»Gwenderon! Du kommst früh.«
Guarrs Stimme klang fremdartig und schrill wie immer. Obwohl der Raett in den wenigen Wochen, die sie nun beieinander waren, die Sprache der Menschen erstaunlich besser sprechen gelernt hatte, kostete es Gwenderon noch immer Mühe, nicht beim Klang dieser hohen, quietschenden Stimme zusammenzufahren. Auf absurde Weise war es nicht das Äußere der Raetts, das Gwenderon ihre Fremdartigkeit immer wieder vor Augen führte. Einem Menschen, der nie zuvor einen Raett gesehen hatte, wären sie wie Ungeheuer vorgekommen – zwei Meter große, aufrecht gehende Ratten, die in ihrer dunklen Leckderkleidung und den mannslangen, nackten Schwänzen wie eine böse Vorahnung des Menschen aussahen. An ihren Anckblick hatte sich nicht nur Gwenderon überraschend schnell gewöhnt; manchmal kamen sie ihm jetzt sogar beinahe ästhetisch vor, denn trotz ihres abstoßenden Äußeren waren sie von einer natürlichen Kraft und Eleganz, die ein Mensch niemals erreichen würde. Aber an ihre Stimme würde er sich nie gewöhnen.
Er verbarg sein Erschrecken und nickte nur kurz, grüßte auch Mannon und den Fremden auf die gleiche Weise und ließ sich mit einem hörbaren Seufzer auf eine der Strohmatten sinken, die den Boden bedeckten. Einen Luxus wie Stühle gab es im ganzen Lager nicht.
»Gwenderon?« Der Fremde runzelte die Stirn, und obwohl Gwenderon sein Gesicht noch immer nicht deutlich erkennen konnte, glaubte er doch einen raschen Ausdruck von Erschrecken über seine Züge huschen zu sehen. »Ihr seid Gwenderon?«
Der alte Waffenmeister nickte. »Das bin ich. Und wer seid ihr, wenn ich fragen darf?«
»Mein Name ist Corben«, antwortete der Fremde und wirkte plötzlich verlegen. »Verzeiht meine Frage, Gwenderon. Ich habe von Euch gehört, aber ich hatte mir Euch … anders vorgestellt.«
Gwenderon nickte und zog eine Grimasse. »Das tun die meicksten«, knurrte er. »Jünger und größer und mit mindestens zwei Schwertern und einem drei Meter langen Morgenstern im Gürtel.«
Corben wirkte betroffen und zog es vor, nicht zu antworten. Gwenderon sah, wie es in Mannons Augen aufblitzte, als der Zwerg mit Mühe ein Grinsen unterdrückte.
Corben war nicht der Erste, der über Gwenderons graues Haar und sein faltiges Gesicht staunte. In den langen Jahren seines Lebens hatte sich der ehemalige Waffenmeister von Hochwalden nicht nur im Schwarzeichenwald einen gewissen Ruf erworben. Und wer nur diesen Ruf kannte und dem Mann, der dazugehörte, zum ersten Mal begegnete, stellte meist mit Erstaunen fest, wie alt und gebrechlich Gwenderon aussah.
Und mehr als einer, der diesem Irrtum erlegen war, hatte ihn mit dem Leben bezahlt.
»Verzeiht, Corben«, murmelte Gwenderon. »Ich war unhöfcklich zu Euch. Aber ich bin zum Umfallen müde.« Er wandte sich an Mannon. »Ist Karelian im Lager?«
Der Zwerg verneinte. »Seit fünf Tagen nicht mehr. Er ist gleich nach Euch weggegangen. Er wollte nach Süden, um bei den Bergvölkern um Waffen und Nahrungsmittel zu bitten.« Sein Gesicht verfinsterte sich. Der Schwarzeichenwald war arm an Wild und essbaren Früchten. »Unsere Lage wird immer ernster, Gwenderon. Ich weiß nicht, wie lange wir die Männer noch ausreichend verpflegen und bewaffnen können.«
Er ballte zornig die Faust und deutete auf Corben. »Vor drei Tagen erst hat Karelian eine ganze Maultierkarawane mit Waffen und Kleidern auf den Weg geschickt, aber Lassars Männer haben sie überfallen. Corben hier ist der einzige Überlebende.«
»Dann kennen sie also auch den Pfad durch die Berge?«
»Nein«, antwortete Corben. »Wir haben den Wald unbehelligt erreicht. So mächtig Lassar auch ist, scheint er eine offene Konfrontation mit den freien Steppenvölkern noch zu scheuen. Und er achtet auch den Waffenstillstand mit den Zwergen. Seickne Häscher lauerten uns im Wald auf. Drei Tagesritte von hier.«
»Sie werden immer dreister«, fügte Mannon hinzu. »Noch ein halbes Jahr, und wir werden das Lager aufgeben müssen.«
»Warum bauen wir es dann überhaupt auf?«, fragte Gwenderon gereizt. Seine Worte taten ihm augenblicklich wieder Leid. Er schüttelte den Kopf, lächelte entschuldigend und fuhr sich müde mit dem Handrücken über die Augen. »Verzeih, Mannon. Ich bin müde. Wir sollten ein andermal weiterreden.« Er warf einen fragenden Blick in Corbens Richtung, aber der Fremde wich seinem Blick aus. Irgendwie, fand Gwenderon, wirkte er enttäuscht. Was hatte er erwartet?, dachte er zornig. Eine Burg aus Stahl, in der hunderttausend goldgepanzerte Reiter darauf warteten, zu den Waffen zu greifen und den Tyrannen vom Angesicht der Erde zu fegen?
