Nach einer Weile hob Oro die Hand und deutete über die Mauer auf das grüne Meer des Waldes. Weit im Süden hingen graue Regenschleier wie Spinnweben über dem Wald. Cavin konnte die Feuchtigkeit riechen, die mit dem Wind herankam.
»Sieh dort hinunter, mein Sohn«, verlangte Oro.
Cavin gehorchte. Der Balkon lag dicht unter der Spitze des Turmes, fast hundert Manneslängen über dem Boden, sodass der Blick ungehindert über Meilen und Meilen ging, aber nirgends war ein Ende oder auch nur eine Unterbrechung des grücknen Ozeans zu erkennen.
Der Gedanke, dass er selbst erst vor wenigen Tagen durch diesen so undurchdringlich erscheinenden Dschungel geritten war, kam Cavin mit einem Male absurd vor. Er fühlte sich klein und verwundbar.
War es wirklich erst vier Wochen her, dass er neben Gwenderon durch den Wald geritten war, dass er auf die Raetts und den grimmigen kleinen Zwerg gestoßen war und sein Leben gegen eine Armee hirnloser, kleiner Ungeheuer verteidigt hatte? Die Erinnerungen schienen so weit entfernt, als sei alles schon lange her. Jahrelang.
»Das alles wird bald dir gehören, Cavin«, sagte Oro leise. »In wenigen Tagen schon.«
Es dauerte einen Moment, bis Cavin begriff, was sein Vater gesagt hatte. Er erschrak.
»Unsinn«, sagte er hastig. »Irgendwann einmal sicher, aber so alt bist du nun auch noch nicht.« Er versuchte vergeblich seiner Stimme einen scherzhaften Ton zu verleihen, und als sich Oro herumdrehte und ihm in die Augen sah, hatte er das Gefühl, einen glühenden Dolch ins Herz gestoßen zu bekommen.
»Nein, Cavin«, antwortete der König. »Lassar hatte Recht – du bist alt genug die Wahrheit zu erfahren. Du warst ein Kind, als du fortgegangen bist, aber jetzt bist du ein Mann. Manchmal … muss ich mir diese Tatsache wieder ins Gedächtnis zurückrufen.« Er lächelte, wieder auf diese sonderbare Art, hob seine Hand und berührte Cavin flüchtig im Gesicht. Seine Haut fühlte sich eiskalt an.
»Ich habe dich zurückgerufen, weil ich meine Zeit kommen spürte, mein Sohn«, sagte er ernst. »Und nun ist es so weit. In wenigen Tagen werden der Schwarzeichenwald und Hochwalden dir gehören. Dann wirst du der Waldkönig sein und auf deinen Schultern wird die Verantwortung für dieses Land liegen.« Er stockte, ließ die Hand fallen und blickte wieder auf den Wald hinab. »Glaube nicht, dass es eine geringe Last sein wird«, fuhr er nach einer Weile fort. »Glaube nicht, dass du herrschen wirst, Cavin. Hochwalden ist nicht wie die anderen Burgen, die du gesehen hast. Dieser Wald hier ist nicht dein Eigentum. Du bist nicht sein Herrscher, sondern sein Beschützer. Und oft wirst du dich fragen, ob du nicht in Wahrheit sein Sklave bist.« Cavin starrte ihn aus tränenerfüllten Augen an. Er wollte antworten, irgendetwas sagen, aber er konnte es nicht. Die Stimme seines Vaters klang fast teilnahmslos, aber voller Ernst, und Cavin spürte, dass er Recht hatte, mit jedem Wort. Er würde sterben. Sehr bald.
Cavin hatte es gewusst, als er ihn das erste Mal gesehen hatte, nach dem Kampf im Wald vor vier Wochen. Der Tod hatte diesen alten, gütigen Mann bereits gezeichnet. Cavin hatte es nur nicht wahrhaben wollen.
»Ich habe dich beobachtet, Cavin«, fuhr Oro fort. »Seit du zurückgekehrt bist, stehst du fast ununterbrochen oben auf dem Turm oder den Mauern und blickst in den Wald hinab, als würdest du etwas suchen. Du wartest, nicht wahr?«
Cavin nickte. Seine Kehle fühlte sich abgeschnürt und hart an und seine Augen brannten immer stärker. Nur mit letzter Kraft hielt er noch die Tränen zurück.
»Du wartest auf Gwenderon«, fuhr Oro fort. »Aber er wird nicht kommen. Er wird nicht kommen, weil er weiß, dass ihn der sichere Tod erwartet, würde er auch nur einen Fuß in diese Burg setzen.«
»Was meinst du damit?«, entfuhr es Cavin.
