Corben gehorchte. Auch Mannon wandte sich um, ging aber nur die wenigen Schritte bis zum Waldrand hinüber und blieb abermals stehen. Sein Blick tastete über das wuchernde Gründes Unterholzes und für einen Moment wünschte er sich nichts sehnlicher als den Busch durchdringen und mit eigenen Augen sehen zu können, was sich vor den Toren Hochwaldens abspielte. Gleichzeitig hatte er Angst davor, denn er wusste nur zu gut, dass Corben die Wahrheit gesagt hatte. Seine Hiobsbotckschaft passte zu gut in das Bild, das sich in den letzten Wochen herauskristallisiert hatte, um ein bloßer Zufall zu sein. Und es war letztlich der Grund für ihr Hiersein.
Die letzten Wochen waren still gewesen, beinahe zu ruhig für Mannons Geschmack. Nach dem missglückten Mordanschlag auf Resnec und Gwenderon hatte jener den Wald in weitem Umkreis um das Lager herum durchkämmen lassen, und sie hatten ein weiteres halbes Dutzend gekaufter Mörder gestellt und getötet. Und dann war Ruhe gewesen. Der Angriff, mit dem sie gerechnet hatten, kam nicht, und selbst die gelegentlichen Überfälle auf ihre Nachschubwege hatten nachgelassen, wenn auch nicht gänzlich aufgehört.
Es war, als hielte der Krieg, den Lassar gegen sie und sie gegen Lassar führten, den Atem an. In den letzten zwei Wochen war das Leben im Lager der Rebellen so friedlich gewesen, als wäre alles, was zuvor geschehen war, nichts als ein böser Traum gewesen.
Aber dafür begannen Nachrichten das ewige Schweigen des Schwarzeichenwaldes zu durchdringen. Es waren ebenso beunruhigende wie verwirrende Nachrichten. Irgendetwas begann sich zu ändern, langsam und zuerst fast unmerklich, aber unckaufhaltsam.
Es waren seltsame Dinge, grundlos und auf den ersten Blick ohne direkten Zusammenhang, die im Grunde nur eines verckband: Sie waren beunruhigend. Menschen, die sie bisher unterckstützt hatten, halfen ihnen nicht mehr. Städte, in denen die Reckbellen sonst ein Versteck und ein Nachtlager gefunden hatten, schlossen plötzlich ihre Tore. Könige, deren Waffenkammern den Rebellen offen gestanden hatten, verweigerten ihnen den Nachschub. Verträge, die gerade erst besiegelt worden waren, wurden nicht gehalten. Es war ein langsamer, beinahe unmerkcklicher Vorgang, aber es war nicht mehr zu leugnen: Die Stimmung in der Welt außerhalb des Schwarzeichenwaldes begann umzuschlagen.
Und jetzt dieses Söldnerheer, eine fremde Armee, die sich in kleinen Gruppen, wie es schien, aber in beständigem Zustrom um Hochwalden sammelte.
Es ergab einfach keinen Sinn!
Minutenlang starrte Mannon blicklos in den Wald. Dann fuhr er mit einem Ruck herum, ging quer über die Lichtung und rief einen seiner Begleiter zu sich. »Sattelt mein Pferd«, befahl er. »Rasch. Und wähle drei Männer aus, die mich begleiten. Die anderen sollen das Lager abbrechen und sich bereithalten. Es kann sein, dass wir sehr schnell aufbrechen müssen.«
Der Mann erschrak, entfernte sich aber gehorsam und kam nach weniger als einer Minute zurück, Mannons struppiges Zwergenpony am Zügel mit sich führend. In seiner Begleitung befanden sich zwei junge Männer und ein graufelliger Raett, der bis auf einen handbreiten, silbernen Schwertgurt unbekleickdet war. Doch schleppte er eine gewaltige Axt und einen noch gewaltigeren Schild mit sich.
Mannon unterdrückte ein Grinsen. Wie alle im Lager hatte er rasch gelernt die Raetts zu mögen, nachdem er erst einmal seicknen natürlichen Widerwillen gegen die intelligenten Riesennager überwunden hatte. Aber an ihre Art, menschliches Verhalten nachahmen zu wollen und dabei allzu leicht die Grenzen des Lächerlichen zu überschreiten, würde er sich wohl nie gewöhnen.
Manchmal hatte er das Gefühl, dass für die Raetts dieser ganze Krieg nichts als ein einziger gewaltiger Spaß war.
Mit einem dankbaren Nicken ergriff er die Zügel, schwang sich auf den Rücken des Ponys und wartete ungeduldig, bis auch die drei anderen ihre Pferde geholt hatten und aufgesessen waren. Ohne ein weiteres Wort ritten sie los und verließen das Lager.
