Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Faroan war schon einmal von den Toten auferstanden und hatte ihnen geholfen, im Augenblick der höchsten Not. Aber er wusste auch, dass die Umstände damals anders gewesen waren. Damals waren erst wenige Stunden seit seinem Tod vergangen und ein Magier mochte Mittel und Wege kennen, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und ihm noch ein wenig Zeit abzutrotzen.
Nein – diesmal erhob sich Faroan nicht mehr von den Toten. Seine Augen blieben geschlossen und die Atemzüge, auf die Gwenderon ebenso sehr wartete, wie er sie fürchtete, kamen nicht.
Dafür hörte er seine Stimme – ein lautloses, dunkles Flüstern, das irgendwo tief unter seinen Gedanken erklang.
Du bist also gekommen, mein Freund.
Trotz allem erschrak Gwenderon bis ins Mark. Seine Hände begannen zu zittern und alles in ihm schrie danach, herumzufahren und wegzulaufen, so schnell und so weit wie möglich. Er stand in einem Grab und er hörte die Stimme eines Toten!
Für einen Moment drohte die Angst übermächtig zu werden. Dann fühlte er etwas wie die Berührung einer unsichtbaren, freundlichen Hand und Furcht und Entsetzen verblassten wie ein übler Traum. Er begriff, dass es Faroans Magie war, die die Angst aus seinem Herzen verbannte.
Du hast meinen Ruf vernommen, fuhr die Geisterstimme fort.
»Deinen … Ruf?«, antwortete Gwenderon verwirrt. »Ich kam, um …« Er zögerte. Dann lächelte er. »Ich weiß nicht warum«, gestand er. »Vielleicht einfach, weil ich müde bin.«
Du bist gekommen, weil ich dich gerufen habe, sagte Faroan. Nur wusstest du es nicht.
Plötzlich klang die lautlose Stimme anders; ein wenig traurig und fast schwermütig, dachte Gwenderon. Konnte ein Toter Trauer empfinden?
Du kämpfst noch immer gegen Lassar.
Gwenderon nickte. »Soweit man es kämpfen nennen kann, wenn man sich Schritt für Schritt weiter zurückzieht.« Er seufzte. »Wir leisten ihm Widerstand, aber wir sind nur gedulckdet, Faroan. Die Welt weiß es vielleicht noch nicht und Mannon und Guarr wollen es immer noch nicht wahrhaben, aber der wahre Herr des Schwarzeichenwaldes heißt Lassar. Alles, was wir erreicht haben, ist, ihn ein bisschen zu ärgern. Wir haben ihm nicht einmal wirklich wehgetan. Aber jetzt …«
Er brach ab, starrte dumpf an Faroans Sarg vorbei zu Boden und ballte in einer Geste hilflosen Zornes die Fäuste. »Irgendetwas geht vor«, murmelte er. »Ich spüre es, Faroan. Ich weiß nicht, was, aber ich spüre, dass Lassar eine neue Teufelei vorckhat.«
Ich weiß, antwortete die Geisterstimme. Auch ich spürte die Gefahr, die sich über dem Schwarzeichenwald zusammenballte, mein Freund. Aus diesem Grund rief ich dich zu mir. Du musst mir helfen.
»Ich?«, wiederholte Gwenderon ungläubig. »Du verlangst Hilfe von mir?«
Faroans lautlose Stimme klang plötzlich amüsiert. Es mag dir absurd vorkommen und doch ist es so. Meine Macht ist begrenzt, Gwenderon. Lassar ist ein mächtiger Zauberer, der mir schon im Leben überlegen war. Jetzt bin ich ein Nichts gegen seine Kräfte. Ich … habe versucht den Prinzen zu warnen, aber …
»Cavin?«, unterbrach ihn Gwenderon erregt. Eine eisige Hand schien seinen Nacken zu berühren. »Du meinst, Prinz Cavin lebt?«
Er lebt, bestätigte Faroan. Aber er ist in Lassars Netz gefangen und meine Kräfte reichen nicht mehr, den magischen Schutz zu durchbrechen, den der Herr der Schatten um Hochwalden gelegt hat.
»Was soll das heißen – er ist in Lassars Netz gefangen?«, wiederholte Gwenderon.
Auch für ihn sind nur wenige Tage vergangen, Gwenderon, antwortete Faroan. Er weiß nichts von eurem Kampf. Doch bald wird er Hochwalden verlassen, zusammen mit Lassar, zu einem ganz bestimmten Zweck.
»Und welchem?«, fragte Gwenderon leise.
Dem, das zu tun, was Lassar selbst nicht kann, will er es nicht riskieren, den Zorn der ganzen Welt auf sich zu ziehen, antwortete der Magier. Lassar ist mächtig und ohne Skrupel, aber der Schwarzeichenwald ist heilig, noch immer, und er wird es bleiben, ganz gleich, was geschieht. Es gibt Dinge, an die nicht einmal ein Lassar zu rühren wagt. Nicht einmal er würde es wagen, mit offener Gewalt gegen euch vorzugehen. Aber es gibt jemanden, der es kann.