Oros Blick wurde noch unergründlicher. »Es tut mir Leid, mein Sohn«, murmelte er. »Ich … ich hatte gehofft, dir diese Enttäuschung ersparen zu können. Aber meine Zeit läuft ab und bald werde ich nicht mehr da sein, um dich beschützen zu können. Gwenderon ist unser Feind.«
»Das ist nicht wahr!«, keuchte Cavin. »Das ist unmöglich, Vater. Du musst dich täuschen. Du …«
Oro unterbrach ihn mit einem sanften Kopfschütteln. »Ich wollte, es wäre so«, sagte er. »Aber ich täusche mich nicht. Ich weiß, dass Gwenderon einst dein Freund war. Aber der Mann, der dich auf den Knien geschaukelt hat und der dich Reiten und Fechten und Ringen lehrte, existiert längst nicht mehr.
Der Gwenderon, den du gekannt hast, ist tot. Ich weiß, was du jetzt denkst und fühlst, und glaube mir, mein Sohn, ich fühle mit dir. Auch ich habe mich einst geweigert die Wahrheit zu sehen, wie so vieles. Selbst Faroan. Aber Faroan hat diesen Irrtum mit dem Leben bezahlt und mich hätte er um ein Haar Hochwalden gekostet.«
Cavin rang verwirrt die Hände. »Ich … ich glaube es einfach nicht«, stammelte er. »Gwenderon ist …«
»Ein Verräter«, unterbrach ihn Oro. Plötzlich klang seine Stimme hart und Cavin glaubte fast so etwas wie Hass in seicknen Worten zu hören. Aber nur für einen Moment. »Der Überfall auf euch war sein Werk, Cavin, ebenso wie der Angriff auf Hochwalden und der Mord an Faroan. Es ist schwer zu glauben und doch ist es so.«
Lange, endlos lange starrte Cavin seinen Vater an, während die Gedanken in seinem Kopf wie in einem irren Veitstanz tobten, und es fiel ihm schwer, nicht einfach loszureden und sinnlose Worte zu stammeln.
Gwenderon ein Verräter?
Sicher, sie hatten Meinungsverschiedenheiten gehabt, sich gestritten, aber Gwenderon, der Waffenmeister Hochwaldens, der Mann, der sein Leben gegeben hätte, ehe er auch einen einzigen Baum des Schwarzeichenwaldes opfern würde, ein Verräter? Lächerlich!
Und doch musste es so sein, denn es war sein eigener Vater, mit dem er sprach.
»Was … was ist geschehen?«, fragte er mühsam.
»Das ist eine lange Geschichte«, begann Oro. »Und doch ist sie schnell erzählt. Es begann vor einem Jahr, als Lassars Bote zum ersten Mal hierher nach Hochwalden kam.«
»Resnec?«
Oro nickte. »Du hast ihn kennen gelernt, aber ich fürchte, dass auch er nicht mehr am Leben ist. Gwenderon hätte ihn schon damals getötet, hätte ich es nicht verhindert. Er war … wie von Sinnen. Verrannt in seinem Hass auf Lassar. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte er Lassar Resnecs Kopf als Antwort zurückgeschickt.«
»Antwort?«, fragte Cavin. »Antwort worauf?«
Oro zögerte einen Moment. »Als eine Antwort auf sein Angebot«, sagte er schließlich. »Du weißt, warum er hier war. Gwenderon hat es dir erzählt.«
»Er hat mir erzählt, dass er die Bäume des Schwarzeichenckwaldes schlagen will, um Kriegsschiffe daraus zu bauen«, beckstätigte Cavin. Ein Gefühl dumpfen Entsetzens machte sich in ihm breit.
»Aber du hast es doch nicht angenommen, Vater?«, keuchte er. »Du lässt doch nicht zu, dass der Wald gefällt wird? Diese Bäume sind heilig!«
Seltsamerweise lächelte Oro. »Heilig«, wiederholte er. »Ja, das sind sie wohl. Aber Lassar ist nicht der Einzige, der seine Macht gerne auch bis in diesen Teil der Welt ausdehnen möchte. Jahrhundertelang hat es niemand gewagt, auch nur einen Baum des Schwarzeichenwaldes zu fällen, und jahrhundertecklang war Hochwalden der Garant für seine Sicherheit. Aber die Zeiten ändern sich, mein Sohn.«
»Was heißt das?«, fragte Cavin, als Oro nicht weitersprach.
Oro seufzte. »Hast du die Antwort darauf nicht gelernt, auf deinen Schulen?«, fragte er. »Hast du nicht Jahre deines Leckbens damit verbracht, die Welt zu studieren, die ich nie geseckhen habe?« Er machte eine vage Geste über die Wipfel des Waldes hinaus. »Sag mir, wie es draußen in der Welt aussieht, Cavin. Wie viele Königreiche gibt es und was tun sie?«
Cavin verstand den Sinn dieser Frage nicht, aber er antworteckte ganz automatisch: »Neun große Königreiche und zahllose kleinere. Und den Teil der Welt, den Lassar erobert hat«, fügte er hinzu. »Und er wird größer.«