Mannon fühlte sich umso unbehaglicher, je weiter sie sich dem Waldrand und Hochwalden näherten. Sie bewegten sich leise vorwärts, nahezu lautlos, in der Art von Männern, die gelernt hatten, dass sie nur auf diese Weise überleben konnten. Der Wald war so still wie ein gewaltiges grünes Grab. Nicht einmal der Wind raschelte in den Blättern.
Und trotzdem hatte Mannon das Gefühl, von tausend unsichtbaren Augen beobachtet zu werden.
Mannon rief sich in Gedanken zur Ordnung, straffte sich im Sattel und ritt ein wenig schneller weiter. Seine beiden menschlichen Begleiter schlossen auf, während der Raett ein Stück zurückfiel und ihnen den Rücken deckte.
Etwa zwanzig Minuten bewegten sie sich auf dem schmalen Waldweg entlang. Dann zügelte Mannon sein Pferd und gab auch den beiden anderen das Zeichen anzuhalten. Vor ihnen hellte sich das Grün des Waldes auf, und ab und zu zerriss ein verirrter Sonnenstrahl die Dämmerung mit einem Lichtblitz. Der Geruch von Wasser lag in der Luft.
Sie saßen ab. Der Raett-Krieger blieb bei den Pferden zurück, während sie den Weg verließen und quer durch das dornige Unterholz weiter auf den Waldrand zugingen. Dann lag Hochwalden vor ihnen.
Ein sonderbar klammes Gefühl ergriff von Mannons Herz Besitz, als er den gewaltigen, finsteren Quader der Burg sah. Die Sonne stand im Zenit und ließ den sichelförmigen See, der die Festung an drei Seiten umschloss, wie eine gewaltige Mecktallplatte aufblitzen.
Mannon spürte ein dumpfes Gefühl von Zorn in sich aufsteigen, begleitet von Trauer und Hilflosigkeit. Er war niemals dort drüben gewesen und diese Burg war nicht seine Burg, sondern ganz im Gegenteil ein Ort, den er instinktiv ablehnte und wohl auch ein wenig fürchtete: eine Stadt der Menschen, zu groß, zu laut und mit zu viel Himmel darüber. Aber er war ein Zwerg und für das Zwergenvolk war nicht nur der Schwarzeichenwald heilig, sondern auch Hochwalden. Allein der Gedanke, dass es in Wahrheit längst Lassar, der Herr der Schatten, war, der jetzt über die schwarze Perle des Schwarzeichenwaldes herrschte, entfachte in ihm einen wilden Grimm.
Einer seiner Begleiter berührte ihn an der Schulter und deuteckte stumm nach Westen. Mannon schrak aus seinen Gedanken hoch und blickte in die angegebene Richtung.
Zwischen den Bäumen am Waldrand war ein einzelner, in flirrendes Silber und Gold gekleideter Reiter erschienen. Er ritt das weiße Schlachtross der Könige und über seinem Helm wehte das Drachenbanner Hochwaldens.
Mannon unterdrückte im letzten Augenblick einen überraschten Ausruf, als er den Reiter erkannte.
»Cavin!«, flüsterte er. »Das ist … bei allen Göttern – das ist Prinz Cavin!«
»Der König von Hochwalden?« Der Mann neben ihm starrte erst ihn, dann Cavin ungläubig an. Wie viele, die sich ihrer Rebellion angeschlossen hatten, hatte er Cavin niemals geseckhen. Der Prinz kam langsam näher, aber er bewegte sich irgendwie ziellos, hielt immer wieder an und blickte in den Wald oder über den See hinaus. »Das ist König Cavin?«
»Still!«, befahl Mannon scharf. Seine Gedanken überschlugen sich. Der einsame Reiter war näher gekommen und hatte schließlich angehalten, kaum zwanzig Schritte von ihrem Vercksteck entfernt. Sein Pferd hatte den Kopf gesenkt und stillte seinen Durst am eisigen Wasser des Sees, während Cavin aus weit geöffneten, aber blicklosen Augen in den Wald starrte. Er wirkte wie ein Mann, dessen Gedanken in Wirklichkeit weit, weit fort waren.
»Das ist die Gelegenheit, Herr!«, flüsterte einer der Männer. »Er ist allein. Wir könnten ihn überwältigen und gefangen nehmen.«
Mannon schwieg. Der Mann sprach nur aus, was er im gleichen Moment gedacht hatte, in dem er den einzelnen Reiter erkannte: Cavin war in Waffen und Harnisch, und Mannon wusste, wie gut der Prinz trotz seiner Jugend mit dem Schwert umzugehen verstand. Aber sie waren zu dritt und hatten den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite. Mit etwas Glück könnten sie ihn überwältigen und verschwinden, ehe drüben in Hochwalden auch nur Alarm gegeben wurde. Und wenn Cavin erst einmal in ihrer Gewalt und somit dem unmittelbaren Einfluss Lassars entzogen war …