, dass die Wunde, die er bei dem Kampf drauckßen im Wald erlitten hatte, noch lange nicht verheilt war.
Statt oben in Wind und Kälte auf dem Turm zu stehen und alten Erinnerungen nachzuhängen, sollte er lieber in seinem Geckmach bleiben und sich schonen, damit seine Wunden heilten. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass es bald sehr wichtig für ihn sein mochte, im Vollbesitz seiner Kräfte zu sein.
Auf dem Weg zu seinem Schlafgemach begegnete ihm niemand. Hochwalden kam ihm nicht nur größer, sondern auch dunkler und stiller vor, als er es in Erinnerung hatte. Auf den Zinnen der Burg hatten zwar nie sehr viele Wachen gestanden, da Hochwalden niemals über viele Krieger verfügt hatte. Denn trotz seines Achtung gebietenden Äußeren und dem Eindruck von Wehrhaftigkeit und Stärke, den seine wuchtigen Mauern und die gigantischen Ecktürme vermittelten, war es ein Ort des Friedens und der Ruhe. Aber er hatte den größten Teil der letzckten vier Wochen genutzt, um noch einmal – wie der kleine Junge, der er einmal gewesen war – durch die endlosen Gänge und Hallen der Feste zu strolchen, und er hatte viele Räume verlassen und ganze Flügel verwaist vorgefunden.
Die Burg war stiller geworden. Stiller und irgendwie … anders.
Cavin konnte das Gefühl nicht richtig in Worte kleiden, aber es war sehr deutlich. Und es war kein sehr angenehmes Gefühl.
Es begann mit den Wachen. Die wenigen Soldaten, denen er begegnet war, waren ausnahmslos schweigsam und finster gewesen – große, ausgesucht kräftige Männer, denen man auf hundert Schritte ansah, dass sie zu kämpfen verstanden. Sie hatten ihn mit dem gehörigen Respekt behandelt, ja waren fast schon unterwürfig gewesen. Aber es waren nicht die Männer, an die er sich erinnerte, die Männer, die zu Hochwalden gehörten; Männer wie Gwenderon, auf dessen Eintreffen er jetzt seit Tagen wartete, oder Norrot und Willhard, die ein so schreckliches Ende gefunden hatten. Sie hatten sich verändert und vielleicht war der Wandel, der mit Hochwalden vor sich gegangen war, an ihnen am deutlichsten zu bemerken.
Früher war jeder einzelne Mann der Wache sein Freund gewesen. Königssohn hin oder her, hatten sie ihn wie das Kind behandelt, das er war. Sie hatten ihn mit hinausgenommen, wenn sie ausritten, und es war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen gewesen, mit seinem kleinen Spielzeugschwert dramacktische Ritterkämpfe mit den Männern der Garde auszufechten (die er meist gewann) oder auf seinem kleinen Pony inmitten der schwer bewaffneten Garde gegen einen imaginären Drachen zu kämpfen (den er natürlich immer schlug).
Aber diese Zeiten waren vorbei. Er war kein Kind mehr. Jetzt war er Prinz und würde bald König sein und sie waren seine Untergebenen und ließen es ihn fühlen.
Und dann war da die Sache mit Lassar, und das war etwas, das er gar nicht mehr verstand. Mehr noch – etwas in ihm schreckte davor zurück, es überhaupt verstehen zu wollen.
Auch sein eigenes, großzügig bemessenes Gemach war vercklassen und still, als er es erreichte. Die beiden Diener, die ihm zur persönlichen Verfügung gestanden hatten, als er Hochwalden erreichte, waren ihm unheimlich gewesen. Er hatte sie weggeschickt und beanspruchte ihre Dienste nur, wenn es unckumgänglich war – was so gut wie nie vorkam. Eines der ersten Dinge, die er gelernt hatte, war, dass auch ein Prinz gut beraten war, wenn er allein für sich sorgen konnte. Und er mochte die beiden Diener nicht.
Cavin warf den Mantel achtlos über einen Stuhl. Er trat an das Bücherregal neben dem Fenster und nahm unschlüssig einen der schweren, in hartes Leder gebundenen Bände zur Hand.
Er hatte eigentlich keine Lust, sich weiter den Kopf mit irgendwelchen trockenen Schriften über vergangene Königreiche und längst vergessene Kriege voll zu stopfen. Aber seine Ausckbildung war noch lange nicht abgeschlossen. Und wenn er eines Tages König von Hochwalden geworden war, dann würde er sich auch auf diplomatischem Parkett so sicher bewegen müssen wie auf dem Rücken seines Pferdes. Außerdem war ihm langweilig.
Ohne großes Interesse blätterte er in dem Buch, sah schließcklich hoch und ging zu seinem Stuhl zurück. Sein Blick streifte die Tür.
Cavin erstarrte.
Verwirrt ließ er das Buch sinken, fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger der Linken über die Augen und blinzelte ein paar Mal. Aber das Bild blieb. Grauer Rauch quoll unter der Tür hindurch.
Cavins erster Gedanke war, dass irgendwo draußen auf dem Gang ein Feuer ausgebrochen sein musste. Aber im gleichen Moment wurde ihm klar, dass dem nicht so war. Was er sah, war kein Rauch, sondern es war Nebel, zu dünnen Fäden vercksponnener Nebel. Binnen Sekunden wurde es kühl, dann so kalt, dass Cavins Gesicht und Hände zu prickeln begannen. Er sah, wie sich die Steinfliesen des Bodens, wo der Nebel sie berührte, mit dünnen, gesprungenen Eisplättchen überzogen. Und plötzlich konnte er seinen eigenen Atem als Folge kleiner grauer Dampfwölkchen vor dem Gesicht sehen.