In ihrer Mitte erhob sich die Festung.
Cavin erstarrte.
Es war wie ein Hieb; ein jäher Guss eiskalten Wassers; ein unverhoffter Schmerz, der einen aus dem Schlaf reißt. Seine Augen weiteten sich, so sehr, dass sie zu schmerzen begannen. Er hatte das Gefühl, sein Herz setze aus.
Die Festung war eine Ruine, eine titanische schwarze Stadt der Riesen, die vor tausend Jahren verlassen worden war und seither verfiel, ein schwarzer Alptraum aus Granit und Staub und zerborstenen Felsen, der im Herzen der gewaltigen Lichtung aufragte, selbst jetzt noch zehnmal größer als Hochwalden; und hundertmal beeindruckender. Wenn er jemals wirkcklich begriffen hatte, was das Wort Macht bedeutete, dann jetzt.
Und er kannte diese Festung.
Er war niemals hier gewesen, hatte niemals von ihr gehört und trotzdem war ihm jede Linie, jede zerborstene Zinne, jeder einzelne ihrer von der Zeit abgenagten Türme vertraut wie ein alter Freund.
Es war das Bild aus seinem Traum, jenem düsteren Traum in Schwarz, den er das erste Mal in Gwenderons Begleitung geträumt hatte, als sie den Wald durchquerten und nach Hochwalden zurückkehren wollten, und danach immer wieder und wieder, ohne dass er auch nur eine Winzigkeit von seinem Schrecken eingebüßt hatte. Er hatte es bisher nicht gewusst, aber jetzt, als er neben seinem Vater stand und zu den zyklopickschen Granit- und Lavatrümmern hinaufsah, erkannte er sie, als hätte es nur dieses Anblickes bedurft, das Bild zu vollenden. Aus der wirbelnden Schwärze und der Angst seines Traumes formte sich das Bild, das seine Augen sahen.
Jede Linie war ihm vertraut: das halb eingestürzte, zehnfach mannshohe Tor, die schräg nach innen geneigten Mauern, wie von den Hammerschlägen eines zornigen Gottes zermalmt und trotzdem noch immer gigantisch und stark, die so seltsam geformten Zinnen, steinerne Reißzähne, die wie geschliffener Stahl blinkten, die absurd hohen, einwärts gebogenen Türme, die wie eine Lavakralle in den Himmel griffen, die Trümmer, die gezackten schwarzen Blitze, längs derer der Boden geborcksten war – nichts, nichts von alledem war ihm fremd. Sein Herz jagte.
»Was … ist … das?«, fragte er. Seine Stimme kam ihm seihst fremd vor. Die Worte wollten ihm nicht über die Lippen. Er spie sie aus wie kleine, pelzige Tierchen. Irgendetwas in ihm war der absurden Überzeugung, dass an diesem Ort der Klang menschlicher Stimmen einer Götterlästerung gleichkam.
»Das Geheimnis des Schwarzeichenwaldes, mein Sohn«, sagte Oro noch einmal. Auch seine Stimme zitterte. Er sah Cavin nicht an. Sein Blick war starr auf den schwarzen Alptraum vor ihnen gerichtet. Als Cavin sich mühsam vom Anblick der riesigen Ruine losriss, sah er die Angst in den Augen seines Vaters. »Dein Erbe, Cavin. Dein wahres Erbe. Die Megidda.«
»Megidda …« Cavin wiederholte das Wort, einmal laut und dann noch mehrmals in Gedanken, nur für sich. Es verlor dabei nichts von seinem düsteren, unheilschwangeren Klang. Er wusste nicht, was dieses Wort bedeutete, aber er wusste mit unerschütterlicher Gewissheit, dass es mehr als ein bloßer Nackme war.
»Aber das ist … unmöglich«, flüsterte er.
Oro wandte ganz langsam den Kopf und sah ihn an. »Was?«, fragte er. »Dass du sie gesehen hast?«
Cavin starrte ihn an. Er empfand keinen Schrecken, nicht einmal mehr Überraschung, denn er hatte die Grenzen seines Staunens erreicht. Trotzdem musste seine Verwirrung deutlich auf seinem Gesicht zu lesen sein, denn Oro lächelte, berührte ihn sanft an der Schulter und deutete mit der anderen Hand auf die Festung. »Du kennst sie, Cavin. Du hast von ihr geträumt, oft sogar. Du hast nur nicht gewusst, was das ist, das dich um deinen Schlaf brachte.«
»Woher … weißt du das?«, murmelte Cavin stockend. Er hatte mit niemandem über seine Träume gesprochen, schon allein aus jenem absurden Stolz heraus, der ihm einredete, dass Alpträume etwas für Kinder und Schwächlinge waren.
