»Und wenn doch, dann wirst du mich genauso umbringen wie meinen Vater, wie?«, fragte Cavin böse.
Gwenderon senkte den Blick. »Wenn es sein muss, ja«, sagte er. »Ich habe geschworen diesen Wald mit meinem Leben zu verteidigen.«
»So wie du meinem Vater die Treue geschworen hast, nicht wahr?« Cavin trat einen Schritt auf den Waffenmeister zu und blieb wieder stehen, als eine der Raett-Kreaturen ein warnendes Zischen ausstieß. »So wie du auch mir die Treue geschworen hattest, als du mich nach Hochwalden begleitetest? Du hast mich schon damals verraten und jetzt versuchst du, mich mit Worten wie Treue und Schwüren zu überzeugen? Du bist nicht nur ein Verräter, Gwenderon – du bist auch dumm.«
Gwenderon sah mit einem Ruck auf. Er wirkte erschrocken. »Ihr … wisst?«
»Natürlich«, antwortete Cavin. »Mein Vater hat mir alles erckzählt. Ich habe ihm nicht geglaubt, Gwenderon. Ich habe an deine Treue geglaubt und die Worte meines eigenen Vaters angezweifelt. Ich habe gehofft, dass sich alles als Irrtum und Missverständnis herausstellen würde. Aber du hast mir bewiecksen, wie Recht mein Vater hatte. Du bist schlimmer, als er glaubte.«
Er ballte erneut die Fäuste, bewegte sich abermals auf Gwenderon zu und ein Stück nach rechts und blieb wieder stehen. Plötzlich begann er zu schreien: »Er wusste, dass er sterben würde, Gwenderon! Er wusste, dass er den heutigen Tag nicht überleben würde! Nur wenige Stunden noch, und nicht einmal die hast du ihm gelassen! Du hast nicht einmal den Anstand besessen, einem sterbenden, alten Mann seine letzten Stunden zu lassen, du verdammter Mörder. Und jetzt stirb, du Schwein!«
Gwenderons Reaktion kam zu spät. Cavin sprang ihn mit weit ausgebreiteten Armen an und riss ihn allein mit der ungestümen Wucht seines Anpralles zu Boden. Seine Hände fanden den Griff des Schwertes in Gwenderons Gürtel und zerrten es heraus. Mit einem Schrei sprang er auf die Füße, schleuderte Gwenderon zurück und hieb wie von Sinnen um sich. Sein Schwert trieb die Raetts zurück, dann wirbelte er herum, riss die Waffe mit einem gellenden Schrei über den Kopf und schlug zu. Der Stahl zuckte wie eine bizarre stählerne Schlange nach Gwenderons Gesicht.
Der Waffenmeister warf sich im letzten Moment zur Seite, und der Hieb, der ihn hätte enthaupten sollen, riss nur eine fingerlange Wunde in seine rechte Wange.
Als Cavin zu einem zweiten Hieb ausholen wollte, waren die Raetts schneller. Starke Hände griffen nach ihm, entrangen ihm die Waffe und bogen ihm die Arme auf den Rücken. Ein Schlag trieb ihm die Luft aus den Lungen, dann zuckte die Krallenhand eines Raetts nach seinem Gesicht, zerriss seine Wange und hinterließ drei dünne, parallel verlaufende Schnitte in seiner Haut.
»Hört auf!«
Gwenderons Befehl trieb die Raetts wie ein Peitschenhieb auseinander. Cavin fiel auf die Knie, als ihm einer der Raetts doch noch einen Schlag zwischen die Schulterblätter versetzte. Für einen Moment sah er nichts als Schwärze und blutig roten Nebel.
Als sich sein Blick wieder klärte, waren die Raetts einen Schritt zurückgewichen und bildeten einen weiten, aber dicht geschlossenen Kreis um ihn und Gwenderon. Ein Dutzend Speerspitzen reckte sich drohend nach ihm.
Gwenderon war wieder aufgestanden. Sein Gesicht zuckte vor Schmerz. Zwischen den Fingern, die er auf die rechte Wange presste, quoll dunkelrotes Blut hervor. Er hatte sein Schwert aufgehoben, und für einen Moment war Cavin fast sicher, dass er ihn nun damit töten würde, so, wie er seinen Vater ermordet hatte.
Dann entspannte sich die Haltung des Waffenmeisters. Er schloss die Augen und nahm die Hand von der Wange. Sein Gesicht war voller Blut. Die Wunde, die Cavin ihm zugefügt hatte, war sehr tief.