Gwenderon seufzte. »Ich fürchte, so viel Zeit bleibt uns nicht einmal«, sagte er, an Mannons Worte anknüpfend. »Ich bin ebenfalls angegriffen worden, weniger als einen Tagesritt westlich von hier. Das ist der Grund, aus dem ich vor der Zeit zurückgekommen bin.«
»Angegriffen?« Guarr richtete sich erschrocken auf. Sein braunes Rattengesicht blieb ausdruckslos wie immer, aber seickne Barthaare zitterten; ein deutliches Zeichen seiner Erregung.
»Wo? Wann? Wie viele?«
Gwenderon hob besänftigend die Hand. »Nur einer, Guarr«, sagte er. »Er ist tot. Aber das hier habe ich bei ihm gefunden.«
Er griff unter seinen Gürtel, förderte eine kleine, runde Mecktallscheibe zutage und warf sie Guarr hinüber, der sie geschickt auffing. Der Raett begutachtete sie einen Moment schweigend, biss hinein – Gwenderon lächelte flüchtig –, dann reichte er sie an Mannon weiter.
»Das ist ein kilianischer Goldheller«, murmelte der Zwerg. Er starrte die Münze mit wachsender Verwirrung an und gab sie schließlich an Gwenderon zurück. »Aber das allein muss nichts bedeuten.«
»Das allein nicht«, bestätigte Gwenderon. »Aber du hast ihn nicht gesehen, Mannon. Der Mann war kein gewöhnlicher Strauchdieb, der geglaubt hat, sich mit Lassars Kopfprämie ein leichtes Stück Geld verdienen zu können. Der Kerl hat ein wahres Waffenlager mit sich herumgeschleppt – und er machte mir ganz den Eindruck, dass er damit auch umgehen konnte.«
»Aber Ihr habt ihn getötet«, wandte Corben stirnrunzelnd ein. »Worüber macht Ihr Euch Sorgen?«
»Wo einer ist, sind bestimmt noch mehr«, antwortete Gwenderon unwillig. »Ihr gehört noch nicht lange zu uns, und desckhalb –«
»Ich kämpfe seit fünfzehn Jahren gegen Lassar!«, unterbrach ihn Corben beleidigt.
»Wo?«
»Wo?« Corben schien verwirrt. »Nun, in meiner Heimat, aber auch in diesen …«
»Aber nicht bei uns«, unterbrach ihn Gwenderon. »Nicht wahr?«
»Macht das einen Unterschied?«
Gwenderon seufzte. »Es macht einen, Corben. Sogar einen gewaltigen. Es ist erst vier Wochen her, dass Lassar Hochwalden überfallen und seinen rechtmäßigen König ermordet hat, und schon in dieser kurzen Zeit ist es ihm gelungen, uns bis hierher zurückzutreiben.« Er machte eine Handbewegung, die die Hütte und das ganze Lager einschloss. »Draußen, unter den Augen der Welt, wagt er es nicht, seine ganze Macht einzusetzen, denn er weiß sehr wohl, dass er nicht der einzige Magier ist und andere eifersüchtig darüber wachen, dass er nicht zu stark wird.« Er seufzte. »Hier gibt es niemanden, der ihn beockbachtet, Corben. Niemand, auf den er Rücksicht nehmen müsste. Wir haben uns tief in die Wälder zurückgezogen, um vor seinen Schergen sicher zu sein. Bislang hat es Lassar nicht gewagt, uns bis hierher zu folgen. Wahrscheinlich könnte er es und wahrscheinlich könnte er uns sogar hier aufspüren und vernichten. Genug Männer und Macht dazu hat er. Aber er hat es bisher nicht gewagt, weil er weiß, dass der Preis für einen solchen Sieg zu hoch wäre. Und weil wir auf der anderen Seite nicht so gefährlich für ihn sind, dass unsere Vernichtung das Risiko lohnte, ein paar hundert oder auch tausend Krieger zu verlieren.«
»Das verstehe ich nicht«, gestand Corben. »Ihr bekämpft ihn, oder nicht?«
»Würdet Ihr Euch die rechte Hand abhacken, weil Euch dort ein Floh beißt?«, fragte Gwenderon. »Sicher – wir bekämpfen ihn, wenn Ihr es so nennen wollt. Ab und zu überfallen wir seine Patrouillen, und dafür hetzt er uns Strauchdiebe und Wegelagerer auf den Hals, die das Gold lockt, das er auf unsere Köpfe ausgesetzt hat. Aber wirklich wehgetan haben wir ihm bisher nicht – so wenig wie er uns.« Er brach ab, drehte die kleine Münze in der Hand und starrte sekundenlang nachdenkcklich zu Boden. »Der Mann, dem dieser Heller gehörte, kam von den kilianischen Inseln«, fuhr er fort. »Ihr kennt den Ruf dieser Männer?«