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Es war eine Schwarzeiche, einer der Bäume, die nur hier und sonst nirgends auf der Welt wuchsen und von denen der Wald seinen Namen hatte. Ihr Stamm war glatt wie Stahl und schwarz, wie aus der Nacht herausgemeißelt, und nicht einmal zwanzig Männer hätten ausgereicht, ihn an seiner Wurzel zu umfassen. Fünfzig, sechzig oder mehr Meter weit strebte er senkrecht in die Höhe, ehe sich der erste, fünfmal mannsdicke Ast abspaltete. Die Krone dieses Baumgiganten ragte höher in den Himmel als der höchste Turm Hochwaldens, ja schien selbst höher als die himmelzerreißenden Lavakrallen der Megidda zu sein. Dabei war er sicher, ihn von außen nicht gesehen zu haben.

Cavin schwindelte, als er den Kopf in den Nacken legte und versuchte den Himmel durch das dichte, schwarzgrüne Gewirr der Blätter zu erkennen. »Das … das ist … das ist unglaublich«, murmelte er. »Ich habe … ich habe niemals einen Baum wie diesen erblickt.«

»Niemand hat das, mein Sohn«, antwortete Oro leise. »Nieckmand außer den Herren von Hochwalden. Und kein Sterblicher, so heißt es, darf ihn jemals sehen, der nicht in direkter Linie von unserer Familie abstammt.«

Cavin hörte die Worte seines Vaters kaum. Der Anblick des Baumgiganten erschütterte ihn, stärker, als er jetzt schon ahnen mochte, stärker als der der Megidda selbst. Plötzlich glaubte er zu begreifen, warum die schwarze Festung so war, wie sie war.

Sie musste gigantisch sein, ein Ding, dicht an den Grenzen des Vorstellbaren, das den Anblick der Eiche verbarg und zugleich vorbereitete. Niemand, der den Anblick der Megidda nicht ertragen hätte, hätte es ertragen, vor ihm zu stehen. Es war nicht einfach ein großer Baum, sondern ein Titan, der Urckvater aller Bäume. Der Gott der Schwarzeichen. Cavin schwindelte, als er versuchte sich das Alter dieses Baumes vorzustellen.

»Wieso sieht man ihn nicht von Hochwalden aus?«, murmelte er. »Er müsste doch hundert Meilen weit sichtbar sein.«

Oro lächelte verzeihend, als hätte er eine sehr dumme Frage gestellt. »Vielleicht ist er das«, antwortete er. »Und doch hat ihn noch keines Menschen Auge erblickt. Nicht einmal Faroan wusste um ihn.« Er nickte, als er Cavins Erstaunen bemerkte, und fuhr fort: »Wir sind sehr weit von Hochwalden fort, Cavin. Der Weg, den ich dich geführt habe, war kein Weg, wie du ihn kennst. Dieser Ort gehört nicht mehr ganz zu unserer Welt, aber auch noch nicht ganz zu der anderen.«

Cavin verstand nicht, was sein Vater meinte, aber er hatte das sichere Gefühl, dass es besser war, jetzt zu schweigen.

»Ich habe dich hierher geführt«, fuhr Oro fort, »um dir dies zu zeigen. Das Geheimnis dieses Waldes. Ich erfuhr es von meinem Vater, als er seine Zeit kommen spürte, so wie er es von seinem Vater erfuhr, und du es eines Tages an deinen Erckben weitergeben wirst. So ist es Gesetz. So wurde es gehalten, seit die Welt besteht, und so wird es gehalten werden, solange sie besteht.«

»Ich … habe keinen Erben«, entfuhr es Cavin. Im nächsten Moment hätte er sich für diese Bemerkung ohrfeigen können. Aber wieder lächelte Oro nur.

»Du wirst ihn haben«, sagte er. »Später. Auch dies ist ein Teil des Geheimnisses, mein Sohn – solange dieser Wald becksteht, wird unsere Familie nicht sterben. Und umgekehrt. Dieckser Baum ist mehr als eine große Schwarzeiche, Cavin. Er ist das Herz des Waldes. Und irgendwann, wenn die Zeit gekommen ist, wird er es sein, der …«

Irgendwo hinter ihnen polterte ein Stein. Der Laut rollte wie ein Donner in der andächtigen Stille der Megidda und Oro brach mitten im Wort ab. Cavin sah, wie seine Augen sich weickteten.

Das Poltern wiederholte sich und dann hörte er Schritte.

Cavin fuhr mit einer blitzartigen Bewegung herum. Seine Hand zuckte zum Schwert und zog es.

Aber so schnell die Bewegung auch war – der andere war schneller. Cavin sah einen Schatten und die Andeutung einer Bewegung, dann traf irgendetwas mit grausamer Wucht sein Handgelenk, prellte ihm das Schwert aus der Hand und schmetterte ihn gleichzeitig zu Boden. Er fiel, schrie vor Schrecken und Schmerz und kam mit einer Rolle wieder auf die Füße.

