Sie gingen eine Treppe hinauf, durch einen finsteren, halbrunden Gang, der so niedrig war, dass die spitzen Ohren der Raetts mit raschelndem Geräusch an der Decke entlangstrichen, dann schwang ein Tor vor ihnen auf und helles Sonnencklicht stach schmerzhaft in Resnecs an Dunkelheit gewohnte Augen. Im ersten Moment sah er nichts außer einem Muster aus viel zu grellem Blau und viel zu tiefem Schwarz, Stücke flimmernden Himmels und lichtschluckender Wände. Doch ehe seine Augen aufgehört hatten zu tränen oder sich gar an die veränderten Lichtverhältnisse anpassen konnten, wurde er durch eine weitere Tür gestoßen, wieder hinab über Treppen und spiegelglatte Rampen, die so steil in die Tiefe führten, dass selbst die Raetts mit ihren scharfen Krallen kaum Halt darauf fanden.
Dann erreichten sie eine letzte Tür und wie die Male zuvor blieben die Raetts zurück und bedeuteten ihm nur mit Gesten und schrillen Pfiffen, weiterzugehen.
Etwas war anders.
Die Kammer war wie immer – ein schwarzes Loch, das jeckmand in die Wirklichkeit gestanzt hatte und in dem nur hier und da winzige rote Lichter wie böse Augen glommen, scharf abgegrenzte Flecken, von Dunkelheit wie mit erstickendem, schwarzem Schlamm umlagert. Und doch war etwas da, was bisher nicht hier gewesen war. Die Male zuvor, als die Raetts ihn hergebracht hatten, war er allein gewesen, allein mit seinen Gedanken, seiner Angst und den Schmerzen, die zu einem Teil seines Lebens geworden waren. Jetzt … es war, dachte Resnec schaudernd, als berühre er die Unendlichkeit, als streife er mit einem Teil seiner Seele die große Kälte zwischen den Zeiten. Ganz plötzlich spürte er das Alter der ihn umgebenden Mauern, die Millennien, die auf ihnen lasteten. Die Dunkelheit schien zu weichen – nein, sie wich nicht, aber etwas begann in ihr Form anzunehmen, sich zu ballen wie treibender Rauch und wieder auseinander zu wehen, sich neu zu formen. Resnec sah Licht. Er sah Farben. Er sah Formen. Dann hörte er die Stimme. Eine Stimme, die sehr leise war, nicht mehr als ein Flückstern, und in der doch das Gewicht der Ewigkeit lag.
Was sie sagte, erfüllte ihn mit Staunen. Zuerst. Dann mit Schrecken, schließlich mit schierem Entsetzen. Er begann zu schreien, fiel auf die Knie herab und schlug mit verzweifelter Kraft die Hände vor die Ohren, barg schließlich den Kopf zwickschen den Knien, nur um diese entsetzliche Stimme nicht mehr zu hören und die tausendmal schrecklicheren Worte, die sie sprach.
Es nutzte nichts. Die Stimme, die seine eigene war, ohne dass er es auch nur gemerkt hätte, fuhr fort. Leise, beinahe sanft, aber unnachgiebig.
Nach einer Weile hörte Resnec auf zu schreien. Und irgendckwann, sehr viel später, kamen die beiden Raetts, hoben ihn hoch und trugen ihn zurück in die Zelle, in der er die letzten Wochen verbracht hatte.
3
Das Lager befand sich in jenem Teil des Waldes, in dem die Schatten tiefer und das Grün der Bäume lebendiger waren als anderswo, in dem Gebiet jenseits des Flusses, von dem sich die Menschen düstere und unheimliche Dinge erzählten. Kaum einer, der es zu betreten gewagt hatte, war je wieder zurückgekehrt.
Die Bäume, die die winzige runde Lichtung wie stumme Wächter umstanden, schienen ihre Äste wie beschützende Hände über die Laubdächer der sechs Hütten auszustrecken. Und selbst das Licht wirkte hier irgendwie weicher, die Schatten sanfter und der Wind weniger beißend als anderswo.
