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»Bitte, Gwenderon«, unterbrach ihn Animah. Sie lächelte nicht mehr, sondern wirkte jetzt gleichzeitig ungeduldig und verärgert. Gwenderon kam – wieder einmal – zu Bewusstsein, dass sie ihn fast um Haupteslänge überragte. »Ich kann dich verstehen und auch Resnec und Guarr begreifen deinen Zorn. Aber gib ihm wenigstens eine Chance.«

»Wozu?«, fauchte Gwenderon. »Uns zu verraten?«

»Ich bin nicht mehr euer Feind«, sagte Resnec. Etwas von seiner alten Überheblichkeit blitzte durch seine erschöpften Züge, als er hinzufügte: »Glaubt es oder lasst es bleiben. Ich kann meiner Wege ziehen, wenn Ihr es wünscht. Aber ich bin euch nützlicher, wenn ich bei euch bin.«

»Das richtig«, pfiff Guarr. »Resnec kennen Lassar gut. Wertckvoller Verbündeter.«

»Es fragt sich nur, für wen«, murmelte Gwenderon. Aber jetzt war es wirklich nur noch ein reiner Reflex. Wie ein geprügelter Hund biss er noch einmal um sich, aber er wusste, dass er niemandem mehr damit wehtun konnte. Voller stummem Zorn starrte er Resnec an.

»Gib ihm eine Chance«, sagte Animah in einem Ton, der die Wahl ihrer Worte Lügen strafte. »Ich kann dir nicht sagen, was mit ihm geschehen ist, aber Guarr weiß es und ich vertraue ihm. Tue es auch – wenigstens für einen Tag oder zwei. Er wird seine Loyalität beweisen oder sterben.«

Gwenderon sagte nichts mehr. Wütend drehte er sich herum und stapfte zu seiner Hütte zurück. Was er in diesem Moment am meisten bedauerte, war die Tatsache, dass keine Tür da war, die er hinter sich zuschlagen konnte.

6

Der Hügel lag eine Stunde nördlich des Lagers. Er erhob sich auf einer Lichtung ähnlich der, auf der die Laubhütten des Reckbellenlagers standen. Nur war diese Lichtung kleiner und weckniger auffällig; ihre Ränder wurden von wild wucherndem Unterholz beherrscht und selbst der knapp mannshohe Hügel war überwuchert mit Buschwerk und dornigen Sträuchern.

Gwenderon selbst hatte mitgeholfen, sie aus dem Wald zu schlagen. Aber obwohl seither kaum vier Wochen vergangen waren, hatte die stumme Front der Bäume das verlorene Gebiet schon fast zur Gänze zurückerobert. Wo noch keine Schösslinge wuchsen, war der Boden unter dem dichten Teppich aus Moos und Grüngewächsen aufgewölbt. Pilze begannen den Boden mit ihren blassweißen Hüten zu tupfen. Gestrüpp und grüne, wie Schlangen ineinander gewundene Wurzeln gruben sich ihren Weg ans Licht und hier und da wuchsen sogar blasse Waldblumen.

In einem Jahr, dachte Gwenderon, würde der Wald den kleicknen Flecken wieder zurückerobert haben, den sie ihm so mühsam abgerungen hatten. Und weitere zehn Jahre später würde selbst der Grabhügel von den gigantischen Pfeilern des Schwarzeichenwaldes überwuchert sein: ein würdiges Grab für den Mann, den sie darunter zur Ruhe gebettet hatten.

Ein bitterer Geschmack machte sich auf seiner Zunge breit. Vier Wochen waren nicht genug, den Tod eines Mannes zu verwinden, mit dem ihn eine so tiefe Freundschaft verbunden hatte wie mit Faroan. Vielleicht hätten auch vier Jahre nicht gereicht. Es gab Wunden, die selbst die Zeit nicht heilen konnte.

Er vertrieb den Gedanken, stieg aus dem Sattel und reichte Guarr den Zügel seines Pferdes. Das Tier scheute; es war neu und hatte sich noch nicht vollends an die Gegenwart des Raett gewöhnt. Gwenderon beruhigte es mit ein paar raschen, geflücksterten Worten. Dann wandte er sich abermals um, schob mit der behandschuhten Rechten einen dornigen Zweig aus dem Weg und trat auf die Lichtung hinaus.

»Du wirklich gehen?«, fragte Guarr leise.

Gwenderon nickte ohne sich zu dem Raett umzudrehen. Sein Herz schlug schnell und beinahe schmerzhaft und er spürte, wie seine Hände in den Handschuhen feucht vor Schweiß wurden.

Der Gedanke, das Grab zu öffnen und den Toten darin in seickner ewigen Ruhe zu stören, erfüllte ihn mit einer tiefen, bohrenden Angst. Aber es musste sein.

