Gwenderon antwortete noch immer nicht, sondern starrte Resnec nur an. Und nach einer Weile drehte er sich herum und ging mit langsamen Schritten zu seiner Hütte zurück. Die Wunde auf seiner Wange blutete noch immer. Sie tat sehr weh.
13
Über den Zinnen von Hochwalden war die Sonne aufgegangen. Die Nacht war dem ersten Grau der Dämmerung und wenig später strahlendem Sonnenschein gewichen, und als wolle sich die Natur für das anhaltende schlechte Wetter der letzten Wochen entschuldigen, war es bereits jetzt warm. Cavin hatte nicht einmal gemerkt, dass die Nacht wich. Spät am Abend des vergangenen Tages war er zurückgekommen und hier hinaufgegangen und seither hatte er den Raum nicht verlassen, er hatte nicht einmal gespürt, wie die Zeit verstrich; und wenn, wäre es ihm gleich gewesen. Der Ratssaal war noch immer vom flackernden Licht der Kerzen erhellt und beiderseits der Tür schwelten noch immer die Fackeln, die die Diener nach seiner Rückkehr entzündet hatten, obwohl das Licht des neuen Tages ihren Glanz längst überstrahlte.
Cavin fühlte sich noch immer wie betäubt. Die unheimliche, lähmende Kälte, die Besitz von seiner Seele ergriffen hatte, war nicht gewichen, aber auch der furchtbare Schmerz, auf den er wartete, kam nicht. Sein Blick saugte sich an dem Schattengesicht seines Gegenübers fest, ohne dass er es wirklich sah. Er sah Gwenderon. Immer wieder Gwenderon. Zum ersten Mal in seinem Leben begann er zu spüren, was das Wort Hass bedeuckten mochte.
»Nun?«, fragte er leise. »Ihr hattet Zeit genug, Euch mein Angebot zu überlegen, Lassar. Nehmt Ihr es an?«
Seine Stimme klang seltsam fremd in der lastenden Stille, die sich über den Saal gebreitet hatte. Es war eine Stille ganz sonderbarer, körperlicher Art, als wäre sie nicht nur die Abwesenheit von Geräuschen, sondern das Dasein von etwas anderem, Finsterem. Und vielleicht war es auch so. Vielleicht – nein, nicht vielleicht: Cavin war jetzt sicher, dass mit Lassar noch etwas anderes, Finsteres nach Hochwalden gekommen war. Aber es war ihm jetzt gleich. Alles war ihm gleich. Er hätte sich mit dem Teufel persönlich verbündet, um Gwenderon zu bekommen. Vielleicht hatte er es.
Lassar war ein flackernder, schwarzer Schatten, der wie ein Stück Wirklichkeit gewordener Traum vor dem Fenster stand und das Sonnenlicht verschluckte: die gleiche, unheimliche Erscheinung, in der Cavin ihn kennen und fürchten gelernt hatte. Und trotzdem hatte er sich verändert, schien auf unbestimmckte Weise gegenwärtiger und körperlicher geworden, als wäre jetzt etwas mehr von seiner furchtbaren Gestalt nach Hochwalden gelangt. Nicht sehr viel, aber doch eine Winzigkeit mehr als nur ein bloßer Schatten.
Und es war etwas seltsam Vertrautes an ihm.
Cavin verscheuchte den Gedanken und richtete sich ein wecknig auf. Er war müde; sein Rücken schmerzte vom langen, regcklosen Sitzen auf dem unbequemen Thron und auch seine Hand tat weh. Gwenderons Schwerthieb hatte ihm das Gelenk verckstaucht.
»Was Ihr verlangt, ist viel, mein Prin… mein König«, verckbesserte sich Lassar. »Das wisst Ihr.«
»Ich verlange nichts«, antwortete Cavin kalt. »Ich schlage Euch einen Handel vor. Ein Geschäft, bei dem Ihr mehr bekommt als gebt, und das wisst Ihr.«
»Euer Vater gab mir sein Wort«, erinnerte Lassar, aber Cavin unterbrach ihn mit einem ärgerlichen Kopfschütteln.
»Das weiß ich«, schnappte er. »Und ich stehe zu seinem Wort, Lassar. Aber die Verträge, die Ihr mit König Oro geschlossen habt, gelten nur für kurze Zeit. Irgendwann werdet Ihr zu mir kommen und sie verlängern wollen. Vielleicht ist Euch dann daran gelegen, einen Partner zu haben, der Euch etwas schuldig ist.«
Lassar starrte ihn einen Herzschlag lang aus seinen grundlocksen, schwarzen Augen an. Dann lächelte er. »Ihr lernt schnell, König Cavin«, sagte er anerkennend.
»Ich hatte gute Lehrmeister«, erwiderte Cavin kalt. »Also?«
Lassar zögerte noch immer. »Die Entscheidung, die Ihr vercklangt, Cavin, ist nicht so leicht«, sagte er ausweichend. »Ihr wisst besser als ich, dass Euer Reich nicht mit irgendeinem anderen Königreich zu vergleichen ist. Der Schwarzeichenwald ist heilig. Was würden die Könige Eurer Nachbarländer sagen, wenn ein Heer meiner Krieger seinen Boden betreten würde?«
»Habt Ihr Angst?«, fragte Cavin böse.