Die Lichtung lag nicht nur im übertragenen Sinne im Herzen des Waldes, dachte Gwenderon. Es war sonderbar; er war niemals zuvor hier gewesen, kannte diesen Teil des Schwarzeichenwaldes nur aus Erzählungen und Legenden, und trotzdem schien ihm alles auf seltsame Weise vertraut. Seit sie das Lager vor einigen Wochen erreicht hatten, hatte er stets das Gefühl, nach Hause zu kommen, wenn er von einem seiner Patrouillenritte zurückkam, die er ebenso wie der Geringste seiner Krieger regelmäßig ausführte, wenn die Reihe an ihn kam. Und jedes Mal, wenn er das Lager vor sich sah, erschien es ihm aufs Neue unglaublich, dass sie all dieses in weniger als hundert Tagen geschaffen hatten – aus der Hand voll lieblos zusammengeschusterter Laubhütten, nicht viel mehr als die Nester von Tieren, zu denen Guarr und seine Sippe sie geführt hatten, war eine Siedlung geworden, klein zwar, und noch im Aufbau, aber doch eine Siedlung, der man ansah, dass sie von Menschen bewohnt wurde und dass sie ihnen zur Heimat geworden war. Zwei Drittel der Lichtung waren von einem Palisadenzaun eingefasst, der Rest des noch nicht geschlossenen Kreises ein mannstiefer Graben, der darauf wartete, mit angespitzten Pfählen gefüllt zu werden, und in der Mitte des Lagers, von einer zweiten, sehr viel höheren Palisade umgeben, begann das Skecklett eines hölzernen Turmes emporzuwachsen, so schnell, dass man dabei zusehen konnte. Drei, vielleicht vier weitere Wochen, dachte Gwenderon, und aus dem Nomadenlager der Raetts würde schließlich eine Burg geworden sein, vielleicht nicht ganz so stolz und ansehnlich wie Hochwalden, aber fast ebenso wehrhaft.
Manchmal überkam ihn auch Bitterkeit bei ihrem Anblick, Trotz aller Mühe, die sie sich gaben, trotz aller Anstrengung und Kunstfertigkeit war es doch nur Flickwerk, und wenn er es ganz objektiv betrachtet hätte – was zu tun er sich hütete –, hätte er zugegeben, dass es wohl nur ein eher rührender Vercksuch war, ihrem Anspruch wenigstens äußerlich Gewicht zu verleihen. Sie waren Rebellen und fühlten sich auch so – wecknigstens viele von ihnen –, aber was sie in Wahrheit taten, war Steine gegen einen Drachen zu schleudern. Wenn Lassars Späckher diesen Ort entdeckten, würde er einen Tag später nicht mehr existieren. Fünfzig Schwerter und eine Burg aus Holz gegen die Macht eines Mannes, der eine halbe Welt unterjocht hatte.
Gwenderon verscheuchte den Gedanken. Er war müde. Er hatte zwei Tagesritte in nur wenig mehr als einer Nacht zurückgelegt und nicht nur sein Pferd zitterte vor Erschöpfung.
Die Späher, die hoch oben und selbst für seine scharfen Augen unsichtbar in den Baumkronen saßen und über die Sicherckheit des Lagers wachten, hatten seine Ankunft längst bekannt gegeben. Als er auf die Lichtung hinausritt, wurde er von einem Dutzend Männer erwartet. Hilfreiche Hände streckten sich ihm entgegen, halfen ihm aus dem Sattel und griffen nach dem Zaumzeug seines Pferdes. Neugierige Fragen und Scherzworte klangen auf.
Aber Gwenderon hielt sich diesmal – ganz gegen seine gewohnte Art – nicht lange mit der Begrüßung auf, sondern ging rasch über die Lichtung und betrat die größte der runden Laubhütten.
Im ersten Moment konnte er kaum sehen. Trotz des dichten Blätterdaches war es draußen merklich heller gewesen und seine Augen brauchten eine Weile, um sich an die Schatten erfüllte Dämmerung im Inneren der Hütte zu gewöhnen.
Dann erkannte er Mannon, den Zwerg, und Quarr, den Führer des Raett-Clans, der sich ihnen angeschlossen hatte. Zwischen ihnen hockte mit untergeschlagenen Beinen und müden, rot geränderten Augen ein vielleicht fünfzigjähriger, grauhaariger Mann, den er nicht kannte. Auch das war nichts Besonderes. So jung ihre Rebellion – wenn dies überhaupt das richtige Wort war – sein mochte, so viel Zulauf hatten sie. Karelian hatte Boten ausgeschickt, Zwerge und Raetts und einige von den wenigen, die das Gemetzel vor den Toren Hochwaldens überstanden hatten, um alle seine Freunde und Vertrauten herbeizurufen, und sie kamen. In Scharen. Manchmal fragte sich Gwenderon, ob er froh darüber war. Sicher – sie konnten jede Hand und jedes Schwert bitter nötig gebrauchen, aber es gab Augenblicke, da sah er sich nur von fremden Gesichtern umgeben, von Männern, deren Namen er nicht einmal wusste, und manchmal hatte er das Gefühl, dass ihm alles zu entgleiten begann. Dies war lange nicht mehr sein Kampf. Er befand sich im Herzen einer zwar noch kleinen, aber sehr rasch anwachsenden Armee. Was er nicht wusste, war, ob es noch seine Armee war. In Momenten wie jetzt – er war eine Woche weg gewesen – war es besonders schlimm. Dann fühlte er sich als Fremder unter Fremden. Wie sollte er einen Krieg gewinnen, wenn er nicht einmal den Namen des Mannes wusste, der neckben ihm ritt?