Oro ignorierte seinen letzten Satz. »Neun große Reiche«, wiederholte er. »Und was tun sie?«
»Was sie tun?«, wiederholte Cavin verständnislos. »Ich verckstehe deine Frage nicht.«
Oro drehte sich nun doch zu ihm um. »Dann will ich sie dir selbst beantworten«, sagte er. »Sie führen Krieg, Cavin. Gegen Lassar oder untereinander, welchen Unterschied macht es?«
»Einen großen«, sagte Cavin heftig. »Außerdem –«
»Nenne mir ein Land, in dem Frieden herrscht«, unterbrach ihn Oro. »Ich meine wirklichen Frieden, nicht bloß eine Pause zwischen zwei Feldzügen, oder den Frieden der Tyrannen, der auf Angst gegründet ist.« Er schüttelte den Kopf, seufzte und stützte sich schwer auf die steinerne Brüstung. »Die Welt ist alt, Cavin, sehr alt. Ihre Geschichte ist lang und du hast sie zehnmal besser studiert, als ich es je gekonnt hätte. Sie ist mit Blut geschrieben und du weißt es. Es ist eine Geschichte der Kriege. Kein Land, das länger als ein Jahrzehnt in Frieden gelebt hätte, ohne von seinen Nachbarn überfallen zu werden oder sie seinerseits auszuplündern, keine Generation, die nicht das Klirren von Waffen und den Gestank der Schlacht kennen gelernt hätte. Und es wird schlimmer. Die Welt brennt und der Rauch ist so dicht, dass wir nicht einmal mehr die Flammen sehen.« Er schwieg einen Moment, als müsse er sich erst auf die richtigen Worte besinnen, und fuhr dann leiser fort: »Du verachtest Lassar und du fürchtest ihn. Auch mir geht es nicht anders. Und doch habe ich ihn kommen lassen und ich habe mir angehört, was er zu sagen hat.«
»Seine Lügen«, behauptete Cavin.
Oro lächelte verzeihend. »Seine Wahrheit«, sagte er. »Aber es ist eine Wahrheit, die so schrecklich ist, dass wir sie nur zu gerne als Lüge abtun. Ich will nicht behaupten, dass Lassar in Wirklichkeit ein verkannter Heiliger ist, mein Sohn. Er ist, wofür du ihn hältst – ein machtgieriges Ungeheuer, dem ein Menschenleben nichts gilt und das sich mit Mächten der Finsternis eingelassen hat. Und doch gehört ihm die Zukunft.«
»Das ist nicht dein Ernst!«, widersprach Cavin. »Das kannst du nicht wirklich meinen, Vater!«
»Doch«, antwortete Oro müde. »Schau dich doch um! Ich habe dich in die Welt hinausgeschickt, damit du sie studierst, und jetzt sage mir, was du gelernt hast! Die Welt ist voller Lassars. Ein jeder deiner neun großen und hundert kleinen Könige tut, was Lassar tut; nichts anderes. Nur nicht so perfekt. Sie bekämpfen und bestehlen und plündern und betrügen einander, wo immer sie die Möglichkeit dazu finden.« Er spie aus, als erfülle ihn allein die Vorstellung mit Ekel. »Sie sind alle gleich. Lassar ist nicht schlechter als irgendeiner – er ist nur konsequenter. Und wenn wir vor ihm erschrecken, dann nur, weil er uns zeigt, wie wir selbst sind. Die Welt stirbt, Cavin. Vielleicht dauert dieser Tod noch ein Jahrtausend, vielleicht nur noch wenige Jahre, aber sie stirbt. Die Zeit der Menschen ist abgelaufen und sie haben es nur noch nicht bemerkt. Möglicherweise wird Lassar geschlagen. Er ist stark, aber nicht stark genug, siegen zu können, wenn sich alle anderen gegen ihn verbünden. Aber dann wird ein neuer Lassar kommen und nach ihm wieder einer und wieder einer. So oder so – die Zukunft wird Männern wie Lassar gehören, glaube mir.«
Oro brach ab, offensichtlich erschöpft von der langen Rede, und Cavin spürte ein Gefühl eisigen Entsetzens in seiner Seele emporkriechen. Das war nicht sein Vater, dem er zuhörte! Das war ein verbitterter alter Mann, dem das Leben mehr genommen als gegeben hatte und der irgendwann, vermutlich schon vor Jahrzehnten, angefangen hatte, die Menschen und sich selbst zu verachten. Aber was Cavin am meisten erschreckte, war die Tatsache, dass er Recht hatte – von seinem Standpunkt aus. Man konnte die Welt so sehen, und es war sogar leicht, es zu tun. Aber es stimmte nicht. Sie war nicht so. Trotzdem wickdersprach er nicht, als Oro nach einer Weile fortfuhr.