Oro lächelte verzeihend. »Weil du mein Sohn bist, Cavin«, antwortete er. »Weil dies dein wahres Erbe ist, nicht Hochwalden, nicht der Wald oder die alberne Krone, die in meiner Schatzkammer verstaubt. Weil ich die gleichen Träume hatte, als ich so alt war wie du, und vor mir mein Vater, und vor diesem seiner. Weil es nur die wahren Herren des Schwarzeichenwaldes sind, die ihren Ruf vernehmen. Und nun komm.«
Er wollte sich umwenden und weitergehen, aber Cavin hielt ihn zurück; so grob, dass Oros Lippen kurz vor Schmerz zuckten. Cavin bemerkte es nicht einmal. »Mein … Erbe?«, stammelte er. »Das Blut der wahren Könige? Was bedeutet das alles, Vater?« Er wies erregt auf die gigantische Ruine. »Was ist das?!«
Oro machte seinen Arm mit sanfter Gewalt los. »Du wirst alles verstehen, Cavin«, sagte er. »Bald. Manches werde ich dir erklären, vieles wirst du selbst ergründen, so wie ich manche Rätsel löste, die meinem Vater verborgen blieben, und vieles wird auf ewig deinem Verständnis entzogen bleiben.« Mit einem Male klang seine Stimme beinahe beschwörend, obwohl er nicht lauter redete als vorher. »Dies hier ist dein wahres Erckbe, Cavin. Niemand weiß von der Existenz dieser Festung, niemand außer mir und nun dir, und niemand darf es erfahren. Gib Lassar, was er verlangt, Cavin. Opfere einen Teil des Waldes, opfere Hochwalden, wenn es sein muss, aber niemand darf diese Stätte betreten. Dies hier ist das Geheimnis, das die Köcknige von Hochwalden bewahren. Ganz gleich, was sie dir antun, ganz gleich, was sie dir bieten – du darfst es nicht verrackten.« Und damit ging er ein zweites Mal los, nicht sehr schnell, aber mit festen, sehr sicheren Schritten, die Cavin verrieten, wie oft er hier gewesen sein musste und wie genau er jeden Fußbreit dieses Bodens kannte.
Die wahre Größe der Festung kam ihm erst zu Bewusstsein, als sie sich ihrem Tor näherten. Der Weg schien kein Ende zu nehmen, und als sie endlich zwischen den zerborstenen schwarzen Eisenflügeln standen, die schräg aus schwarzen Schutthalden ragten, die allein halb so hoch wie die Mauern Hochwaldens sein mussten, kam er sich winzig und verloren vor. Die ungeheuerliche Größe dieser Wahnsinnsburg schien ihn zu erschlagen. Ihre schwarze Farbe machte ihm Angst und er spürte den Atem der Millennien, die an diesen Mauern vorckbeigezogen waren, ohne ihnen wirklich etwas anhaben zu können. Und er spürte die Gewalt, die diese Festung hatte. Sie vercksinnbildlichte und demonstrierte sie nicht – sie war Gewalt; eine Macht von der Art eines Gottesjenseits von Gut und Böse oder all den anderen lächerlichen Belangen der Menschen, aber gnadenlos. Er fror. Seine Hände zitterten. Alles in ihm sträubte sich dagegen, weiterzugehen. Er war fest davon überzeugt, dass die Welt über ihm zusammenbrechen würde, wenn er durch dieses entsetzliche schwarze Tor schritt, vor dem er sich vorkam wie eine Ameise vor dem Stiefel eines Giganten.
Sein Vater wartete geduldig, bis er wieder genug Kraft gesammelt hatte, seine Angst niederzuringen und ihm zu folgen, erst dann wandte er sich um und betrat das Innere der Festung. Es war so entsetzlich und finster wie ihr Äußeres; alles war zu groß und zu mächtig, als dass es wirklich von Menschen geschaffen sein konnte, und alles war schwarz und strahlte den gleichen erstickenden Schrecken aus. Und auch hier war nichts, was ihm fremd war, denn auch diesen Teil der Megidda hatten ihm seine Träume gezeigt, ohne dass er es erkannt hätte.
Dann sah er den Baum. Er wuchs aus einem mit schwarzem Stein ummauerten Hügel in der Mitte des mit Trümmern und Staub übersäten Hofes und angesichts der ungeheuerlichen Größe der Festung kam er ihm im ersten Moment gar nicht so groß vor.
Aber er war es.
Cavin sah seinen Vater an, aber Oro lächelte nur, deutete auf den Baum und machte eine auffordernde Bewegung, weiterzugehen. Nach kurzem Zögern gehorchte Cavin, wenn auch nur, um nach wenigen Schritten wieder stehen zu bleiben und den Baum anzublicken. Ein Gefühl eisiger Kälte kroch in seine Seele.