Die Geisterstimme schwieg einen Moment, wie um ihren Worten das gehörige Gewicht zu verleihen, und obwohl Gwenderon ihre nächsten Worte vorausahnte, erzitterte er bis ins Mark, als Faroan fortfuhr: Es gibt einen Menschen auf der Welt, der es ungestraft tun kann, Gwenderon. Den rechtmäßigen Herrn von Hochwalden. Den König des Schwarzeichenwaldes. Er hat Cavin nur aus einem einzigen Grund in seine Gewalt gebracht: euch zu vernichten.
7
Die Sonne sank und die Schatten wurden länger. Mit dem Abend kroch Kälte in das Unterholz, dicht gefolgt von einem tiefen, fast unheimlichen Schweigen; einer Ruhe, die anders war als die normale Stille des Abends. Wären Gwenderon und seine halb menschlichen Begleiter noch da gewesen, wäre ihnen die Stille aufgefallen, mit der die ansonsten solchen Dingen gegenüber so respektlose Natur den Begräbnisplatz würdigte. Vielleicht hätten sie auch nur angenommen, dass ihr Auftauchen das scheue Leben des Schwarzeichenwaldes vollends vertrieben hätte.
Aber das war es nicht.
Noch lange nachdem der Mann und die beiden Raetts auf ihre Pferde gestiegen waren, lastete die Stille über der Lichtung; die Tiere, die vor den Hufschlägen der drei Pferde und dem Geruch ihrer Reiter geflohen waren, fürchteten nun etwas anderes.
Dabei war die Lichtung jetzt verlassen. Nur die Schatten waren da, die die sinkende Sonne allmählich tiefer und länger werden ließ.
Einer von ihnen hätte einen zufälligen Beobachter – hätte es einen solchen gegeben – an den Umriss eines menschlichen Körpers erinnert.
Aber nur beinahe.
8
Obwohl der Wind hinter ihnen zurückblieb, als sie in den Wald eindrangen, blieb es kalt. Der tagelange Regen hatte den Boden aufgeweicht, sodass der schmale Waldweg zu einem schlammigen Morast geworden war, in dem die Pferde kaum noch von der Stelle kamen. Das Wasser machte die Äste der Bäume beiderseits des Pfades schwer, sodass sie sich wie grünbraune Arme senkten und den zwei Dutzend Reitern immer wieder in die Gesichter zu schlagen drohten. Nicht zum ersten Mal, seit er in seine Heimat zurückgekehrt war, hatte Cavin das absurde Gefühl, dass sich der Schwarzeichenwald gegen sie wehrte. Der finstere, kalte Dschungel, durch den sie ritten, schien nichts mehr mit dem grünen Ozean gemein zu haben, den er von den Türmen Hochwaldens aus gesehen hatte. Alles hier war fremd und kalt und abstoßend und schrie ihnen seine Ablehnung entgegen. Selbst das Unterholz war mit Stacheln gepanzert, die schon bei der flüchtigsten Berührung verletzen mussten.
Sie waren seit zwei Stunden unterwegs, aber ihre Tiere waren schon jetzt erschöpft. Die Leiber der Pferde dampften vor Anstrengung und immer wieder kam eines der Tiere aus dem Tritt, wenn seine Hufe auf dem morastigen Boden keinen fecksten Halt fanden. Und auch an den Gestalten ihrer Reiter begannen sich Müdigkeit und Schwäche immer stärker bemerkckbar zu machen.
Cavin wischte sich mit der Linken den Regen aus dem Gesicht, beugte sich ein wenig tiefer über den Hals seines Tieres und warf der gebeugten Gestalt seines Vaters einen besorgten Blick zu. Er hatte mit aller Macht versucht König Oro von diesem Ritt abzuhalten. Allmählich begann er, selbst jeden einzelcknen Schritt des Pferdes schmerzhaft zu spüren, und die Kälte biss wie mit tausend kleinen spitzen Zähnen durch seine Kleickder. Für ihn und jeden einzelnen Mann in ihrer Begleitung war dieser Ritt eine Qual. Für König Oro der reine Selbstmord, fügte er düster in Gedanken hinzu. Er hatte mit Engelszungen geredet, um Oro von diesem Ritt abzuhalten, hatte argumentiert, gebeten, sich schließlich verstockt gezeigt und einfach gesagt, er würde nicht mitreiten. Aber alles Flehen und Arguckmentieren des Prinzen war sinnlos gewesen. Sein Vater hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten. Und er war vor allem nicht nur sein Vater – dem er schlimmstenfalls den Gehorsam verckweigern konnte, sondern auch sein König, dessen Befehlen er zu gehorchen hatte. Trotzdem war es Cavin nicht müde geworden, ihn immer wieder zum Umkehren aufzufordern. Aber Oro reagierte – wenn überhaupt, so immer nur mit einem matten Kopfschütteln oder einem Lächeln darauf. Schließlich – schon eine Stunde jenseits der Tore Hochwaldens – hatte er es aufgegeben.