Metall blitzte auf. Cavin spürte einen neuen, reißenden Schmerz, fühlte warmes Blut an seinem Hals herablaufen und starrte eine halbe Sekunde lang entsetzt auf die Schwertspitze, die seine Haut geritzt hatte. Dann hob er den Blick.

Seine Augen weiteten sich vor Unglauben, als er in das Gesicht des Mannes sah, der ihm das Schwert an die Kehle hielt.

»Gwenderon!«, keuchte er.

9

Mannon, der Zwerg, war der Erste, der das Schweigen brach, nachdem Gwenderon mit seinem Bericht zu Ende gekommen war. Fünf Minuten hatte sich Stille wie eine erstickende Decke über der kleinen Hütte ausgebreitet. Es war eine sonderbar beckdrückende Stille, die von kommendem Unglück und Leid zu künden schien. Selbst das Prasseln des Feuers, das die Hütte erhellte, schien innegehalten zu haben. Die Stimme des Zwerges klang fast wie ein Sakrileg in Gwenderons Ohren.

»Das sind mehr Fragen als Antworten, die du gebracht hast, Gwenderon.«

Der Waffenmeister nickte. Er fühlte sich leer, nachdem er von seinen Erlebnissen in Faroans Grab berichtet hatte. Es war, als hätten ihn die Worte ausgelaugt. Und der Gedanke, mit einem Toten gesprochen zu haben, erfüllte ihn noch immer mit einem tiefen, lähmenden Entsetzen. Einem Schrecken, der gröckßer zu werden schien statt abzunehmen. Es war, als begriffe er erst jetzt ganz langsam, was wirklich geschehen war.

»Nicht gut, mit Toten reden«, pfiff Guarr mit seiner schrillen Raett-Stimme. »Böse Zeit, wenn die Toten sprechen.«

»Aber vielleicht ist es noch weniger gut, ihre Warnungen zu missachten«, fügte Resnec hinzu. Guarr grinste ein spitzzahniges Rattengrinsen, während Gwenderon mühsam den Kopf wandte und Resnec böse ansah. Er hatte nicht ein einziges Mal widersprochen, als sich Resnec ihrer rasch einberufenen Beracktung unaufgefordert angeschlossen hatte. Aber er ließ ihn fühlen, dass er ein Fremder war und dass er ihn hasste wie am ersten Tage.

»Was meinst du damit, Resnec?«, fragte er.

»Ich wäre froh, wenn ich es selbst wüsste«, gestand Resnec mit einem raschen, halbherzigen Lächeln. »Ihr kennt Faroan besser als ich. Ich muss gestehen, dass es mir schwer fällt, wirklich zu glauben, dass Ihr mit einem Toten gesprochen habt. Aber das heißt nicht, dass wir seine Worte in den Wind schlagen dürfen. Er hat Recht – nicht einmal Lassar würde es wagen, seine Truppen in aller Offenheit hierher zu schicken. Cavin könnte es.«

»Unsinn«, schnappte Mannon. »Er könnte es, aber er wird es nicht tun.«

»Bist du da so sicher?«

»Natürlich bin ich sicher!«, knurrte der Zwerg. »Nenne mir nur einen Grund, aus dem Cavin sich mit Lassar verbünden sollte! Nur einen einzigen!«

»Mir fallen eine Menge ein«, erwiderte Resnec ruhig. »Aber einer reicht wohl schon – Faroans eigene Worte, Mannon. Hast du sie vergessen? Cavin ist in Lassars Netz gefangen – das sagte er doch, oder?«

Gwenderon nickte. »So ungefähr.« Sein Ärger wuchs. Es passte ihm nicht, wie Resnec das Gespräch an sich riss. Für ihn war Lassars früherer Statthalter ein unwillig geduldeter Gast, der den Mund zu halten und zuzuhören hatte. Und dass Resnec mit jedem Wort, das er sprach, Recht hatte, ärgerte ihn beinahe noch mehr.

»Eben«, fuhr Resnec in beinahe triumphierendem Tonfall fort. »Vergiss nicht, dass Cavin seit mehr als vier Wochen unter Lassars Einfluss steht. Für Lassar mehr als genug Zeit, sich in Cavins Geist zu schleichen. Der Mann, der jetzt in Hochwalden auf dem Thron sitzt, hat vermutlich so wenig mit Prinz Cavin gemein wie ich oder eine von Lassars Raett-Kreaturen!«

Guarr stieß einen protestierenden Pfiff aus und Resnec lächelte entschuldigend. »Verzeih, Guarr«, sagte er hastig und mit einem fast erschrockenen Seitenblick auf Gwenderon. »Ich wollte dich nicht beleidigen. Aber Tatsache ist, dass es Lassar wie kein Zweiter versteht, mit Lüge und Betrug und Täuschung zu arbeiten.«