»Die Welt ist nicht mehr dieselbe wie die, in der dieser Wald entstand«, sagte er noch einmal. »Du hast gesagt, dieser Wald ist heilig, und du hast Recht damit. Aber selbst das Heilige muss manchmal dem Ansturm des Neuen weichen.«
»Heißt das, du … du gibst Lassars Forderung nach?«, fragte Cavin ungläubig. Das Gefühl des Entsetzens in seinem Inneren wandelte sich in Unglauben, Zorn – und ein plötzliches, heißes Aufwallen von Hass, als er an den Herrn der Schatten dachte.
»Nicht so, wie es dir Gwenderon vielleicht erzählt hat«, antckwortete König Oro. »Ich habe ein Bündnis mit Lassar geschlossen, das ist richtig. Ich gebe ihm einen von hundert Bäumen und er garantiert dafür für die Sicherheit Hochwaldens und des Schwarzeichenwaldes.«
»Weil er sich die anderen neunundneunzig auch noch holen will, ja!«, fuhr Cavin auf. Er musste sich mit aller Kraft beherrckschen, nicht zu schreien. »Vater, das ist nicht dein Ernst. Du …«
»Doch, Cavin«, unterbrach ihn der König. »Es ist mein Ernst. Die Verträge sind besiegelt und es ist mein fester Wille, dass sie gehalten werden, auch nach meinem Tode. Ich verlange nicht, dass du gutheißt, was ich getan habe. Aber du wirst meicknen Willen respektieren. Und irgendwann einmal wirst du erkennen, dass ich richtig gehandelt habe. Manchmal muss man einen kleinen Teil opfern, um das Ganze zu retten.«
»Er hat dir gedroht«, vermutete Cavin.
Oro lächelte. »Nein. Das musste er nicht. Hätte ich ihn fortgeschickt, wären andere gekommen. Es ist das Beste so, glaube mir. Lassar hat mir versprochen, dem Wald nicht mehr zu nehmen, als er verkraften kann. Ein anderer wäre vielleicht weniger rücksichtsvoll gewesen.«
»Und … Gwenderon?«, murmelte Cavin.
Oros Blick verdüsterte sich. »Reagierte so wie du, Cavin«, sagte er. »Nur heftiger. Zorniger. Er wandte sich von mir ab und schließlich drohte er mir sogar. Aber ich nahm es nicht ernst. Ich glaubte, er würde sich schon wieder beruhigen. Aber es kam anders. Er war es, der das Söldnerheer aufstellte, das Hochwalden berannte, Cavin.«
»Das … das kann ich nicht glauben«, murmelte Cavin. »Nicht Gwenderon! Er würde dir niemals Hochwalden wegcknehmen wollen. Er hätte sein Leben gegeben für dich!«
»Für den Wald«, verbesserte ihn Oro sanft. »Du verstehst noch immer nicht. Gwenderon ist besessen. Er glaubt, ich hätte den Wald verraten, und er glaubt, er wäre dazu verpflichtet, ihn zu retten, und zwar mit allen Mitteln. Glaube nicht, dass ich ihn deshalb hasse. Er ist nicht böse, sondern nur blind und verrannt. Es war sein Plan, Hochwalden zu stürmen und mich gefangen zu setzen. Dich hatte er ja schon in seiner Gewalt.«
»Aber warum dann der Überfall?«
»Gwenderon ist kein Narr«, sagte Oro. »Als er erfuhr, dass der Angriff fehlgeschlagen war, ließ er den Überfall inszenieren, um Lassar die Schuld daran zu geben. Er wusste, dass ich bald sterbe. Wahrscheinlich wären er und du mit knapper Not entronnen. Ihr hättet euch in den Wäldern versteckt, bis er Nachricht von meinem Tod erhalten hätte, und du hättest nichts auf der Welt so gehasst wie Lassar.« Er lächelte flüchtig. »Du weißt, dass Gwenderon ein kluger Mann ist.«
»Aber das ist … das …« Cavin begann zu stammeln und ballte in einer plötzlichen Aufwallung sinnlosen Zornes die Fäuste. Er wusste, dass sein Vater ihn nicht belog; er hatte ihn nie belogen, trotzdem konnte Cavin einfach nicht glauben, was er gehört hatte. Vor wenigen Tagen noch war Gwenderon sein Freund und Lassar sein Feind gewesen und plötzlich sollte alles gerade andersherum sein?
»Ich weiß, was du jetzt fühlst, mein Sohn«, sagte Oro sanft. »Aber begehe jetzt nicht den Fehler, Lassar für das verantwortlich zu machen, was geschehen ist. Es ist leicht, einen anderen zu hassen, wenn man mit einem Schmerz fertig werden muss, und es tut weh, einen Freund zu verlieren.«
Cavin antwortete nicht und nach einer Weile trat er schweigend an seinem Vater vorbei und starrte auf die erstarrten grücknen Wogen des Waldes hinab.
Aber er sah sie kaum, denn seine Augen hatten sich mit Träcknen gefüllt und in seinem Herzen saß nichts als Verzweiflung.