Lassar zog eine Grimasse. »Es geht nicht um mich«, sagte er ärgerlich. »Stünde sonst nichts auf dem Spiel, würde ich diese Rebellen in einer Woche vom Antlitz der Erde fegen und Euch Gwenderons Kopf zu Füßen legen, sogar ohne irgendeine Gegenleistung. Ihr seid es, der Schaden davontragen könnte, würde ich zu offen …«
»Was kümmert Euch mein Schicksal?«, schnappte Cavin. Wütend fuhr er auf und schlug so heftig mit der Faust auf die Sessellehne, dass das Holz knackte. »Ich will Gwenderon!«, schrie er. »Ich will, dass der feige Mord an meinem Vater gerächt wird, und es ist mir egal, was die Welt dazu sagt!«
»Sie wird nichts dazu sagen«, antwortete Lassar ruhig. »Nicht, solange es Eure Krieger sind, die die Rebellen fangen und töten.«
»Ich habe nicht genug Männer«, antwortete Cavin, noch immer erregt, aber doch schon merklich ruhiger. »Hochwalden hat niemals mehr als eine Hand voll Krieger gehabt. Es wäre sinnlos, Gwenderon mit ein paar Dutzend Reitern suchen zu wollen. Und wahrscheinlich wäre er uns sogar überlegen. Habt Ihr vergessen, dass er sich mit Raetts verbündet hat?«
»Trotzdem«, beharrte Lassar. »Es ist gefährlich. Vergesst nicht, was Eurem Vater geschehen ist. Gwenderon ist ein Verräter und wahrscheinlich ist er sogar verrückt. Aber er ist auch ein Fanatiker. Würde mein Heer in den Wald eindringen, würde er überall die Nachricht verbreiten, dass ich am heiligen Wald frevele.« Er sah Cavin durchdringend an. »Es könnte sein, dass ich ihm helfe statt ihn zu vernichten, mein König. Ich möchte nicht eines Tages nach Hochwalden kommen und ihn auf dem Thron finden, der Euch zusteht.«
Cavin starrte ihn aus brennenden Augen an. »Also versagt Ihr mir Eure Hilfe?«
»Natürlich nicht«, antwortete Lassar. »Aber wir sollten warten.«
»Warten?«, fauchte Cavin. »Worauf, Lassar? Bis er hierher kommt und sich Hochwalden nimmt?«
»Bis Euer Schmerz ein wenig abgeklungen ist, König Cavin«, erwiderte Lassar ruhig. Cavin wollte auffahren, aber die Schattengestalt trat einen halben Schritt auf ihn zu und hob begütigend die Hand. »Verzeiht, wenn es so klingt, als wolle ich Euch belehren, Cavin«, sagte er sanft. »Aber Ihr seid jung und Ihr hattet niemals Gelegenheit, Euch an diese Seite des Lebens zu gewöhnen. Glaubt mir, wenn ich Euch sage, dass es niemals gut ist, auf die Stimme der Rache zu hören. Eure Geckdanken sind erfüllt von Gram über den Tod Eures Vaters und Zorn über den Frevel, den Gwenderon begangen hat. Gebt Euch selbst und mir ein wenig Zeit, die nötigen Schritte zu bedenken. Mir ist so sehr an Gwenderons Tod gelegen wie Euch, denn er ist für den Mord an einem meiner besten Männer verantwortlich. Aber wir müssen klug vorgehen. Kraft allein reicht nicht aus, um Gwenderon zu schlagen. Der Preis dafür könnte zu hoch sein. Wenn wir Gwenderon schlagen wollen, dann mit seinen eigenen Waffen. Lasst die Kunde von Gwenderons Verrat im ganzen Land verbreiten. Bittet Eure Freunde und Nachbarn um Hilfe und stellt ein Söldnerheer auf. Oro war ein beliebter Mann. Die Menschen werden in Scharen zu den Waffen eilen, wenn sie erfahren, auf welche Weise er starb.«
»Ein Söldnerheer?« Cavin überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »So etwas würde Jahre dauern, Lassar. Und es kostet Geld. Mehr Geld, als ich habe. Hochwalden ist nicht reich.«
Lassar machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wenn es nur Gold ist, um das Ihr mich bittet, dann gebe ich es Euch. Verrechnet es meinetwegen als Vorschuss auf die Verträge, die ich mit Eurem Vater schloss. Und was die Zeit angeht – mit meiner Hilfe wird das Heer in drei Monaten bereit sein.«
Er lächelte, sehr dünn und sehr hässlich. »Es ist manchmal von Vorteil, zur gleichen Zeit an mehreren Orten sein zu können.« Wieder lächelte er und für einen Moment war Cavin fast sicher, einen Ausdruck von Triumph in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Aber seine Stimme klang unverändert, als er weicktersprach: »Ich verstehe und teile Euren Schmerz, König Cavin, denn Euer Vater war ein Mann, dem auch ich Achtung gezollt habe, und auch ich will, dass der feige Mörder seine gerechte Strafe bekommt.«