Faroan hatte ihnen schon einmal aus dem Drüben – wo immer dieses Drüben sein mochte – herausgeholfen und Gwenderon hatte das sichere Gefühl, dass er es wieder tun würde. Es war mehr als eine Ahnung. Ohne dass er einen konkreten Grund dafür angeben konnte, wusste er, dass er mehr finden würde als ein Grab und einen verfallenen Leichnam. Er wusste es mit unerschütterlicher Sicherheit.

Zögernd umrundete er den Hügel und sah noch einmal zu Guarr zurück. Der Raett war ebenfalls aus dem Sattel gestiegen, machte aber keine Anstalten, ihm zu folgen. Er hätte es wohl auch unter Androhung des Todes nicht getan. Trotz ihres wilden Äußeren und ihrer Kraft, die selbst Gwenderon immer wieder überraschte, waren die Rattenwesen so abergläubisch wie kein zweites Volk. Schon allein die Nähe des Grabhügels musste den Raett an den Rand seiner Selbstbeherrschung treickben. Sie waren ein junges Volk. Noch vor einer Generation waren sie Tiere gewesen. Sie hatten das Recht, abergläubisch zu sein.

Gwenderon verscheuchte auch diesen Gedanken mit einem ärgerlichen Kopfschütteln, ging weiter und stand schließlich vor der wuchtigen Metallplatte, die in die Rückseite des Hügels eingelassen war.

Die Scharniere bewegten sich beinahe lautlos, als er die schwere Platte anhob. Dahinter kamen die Stufen einer steilen, aus dem Erdboden herausgearbeiteten Treppe zum Vorschein.

Ein Schwall feuchtkalter Luft schlug Gwenderon entgegen, als er die Treppe hinabzusteigen begann. Die Stufen führten fünf, sechs Meter weit nahezu senkrecht in die Erde und mündeten in einem kleinen, halbrunden Raum voller Kälte und dem Geruch modernder Erde.

Obwohl das Tageslicht über ihm zurückgeblieben war, war es nicht vollkommen dunkel. Ein seltsamer, grünlicher Schein, der aus keiner bestimmten Quelle kam, lag in der Luft, und rings um den offenen Steinsarg des Magiers schien sich die Helligkeit zu sammeln wie Wasser in einer Bodensenke. Gwenderon wusste, dass an diesem Licht nichts Magisches war – es waren leuchtende Organismen, winzig kleine Pilze und Flechten, die dieses Licht ausstrahlten wie andere Pflanzen Sauerstoff. Trotzdem nahm dieses Wissen dem Bild nichts von seiner Unheimlichkeit.

Gwenderons Herz begann schneller zu schlagen. Trotz der klammen Kälte brach ihm plötzlich der Schweiß aus und auf seiner Zunge war mit einem Male ein pelziger, widerwärtiger Geschmack.

Er hatte Angst.

Zögernd näherte er sich dem steinernen Sarg, und obwohl er geahnt hatte, was er sehen würde, erschrak er zutiefst, als sein Blick auf die Gestalt fiel, die darin aufgebahrt war.

Faroan war seit mehr als einem Monat tot – und trotzdem schien er nur zu schlafen. Sein Gewand war so makellos weiß wie an dem Tag, an dem sie seinen Leichnam hierher gebracht hatten, und auf seinen Zügen lag noch immer der gleiche sonderbar friedliche Ausdruck, mit dem sie ihn beigesetzt hatten. Seine Hände waren über der Brust gefaltet, um den hässlichen Blutfleck zu überdecken, wo ihn die Pfeile seiner Mörder getroffen hatten. Der Magier sah überhaupt nicht aus wie ein Tockter.

Gwenderon trat vollends an den Sarg heran, legte die Hände auf den harten, kalten Stein und blickte aus brennenden Augen auf die erstarrten Züge des Magiers herab.

Mit einem Male fühlte der alte Kämpe sich hilflos. Er war hierher gekommen, weil er der festen Überzeugung gewesen war, hier die Antwort auf all die Fragen zu bekommen, die ihn quälten. Und jetzt, als er sich endlich überwunden hatte und vor Faroans Sarg stand, jetzt wusste er nicht einmal zu sagen, was er eigentlich hier wollte.

Vielleicht war es nur eine sentimentale Anwandlung gewecksen, mehr nicht, dachte er. Vielleicht war er einfach geflohen, durch Resnecs Auftauchen und seinen so plötzlichen Sinnesckwandel bis ins Innerste erschreckt.

Vielleicht wurde er auch einfach nur alt.

Irgendwo hinter ihm raschelte etwas. Staub rieselte in feinen Bahnen von der Decke und etwas geschah mit dem Licht: Es wirkte plötzlich anders, ohne dass er den Unterschied in Worte fassen konnte. Das raschelnde Geräusch wiederholte sich und Gwenderon widerstand nur mit aller Kraft der Versuchung, herumzufahren und die Hand auf das Schwert zu legen.