»Bring mich schon um!«, stöhnte Cavin. »Los, tu es. Bring zu Ende, was du begonnen hast – wenn du nicht zu feige dazu bist.«
Aber Gwenderon schüttelte nur den Kopf. »Nein, mein Köcknig«, sagte er. »Ich bin Euer Gegner, aber nicht Euer Feind. Ich werde Euch nicht töten, weder jetzt noch später – es sei denn, Ihr zwingt mich dazu.«
Cavin starrte ihn an. Seine Augen füllten sich mit Tränen, aber es waren Tränen der Wut, nicht des Schmerzes. »Dann nimm dich in Acht, Gwenderon«, flüsterte er. »Von diesem Tage an werde ich dich jagen. Ich werde dich verfolgen bis ans Ende der Welt und darüber hinaus, wenn es sein muss. Ab heuckte wirst du ein Gejagter sein. Du wirst nirgends mehr Sicherckheit finden, nie wieder Frieden. Ich werde dich töten. Ich werde dich suchen und finden und töten, und wenn du dich in den Abgründen der Hölle vor mir verstecken solltest. Ich schwöre es.«
Gwenderon blickte ihn nur wortlos an; dann schob er sein Schwert in den Gürtel und richtete sich mit sichtlicher Anstrengung auf. Er gab seinen Raett-Kriegern einen Wink und wandte sich um.
Cavin starrte ihnen nach, bis die Schatten der schwarzen Feckstung das Dutzend Gestalten wieder verschlungen hatten. Dann kroch er auf Händen und Füßen zu Oro hinüber.
Länger als eine Stunde saß der neue König des Schwarzeichenwaldes da und beweinte seinen toten Vater. Aber die ganze Zeit über hielt seine Hand das Schwert umklammert. Wie von fremder Hand geführt fand er den Weg zurück zu den Männern der Garde, und er wusste hinterher nicht mehr zu sagen, wie sie zurück nach Hochwalden kamen. Aber als er endcklich im Ratssaal der mächtigen Burg stand und den Thron becktrachtete, der ihm nun von Rechts wegen gehörte, war in seicknem Herzen nur noch Hass.
Später, lange nach Mitternacht, erwachte er endlich aus seickner Starre und rief einen der Diener zu sich.
»Schickt nach Lassar«, sagte er. »Ich habe mit ihm zu reckden.«
11
Der Wald lag verlassen da. Vor Augenblicken war ein Posten vorbeigekommen, ein dunkel gekleideter, schwerer Mann, dessen Schritte noch in der stillen Nachtluft nachzuhallen schiecknen, obwohl er längst weitergewandert war auf seinem ruhelocksen Weg, den er in dieser Nacht noch ein Dutzend Mal oder mehr zurücklegen würde. Obgleich er vorsichtig ging, hatten seine Schritte die kleinen Bewohner des nächtlichen Waldes vertrieben: die Insekten und Nagetiere, die Käfer und Spinnen, die Jäger und Gejagten, die ihre Rollen oft in Sekundenschnelle tauschten.
Aber anders als sonst kehrte das Leben nicht wieder, nachdem die Schritte des Mannes verklungen waren. Die empfindcklichen Farngewächse, deren Blätter sich bei der geringsten Erckschütterung zusammenrollten und so schon die Spur manches sehr vorsichtigen Eindringlings verraten hatten (aus keinem anderen Grund waren sie angepflanzt worden und bildeten einen beinahe unsichtbaren, aber sehr wirkungsvollen Schutz um das Lager), blieben eingerollt und bildeten ein flaches Lockenmuster auf dem Boden, das Huschen und Trippeln und Zirckpen der Insekten klang nicht wieder auf, denn sie alle spürten das Nahen des Fremden, die Gefahr, die den groben Sinnen des Menschen noch verborgen blieb.
Zuerst war es nur Kälte; nicht mehr als ein flüchtiger Hauch, der sanft durch die Äste strich, ohne das geringste Geräusch zu erzeugen. Dann veränderten sich die Schatten. Sie wurden tiefer, nahmen eine Schwärze an, die sie selbst in der Nacht noch dunkel erscheinen ließ, ballten sich zu etwas, das vage an die Umrisse eines menschlichen Körpers erinnerte, aber viel massiger und größer war. Wo Lassars Auge und Ohr den Boden berührten, rollten sich die empfindlichen Farnwedel weiter ein, überzogen sich mit hellen, fleckigen Krusten von Raureif und verdorrten. Ein besonders dummes Insekt, dem sein Fressen wichtiger gewesen war als die Warnung, die ihm seine uralten Instinkte zuschrien, fiel mit zuckenden Beinen auf die Seite und starb.
Und noch etwas war anders als sonst. Lassars Schatten blieb kein flüchtiger Schemen. Nur für Augenblicke stand er lautlos da, ein bloßer Hauch, den menschlichen Sinnen so unsichtbar, dass Jeder, der des Weges gekommen wäre, vielleicht einen unerklärlichen Schauer von Furcht verspürt hätte, sonst aber nicht gezögert hätte, geradewegs durch ihn hindurchzuschreickten. Dann vertieften sich die Schatten weiter. Der bizarre Umriss schrumpfte, bis er die Größe eines normal gewachsenen Mannes erreicht hatte, verdichtete sich weiter und nahm mehr und mehr Farbe und feste Form an. Es ging ganz schnell.